Seewölfe Paket 19

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Doch die Black Queen war schneller, packte ihn mit beiden Fäusten am Kragen und zog ihn zu sich heran.
„Laß dir das eine Warnung sein“, sagte sie drohend. „Ich bin nicht gewohnt, meine Anweisungen zweimal zu geben. Es liegt einzig und allein an euch, ob die Sache schlimmere Folgen hat oder nicht. Bis Einbruch der Dunkelheit ist das gesamte Dirnenpack im eingezäunten Lager. Wenn nicht, geht es euch dreckig.“
Boussac versuchte vergeblich, sich aus dem eisenharten Griff der Negerin zu befreien. Im nächsten Moment stieß sie ihn mit einem Ruck von sich. Willem Tomdijk fing ihn mit seinen fleischigen Armen auf.
Sein Blick, aus nordsee-grauen Augen auf die Black Queen gerichtet, schien ausdruckslos. Niemand konnte erkennen, welche Gedanken sich hinter seiner Stirn bewegten, auch Caligula nicht, der das Geschehen mit verschränkten Armen beobachtete.
„Schert euch von Bord!“ befahl die Queen scharf. „Alle drei!“
Emile Boussac warf ihr einen wütenden Blick zu, sagte aber nichts. Er wandte sich ab und half Manon auf die Beine, die stöhnend wieder zu Bewußtsein gelangte. Dann stützte er sie auf dem Weg zur Pforte im Schanzkleid.
„Über so eine Behandlung sind wir natürlich nicht erfreut“, sagte Willem Tomdijk dröhnend und scheinbar völlig ruhig.
„Das interessiert mich einen Dreck“, entgegnete die Black Queen schroff.
„Die Anweisungen müssen eben befolgt werden“, sagte Caligula und bemühte sich, seinen Worten einen versöhnlichen Klang zu geben. „Daran führt nun mal kein Weg vorbei. Wenn wir einen Angriff auf Tortuga zu erwarten haben, müssen wir unseren eigenen Laden in Ordnung halten. Die Mädchen würden nur Unruhe stiften, solange der Tanz nicht vorbei ist. Wir brauchen aber alle verfügbaren Kräfte, um Tortuga gegen unsere Feinde zu verteidigen.“
„So ist das also“, sagte Willem. Sein Dreifachkinn wackelte, als er nachdenklich den Kopf auf und ab bewegte.
„Keine Erklärungen mehr!“ zischte die Black Queen.
Caligula hütete sich, noch ein Wort von sich zu geben.
„In Ordnung.“ Der Ex-Bürgermeister von El Triunfo zog die massigen Schultern hoch und ließ sie wieder sinken. Er sah die Black Queen an. „Wir befolgen deine Order, Madam.“ Weder seiner Miene noch dem Klang seiner Stimme war anzumerken, was er wirklich dachte.
Er wandte sich ab und ließ sich von den schweigenden Crewmitgliedern den Bootsmannsstuhl anlegen.
Die Black Queen beobachtete es mit flammendem Blick. Und ihr hünenhafter Gefährte riskierte in diesem Moment nicht, sie anzusprechen.
4.
Über die Schlangen-Insel senkte sich das rotgoldene Licht der Spätnachmittagssonne. In den Furchen der Felsen entwarf dieses unwirklich scheinende Licht eine bizarre Maserung von Schattenrissen.
Zwei Menschen waren es, die hoch über dem Felsendom ausharrten, regungslos wie Statuen. Sie hatten eine der Beobachtungsplattformen erstiegen, um jenes Ereignis mitzuerleben, das für ihre Heimat in der Karibischen See von entscheidender Bedeutung sein sollte.
Im Schein der flachen Sonnenstrahlen nahm die Haut des Mannes einen bronzefarbenen Schimmer an. Sein Haar war blond und schulterlang, doch sein Gesicht war unverkennbar indianisch geschnitten.
Das Mädchen neben ihm strich die langen dunklen Haare aus dem Gesicht und beschirmte die Augen mit der flachen Hand. Der Wind umspielte ihren jungen, biegsamen Körper, der nur mit einem Lendenschurz bekleidet war.
Es war ein majestätischer Anblick, der sich den beiden Beobachtern bot.
Die „Isabella“ hatte den Felsendom passiert und ging auf Kurs Südwest. Der Wind wölbte das Tuch vor den schlanken Masten. Männer befanden sich hoch oben in den Rahen, um auch die Bramsegel zu setzen.
In Abständen von wenigen Minuten folgten auch die übrigen Schiffe, die die günstige Zeit vor dem Einsetzen des Mahlstroms nutzten.
Der Viermaster des Wikingers rauschte wie ein finster drohendes Ungeheuer auf das freie Fahrwasser hinaus. Doch für jene, denen der Anblick vertraut war, hatte der Schwarze Segler nichts Düsteres. Er kreuzte das Kielwasser der „Isabella“ und nahm mit drei Kabellängen Abstand Steuerbord achteraus Kurs auf.
Das dritte Schiff im Verband war die „Wappen von Kolberg“, jene stattliche Galeone, die in ihrer Bauweise mächtiger und behäbiger wirkte als die Schiffe von der Ramsgate-Werft. Doch dieser Eindruck täuschte. Arne von Manteuffel und seine Crew beherrschten das ehemalige polnische Flaggschiff mit absoluter Sicherheit, und sie bewiesen, daß es mit seinen Segeleigenschaften den anderen praktisch in nichts nachstand.
Den Abschluß bildeten die „Le Vengeur III.“ und die „Tortuga“, jene beiden Schwesterschiffe, die als letzte Neubauten auf der alten Werft in Plymouth entstanden waren, bevor Hesekiel Ramsgate seine Sachen gepackt und sich den Seewölfen beim Aufbruch in die Karibik angeschlossen hatte.
Bei günstigen nördlichen Winden segelten die fünf Schiffe unter Vollzeug und nahmen sehr bald Fahrt auf. Die sich bauschenden Segel schienen im rotgoldenen Sonnenlicht zu leuchten, die Heckseen bildeten breite schäumende Linien in den tief blauen und kristallklaren Fluten.
„Ich habe ein seltsames Gefühl“, sagte Araua, die Tochter der Schlangