Seewölfe Paket 18

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Lieber Gott, dachte sie, jetzt haben sie mich doch entdeckt. Jetzt ist alles aus.
„Ich nehme die Hand von deinem Mund, wenn du mir versprichst, nicht zu schreien“, raunte ihr der Mann zu. „Wirst du still sein?“
Ilaria nickte. Seltsam, sie kannte die Stimme nicht und wußte nicht, welcher Pirat das war, der sie überrumpelt hatte. Er zog die Hand zurück, und sie konnte ihren Kopf wenden und ihm ins Gesicht blicken.
Sie war grenzenlos überrascht. Ein halbnackter Mann kauerte neben ihr im Dickicht – und was für ein Mann! Groß, breitschultrig, stark, schwarzhaarig, gutaussehend mit harten, markanten Zügen: von solch einem Kerl träumten selbst hartgesottene Kurtisanen. Unwillkürlich schloß Ilaria die Augen, dann öffnete sie sie wieder und gab einen leisen Seufzer von sich.
„Du hattest mir versprochen, keinen Laut von dir zu geben“, sagte er.
„Allmächtiger! Wer bist du?“
„Philip Hasard Killigrew. Aber verrate mich nicht.“
Fast wurde ihr schwindlig. „Du – bist das? Aber Mardengo hat dich doch – gefangengenommen.“
„Ganz ruhig bleiben“, zischte Hasard, dann lächelte er. „Wir haben uns eines kleinen Tricks bedient. Weißt du, warum ich dir das erzähle? Ich habe das Gefühl, ich kann dir trauen.“
„Ja, ja!“ versicherte sie eifrig. „Ich heiße Ilaria.“
„Gut, Ilaria. Bist du auch eine Gefangene?“
„Sozusagen. Aber wer ist der Mann, der sich als der Seewolf ausgegeben hat?“
„Ferris Tucker“, entgegnete Hasard gedämpft. „Mein Schiffszimmermann. Und der, der sich Ferris nennt, ist Dan O’Flynn.“
Sie schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, da steige ich nicht durch. Aber das spielt auch keine Rolle. Du willst deine Freunde befreien. Ich helfe dir dabei, aber unter einer Bedingung.“
„Daß ich dich mitnehme?“
„Mich – und meine fünf Freundinnen“, flüsterte sie.
„Heiliger Strohsack.“ Hasard hatte erst jetzt Gelegenheit, sie ausgiebig zu betrachten. Hübsch war sie, dunkelhaarig, rundum gesund und von Mutter, Natur großzügig mit Rundungen bedacht, eine echte Spanierin, aus Andalusien ihrem Akzent nach, eine Lady mit Feuer im Blut. „Das wird ja immer lustiger“, murmelte er. „Und die beiden Schwarzen nehmen wir natürlich auch mit, wenn uns die Flucht gelingt, oder?“
„Ja.“
„Warum hält man euch hier fest? Seid ihr Geiseln?“
Unwillkürlich schlug sie die Augenlider nieder. „Nein.“ Zum erstenmal in ihrem Leben schämte sie sich ihres Metiers. Es war seltsam, aber dieser schwarzhaarige, atemberaubend verwegene Mann krempelte ihr gesamtes Gefühlsleben um. Sie war verwirrt.
„Mardengo hat uns von einem spanischen Schiff entführt, das er überfiel“, wisperte sie. „Wir sollten eigentlich in einem Wirtshaus der Neuen Welt unsere – unsere Arbeit tun, aber nun sind wir eben auf dieser verdammten Insel gelandet.“
„Ich verstehe“, sagte er leise, dann hielt er ihr die Hand hin, die bisher noch ihren Arm festgehalten hatte. „Das ändert aber nichts. Wir sind Verbündete, und ich tue alles, um euch an Bord der ‚Isabella‘ zu holen, die ich zurückerobern werde.“
Sie übersah die Hand und fiel ihm um den Hals. Ihre Küsse bedeckten sein Gesicht, er versuchte, sich sanft dagegen zu wehren, aber ihr Temperament ließ sich nicht zügeln. Es gelang ihr, ihn umzuwerfen. Ihr weicher, warmer Körper preßte sich auf ihn.
„Ilaria“, flüsterte er. „Nichts gegen deine Zärtlichkeiten, aber dazu ist jetzt wirklich keine Zeit. Wir können uns später noch ausführlich unterhalten.“
„Oh, du hast recht.“ Sie richtete sich auf. Ihre Augen schienen zu funkeln, sie lächelte. „Wir werden uns unterhalten, Hasard, am besten in deiner Kammer an Bord der ‚Isabella‘. Ich habe dir viel zu erzählen, sehr viel. Und meine Phantasie kennt keine Grenzen.“
„Das glaube ich dir gern.“ Er erhob sich und räusperte sich leise. Natürlich würde er sie enttäuschen müssen, die Autorität des Kapitäns durfte schließlich nicht untergraben werden. Aber das konnte er ihr später erklären – falls alles klappte.
„Schnell jetzt“, drängte er sie. „Wir müssen ins Lager und die Wachen überwältigen.“
„Warte.“ Sie brachte ihr Gesicht dem seinen wieder ganz nahe. „Das geht so nicht. Vor allem darfst du Oka Mama nicht unterschätzen. Lieber stirbt sie, als daß sie zuläßt, daß deine Kameraden befreit werden. Verstehst du?“
„Wir müssen sie ablenken – sie und die Kerle.“
„Ich weiß, was wir tun können“, flüsterte sie. „Du mußt mir vertrauen, bitte. Laufen wir zur Landzunge an der Ostbucht.“
„Das ist zu weit.“
„Nein. Ich kenne alle Pfade, und ich weiß, wo die Fallen sind. Sie befinden sich in erster Linie im nordwestlichen Bereich der Insel. Wir haben freie Bahn – und wenn wir das Katapult auf der Landzunge bedienen und die Feuertöpfe auf die Werft und die Skull-Insel schleudern, läßt die Alte hier alles im Stich. Wir können im Nu zurückkehren und die Hütten öffnen.“
Was sie sagte, klang überzeugend. Hasard hatte keine andere Wahl, er mußte auf ihren Vorschlag eingehen. Denn sie hatte recht – die Zahl der Wächter im Lager war nicht sehr groß, aber immer noch zu groß. Ehe er sie überwältigt hatte, schlugen sie möglicherweise Alarm. Dann genügte es, wenn nur ein paar der Kerle vom Fluß ins Lager zurückkehrten, und das ganze Unternehmen war zum Scheitern verdammt.
Viel klüger war, die Piraten durch eine gezielte Aktion abzulenken. Somit war auch das Risiko geringer, daß die Arwenacks in den Hütten in Gefahr gerieten. Hasard mußte jedes Risiko vermeiden, Ilarias Auftauchen war ihm gerade recht.
Er nahm sie bei der Hand, und gemeinsam hasteten sie durch den Dschungel. Sie begegneten niemandem, kein Posten verstellte ihnen den Weg. Nur kurze Zeit verging, und sie hatten die Landzunge im Norden der Bucht bereits erreicht, wie Ilaria gesagt hatte. Hasard wußte jetzt, daß er ihr wirklich trauen durfte.
8.
Don Augusto Medina Lorca hatte vorsichtshalber die Marssegel der „Santa Veronica“ aufgeien lassen. Jetzt ließ er auch die Fock und den Besan wegnehmen – es war ratsam, mit langsamer Fahrt unter Land zu gehen.
Die „Santa Veronica“ glitt zwischen Korallenbänken dahin, es war fast ein Wunder, daß sie noch nicht aufgelaufen war. Der Pirat, der neben Don Lope de Sanamonte auf dem Achterdeck stand, hielt unwillkürlich den Atem an. War das die Möglichkeit? Ohne es zu beabsichtigen, hatte er das Flaggschiff in eine der Passagen gelenkt, die durch die Barriere führten und nur Mardengo und seinen Piraten bekannt waren.
Der Seemann auf dem Galion, der die Aufgabe hatte, die Wassertiefe auszuloten, schrie plötzlich: „Señor Capitán! Achtung – wir halten auf ein Riff zu!“ Trotz der Dunkelheit konnte er den flachen Buckel erkennen, der tiefschwarz aus den Fluten aufragte – direkt vor ihnen.
„Beidrehen!“ rief Don Augusto. Das Manöver wurde unverzüglich und in größter Eile durchgeführt, der Rudergänger legte Hartruder, um dem drohenden Auflaufen zu entgehen.
Tatsächlich schafften sie es: Die „Santa Veronica“ blieb in unmittelbarer Nähe der gefährlichen Bank in ausreichend tiefem Wasser liegen. Sämtliche Segel hingen im Gei. Die Männer hielten Umschau und begriffen, welch enormes Glück sie gehabt hatten. Zu allen Seiten ragten die Korallen aus dem Wasser. Die „Santa Veronica“ saß in einer Falle.
„Beidrehen!“ schrie Don Augusto auch den Besatzungen der nachfolgenden Galeonen zu, und sofort stellten sie ebenfalls verzweifelte Bemühungen an, sich zu retten.
Zwei Galeonen liefen dennoch auf. Es krachte, knackte und knirschte, und sie saßen auf dem Riff fest. Das wütende Gebrüll der Mannschaften tönte durch die Nacht, irgend jemand schien auch verletzt zu sein, ganz deutlich waren Schmerzenslaute zu vernehmen.
Don Lope packte den Piraten und stieß ihn gegen die Balustrade.
„Du Hund!“ brüllte er ihn an. „Du hast uns also doch hereingelegt! Das wirst du mir büßen!“
Der Mann setzte sich zur Wehr. Er sah seine Chance gekommen, sich zu befreien. Auf See wäre er nicht weit gelangt, hier aber, vor der Insel, konnte er wagen, außenbords zu springen und bis nach Pirates’ Cove zu schwimmen. Auf die kurze Distanz würden die Haie ihn nicht behelligen, er wußte, daß er es schaffen konnte.
Er wollte Mardengo verständigen, und sie würden die Verwirrung an Bord der spanischen Schiffe ausnutzen, um sich anzupirschen. Dann würden sie als erstes die „Santa Veronica“ entern, Don Augusto und Don Lope als Geiseln festnehmen, die Mannschaft töten und die Gefangenen aus der Vorpiek befreien.
Der Pirat entging Don Lopes wütendem Fausthieb, duckte sich und rammte ihm beide Fäuste in den Magen. Don Lope stöhnte auf, die Pistole entglitt seiner Hand und polterte auf die Planken.
Don Augusto war noch durch seine Beobachtungen abgelenkt. Sein Blick war nach achtern gerichtet, er sah, daß die vier anderen Galeonen es geschafft hatten, rechtzeitig vor dem Riff beizudrehen.
Der Rudergänger der „Santa Veronica“ eilte Don Lope zu Hilfe. Er sah, wie der Pirat die Pistole aufzuheben versuchte, schnellte vor und packte ihn. Sie überrollten sich auf dem Deck und hämmerten aufeinander ein, dann war auch Don Lope wieder auf den Beinen.
Noch einmal versuchte der Pirat, sich freizukämpfen, aber Don Lope war heran und hieb ihm einen Belegnagel auf den Hinterkopf, den er aus der Nagelbank des Besanmastes gerissen hatte. Mit einem leisen Stöhnen sank der Mann zusammen. Der Rudergänger ließ ihn los, richtete sich auf und blickte mit Don Lope und Don Augusto, der jetzt ebenfalls nahte, auf den reglos daliegenden Piraten.
Don Lope hob mit wutverzerrtem Gesicht seine Pistole auf, spannte den Hahn und zielte auf den Mann. Wieder war es Don Augusto, der ihn zurückhielt.
„Ich töte ihn!“ schrie Don Lope. „Er hat uns betrogen! Wir brauchen ihn nicht mehr!“
„Wir brauchen ihn doch noch“, sagte Don Augusto. „Wie sonst, mein bester Don Lope, sollen wir wieder aus dem Riff herausfinden?“
Darauf wußte auch Don Lope keine Antwort. Don Augusto gab dem Rudergänger einen Wink und ließ den Piraten fesseln. Er bedeutete Don Lope, mit ihm ein Stück zur Seite zu treten.
Während Don Lope noch seinen Zorn zu bezwingen versuchte, sagte er: „Der Kerl muß uns hier herausführen, sonst lasse ich ihn langsam an der Großrah hochziehen, verlassen Sie sich darauf, mein Freund. Sobald er wieder bei Bewußtsein ist, bearbeiten wir ihn. Viel schlimmer ist, daß zwei unserer Schiffe auf dem Riff festsitzen.“
„Wir müssen sie herunterziehen“, sagte Don Lope.
Don Augustos Lächeln war fast mitleidig. „Das ist nicht so einfach, wie Sie sich das vorstellen. Die Flut scheint vorbei zu, sein, wenn mich nicht alles täuscht, und bei ablaufendem Wasser haben wir keine Chance, die Galeonen freizuschleppen. Außerdem müssen wir wissen, wie groß die Schäden sind und ob es überhaupt Zweck hat, sie eventuell durch Warpen vom Riff zu holen.“
Die Kapitäne der beiden havarierten Galeonen waren inzwischen nicht untätig gewesen. Sie hatten ihre Schiffe untersucht. Der eine Mann, der bei dem Auflaufen verletzt worden war, wurde vom Feldscher versorgt. Boote waren abgefiert worden, und die Kapitäne setzten zur „Santa Veronica“ über. Vorsichtig lavierten die Bootsmannschaften zwischen den Korallenbänken hindurch, sie mußten aufpassen, daß sich das Mißgeschick nicht wiederholte.
Don Augusto und Don Lope ließen die Kapitäne an Bord der „Santa Veronica“ rufen, und die Besprechung fand auf dem Achterdeck statt. Die Lecks der beiden verunglückten Galeonen waren groß, es hatte keinen Sinn, zeitraubende Versuche zu ihrer Rettung zu unternehmen, die im übrigen von einem schnellen Instandsetzen der Schiffe begleitet sein mußten.
„All das hat keinen Sinn“, sagte Don Augusto. „Wir bergen die Mannschaften von den Schiffen und verteilen sie auf die anderen Galeonen. Die Leute, die sich auf dieser Insel verborgen halten – wer immer sie sind –, haben unseren Verband längst gesichtet. Wenn ich mich nicht irre, befindet sich an der Küste eine Flußmündung oder eine Bucht, und dort scheinen Schiffe zu ankern.“
Dies wurde durch den Ausguck der „Santa Veronica“ bestätigt, der seine entsprechenden Beobachtungen zum Achterdeck hinunterrief. Auf die relativ geringe Entfernung zwischen Riff und Insel konnte man im blassen Licht des Mondes zumindest die Masten der Schiffe sehen, die hinter der Biegung des trichterförmigen Einschnittes ankerten.
„Diese Schiffe sehen wir uns an“, sagte Don Augusto. „Vorwärts, wir haben keine Zeit zu verlieren.“
Die Kapitäne verließen das Flaggschiff und kehrten zu ihren Galeonen zurück. Don Augustos Befehl wurde weitergegeben, und die Besatzungen der unversehrten Galeonen bargen die Schiffbrüchigen vom Riff.
Don Augusto ließ unterdessen eine Pütz mit Seewasser füllen, die ein Seesoldat dem bewußtlosen Piraten über den Kopf schüttete. Der Kerl kam zu sich und stöhnte entsetzt auf, als er Don Lope mit der Waffe in der Hand vor sich stehen sah. Er wollte sich bewegen, aber die Fesseln hinderten ihn daran.
„Wir sitzen in dem Riff gefangen“, sagte Don Augusto. „Aber du wirst uns wieder herausführen.“ Er wies auf die Großrah. „Anderenfalls lasse ich dich an der Rah hochziehen, und zwar ganz langsam, damit du das Zappeln richtig lernst.“
„Nun?“ sagte Don Lope drohend. „Entscheidest du dich?“
Der Pirat blickte Don Augusto an, in seinen Augen war ein Ausdruck der Panik und des Unglaubens zu lesen. Er preßte die Lippen zusammen, dann senkte er den Kopf.
„Bootsmann!“ rief Don Augusto. „Halten Sie ein Tau bereit, natürlich mit einer Schlinge! Wir wollen ein Exempel statuieren!“
„Ja, Señor!“ schrie der Bootsmann.
Die Augen des Piraten weiteten sich. Es gab viele Arten zu sterben, aber der Tod durch Erhängen war einer der schlimmsten. Er hatte Angst. Hastig nickte er und sagte: „Nein, ich habe es mir überlegt. Ich führe euch. Es gibt einen Weg durch das Riff.“
„Dann los!“ stieß Don Augusto hervor. „Alle Mann auf ihre Posten! Schiff klar zum Gefecht! Die Segel setzen, wir laufen die Insel an und sehen nach, was es mit den Schiffen auf sich hat!“
Er dachte nicht daran, sich leise zu verhalten, und er ließ auch nicht die Laternen löschen. Man sollte wissen, daß er da war, er verließ sich auf die Stärke seines immer noch aus fünf gefechtsbereiten Schiffen bestehenden Verbandes.
Nach den Anweisungen des Lotsen glitt die „Santa Veronica“ langsam durch die Passage, die nur ein Ortskundiger ohne Risiko befahren konnte. Den nachfolgenden Galeonen ließ Don Augusto Lichtsignale geben; sie schoben sich ebenfalls vorsichtig zwischen den Bänken hindurch und hielten sich im Kielwasser der „Santa Veronica“.
Die „Santa Veronica“ schwamm frei. Don Augusto ließ mehr Tuch setzen. Er ließ den Kurs korrigieren und steuerte in südöstlicher Richtung mit raumem Wind die Mündung des Flusses an – da geschah es. Die Dinge entwickelten sich anders, als er geplant hatte.
Große, unheimliche Schatten tauchten wie Schemenwesen auf – die Schiffe hatten die Flußmündung verlassen. Gato hatte wieder das Kommando auf der „San Carmelo“, Mardengo hatte die „Isabella“ übernommen. Die „San Carmelo“ und die beiden Einmaster steuerten auf die „Santa Veronica“ zu und nahmen sie in die Zange; auf der „San Carmelo“ waren die Stückpforten geöffnet und die Geschütze ausgerannt.
Gato wußte, daß es wahrscheinlich das letzte Gefecht der „San Carmelo“ war, denn ihr Rumpf füllte sich immer mehr mit Wasser und die Krängung nahm zu. Doch selbst wenn sie sank, konnten er und seine Kerle sich mit Leichtigkeit schwimmend zur Insel retten. Mardengo konnte auf die „San Carmelo“ verzichten. Wenn sie unterging, hatte er immer noch die „Isabella“ und die Einmaster. Außerdem rechnete er damit, wenigstens eine spanische Galeone aufzubringen und zu entern – vielleicht sogar die „Santa Veronica“, die bedeutend größer und in einem besseren Zustand war als die „San Carmelo“.
Wichtig war vorerst nur eins: Der Feind mußte überrascht, nachhaltig eingeschüchtert und vernichtend geschlagen werden. Gato befolgte Mardengos Anweisungen in allen Punkten. Ohne zu zögern, feuerte er den ersten Schuß aus einer der Culverinen ab. Ein greller Mündungsblitz zerriß die Dunkelheit, Rauch stieg auf, schwer rollte der Donner über die See. Die Siebzehnpfünderkugel krachte in die Bordwand der „Santa Veronica“, es prasselte und splitterte. Die Spanier schrien auf.
Das Gefecht war eröffnet. Wieder dröhnten die Kanonen der „San Carmelo“ – weitere vier Geschütze der Backbordbatterie wurden gezündet. Wieder saßen sie im Ziel, und Don Augusto sah seine Seeleute und Soldaten auf dem Hauptdeck zusammenbrechen.
„Feuer!“ schrie er. „Schießt diesen Hund zusammen!“
„Aber Señor!“ rief der Ausguck. „Es ist die ‚San Carmelo‘, die uns angreift!“
„Was?“ Don Lope war erschüttert. „Das kann doch nicht wahr sein.“
Jetzt erkannte es auch Don Augusto im Zucken der Mündungsfeuer: Die „San Carmelo“ näherte sich seinem Flaggschiff von Backbord und war im Begriff, ihn zusammenzuschießen.
„Don Helder!“ schrie Don Augusto. „Was, zum Teufel, ist da drüben los?“
Doch Don Helder Avarez antwortete ihm nicht. Er konnte es nicht, er war tot – wie die anderen Männer der „San Carmelo“. Keiner hatte das Massaker überlebt. Mardengo hatte das Schiff nicht sehr weit südlich von Daytona überfallen, seine gefangenen Kumpane befreit und mit ihnen den Angriff gegen die Spanier gewagt, der mit seinem Sieg geendet hatte. Nach dem Verlust der „Grinthian“ hatte er wieder ein Schiff gebraucht, und die „San Carmelo“, auf der Schäden auszubessern gewesen waren, hatte sich ihm geradezu als Beute angeboten.
Don Augusto Medina Lorca wußte von diesen Ereignissen nichts, aber er konnte sich in diesem Augenblick zusammenreimen, welches Schicksal Don Helder und seiner Mannschaft widerfahren war. Das triumphierende Gebrüll der Kerle an Bord der „San Carmelo“, ließ keinen Zweifel offen – man hatte es mit Piraten zu tun. Im Aufleuchten der Mündungsblitze waren auch ihre halbnackten Gestalten zu erkennen.
„Das ist – Mardengos Bande!“ stieß Don Lope hervor und ließ einen würgenden Laut vernehmen. Größer hätte seine Überraschung nicht sein können, er hatte nicht mehr damit gerechnet, noch einmal mit Mardengo zusammenzutreffen.
„Feuer!“ schrie Don Augusto noch einmal, und so spuckten nun auch die Rohre der „Santa Veronica“ Feuer und Eisen aus.
Inzwischen hatten sich zwei der vier Galeonen des Verbandes zu ihrem Flaggschiff gesellt, und sofort griffen ihre Kapitäne in das Gefecht ein. Doch inzwischen war auch Mardengo zur Stelle.
Er hatte den Heckanker der „Isabella“ lichten lassen, anschließend aber einige Schwierigkeiten mit dem Herummanövrieren und Wenden des großen Schiffes gehabt, denn seine Kerle mußten sich erst mit der Takelung und dem Ruder vertraut machen.
Jetzt aber glitt die „Isabella“ mit der Strömung aus der Mündung und steuerte mitten zwischen die Gegner. Die Stückpforten waren geöffnet, die Zwanzigpfünder und die Culverinen der Backbordseite donnerten fast gleichzeitig in einer kompletten Breitseite. Mardengo setzte auch die Drehbassen ein, er hielt mit Gato zusammen auf die „Santa Veronica“.
Don Augusto geriet schwer in Bedrängnis, doch er wehrte sich nach Kräften. Eine Galeone unterstützte ihn, die beiden anderen griffen die Einmaster an, die nun ebenfalls mit ihren Bug- und Heckgeschützen feuerten.
Im Nu tobte ein erbittertes Gefecht, in dem beide Seiten keinen leichten Stand hatten. Vor Pirates’ Cove war der Teufel los. Keiner wußte, wie das Gefecht enden würde, eine Entscheidung war noch nicht abzusehen.
9.
Das fahle Licht des Mondes reichte aus, Hasard konnte die nähere Umgebung erkunden. Sie waren auf dem Kahlschlag angelangt, auf dem sich die Aussichtsplattform – Oka Mamas liebster Platz – und das Katapult befanden. Doch noch hielten sich Hasard und Ilaria im Dickicht verborgen. Sie durften keine Vorsichtsmaßnahme außer acht lassen. Nur einen Augenblick später stellte sich heraus, daß ihr Verhalten richtig war.
Ilaria berührte Hasards Unterarm. Er lenkte seinen Blick in die Richtung, die sie ihm andeutete, und sah die Gestalt eines Mannes.
„Ein Posten“, wisperte sie ihm ins Ohr. „Oka Mama hat ihn wahrscheinlich eben erst hergeschickt. Wenn es den Spaniern gelingt, die Insel zu runden, besteht die Gefahr, daß sie in die Skull-Bucht eindringen. Das muß ihr rechtzeitig gemeldet werden, damit sie den Feind mit den Pulvertöpfen befeuern kann.“
„Ja“, raunte der Seewolf. „Seine größte Aufmerksamkeit gilt der See, aber er würde bemerken, wenn wir uns über die Lichtung anschleichen. Hör zu: Ich halte mich rechts und arbeite mich auf ihn zu. Du wendest dich nach links und lenkst ihn ab.“
„Ich weiß schon was Feines“, flüsterte sie und kicherte.
Hasard gab ihr sein Messer, dann trennten sie sich. Ilaria schlich hart am Rand der Lichtung durch das Unterholz, Hasard umrundete den Platz an der rechten Seite.
Der Pirat, der unmittelbar am Hang, der in die See abfiel, unweit des Katapultes stand, hatte sich die Muskete am Riemen über die Schulter gehängt und die Arme vor der Brust verschränkt. Immer wieder glitt sein prüfender Blick über das Wasser. Noch waren keine Schiffe zu sehen, doch der Kanonendonner wälzte sich grollend über die See. Der Kampf war hart, aber der Pirat war zuversichtlich. Der Feind wußte nichts von der Existenz des Riffs. Er hatte sich einen schlechten Platz für seinen Kampf ausgesucht. Wenn es Mardengo gelang, die Spanier auf die Korallenbänke zu drängen, war ihm der Sieg sicher.
Plötzlich raschelte es im Gebüsch. Der Pirat drehte den Kopf nach links und nahm die Muskete von der Schulter. Er legte an und spannte den Hahn.
„Wer da?“ zischte er. Keinen Augenblick glaubte er daran, daß ein Tier das Geräusch hervorgerufen haben könnte. Affen gab es auf Pirates’ Cove nicht, auch kein Bodenwild. Und Vögel verursachten keine derart starken Bewegungen im Unterholz.
„Ich bin’s“, erklang eine heisere, offenbar mühsam unterdrückte oder irgendwie verzerrte Stimme. „Ilaria!“
Sie stolperte aus dem Gebüsch hervor. Die Augen des Piraten weiteten sich. Sie war völlig nackt.
„Die Spanier“, stammelte sie noch, dann brach sie zusammen. Das Messer hielt sie dabei so vor den Leib gepreßt, daß es aussah, als stecke die Klinge noch fest.
„Die Spanier?“ Er schritt auf sie zu. Waren die Spanier schon gelandet? Hatten sie Ilaria so zugerichtet? Er konnte kein Blut an ihrem Körper sehen, aber er war von dem Anblick ihrer Nacktheit fasziniert. Er glotzte sich die Augen aus dem Kopf. Nur noch drei, vier Schritte trennten ihn von ihr. War sie tot? Nein, unmöglich, sagte er sich. Aber was war ihr zugestoßen?
Weiter gelangte er mit seinen Überlegungen nicht. Hasard hatte ihn erreicht. Es war ihm gelungen, sich dem Mann lautlos zu nähern. Jetzt hob er das Entermesser und ließ den Griff auf den Kopf des Kerls niedersausen. Er traf, und der Kerl brach zusammen. Hasard nahm ihm die Muskete ab, ehe er damit Unheil anrichten konnte.
Er beugte sich über den Kerl und überzeugte sich davon, daß er auch wirklich ohnmächtig war. Dann sagte er leise: „Ilaria, du kannst aufstehen. Los, beeil dich. Wir müssen ihn fesseln und knebeln.“
Sie richtete sich auf und trat zu ihm. „Warum hast du ihn nicht getötet?“
„Ich bin kein Meuchelmörder.“
„Verrückt“, murmelte sie.
„Keineswegs“, sagte er. „Ich töte keinen Gegner von hinten, auch den größten Hundesohn nicht. Los, zieh dir dein Kleid wieder an. Du hättest das Ablenkungsmanöver auch etwas einfacher hinkriegen können.“
„Nein. Ich weiß, wie man diese Kerle nehmen muß.“
Er schüttelte nur den Kopf und wandte sich ab. Neben dem Katapult hatte er eine Taurolle entdeckt, damit fesselte er den bewußtlosen Kerl. Einen Knebel konnte er auch sehr schnell herstellen.
Ilaria lief ins Dickicht, tauchte darin unter und kehrte bekleidet zu Hasard zurück. Es ist nicht der richtige Moment, Seewolf, dachte sie, du hast recht. Aber wenn du mich erst richtig betrachtest, gehen dir die Augen über.
Hasard schleppte den überwältigten Gegner ins Gebüsch, versteckte ihn und vergewisserte sich, daß er sich aus eigener Kraft nicht befreien konnte. Dann eilte er zu dem Katapult zurück und untersuchte es kurz. Trotz des Ernstes der Lage mußte er grinsen. Das Katapult war der Abschußvorrichtung für die Höllenflaschen an Bord der „Isabella“ nicht unähnlich. Wenn Ferris das gewußt hätte! Er war schon über die Tontopf-Granaten erbost gewesen, aber daß Mardengo auch die Idee mit der Schleuder gehabt hatte, würde ihn noch mehr in Wut versetzen.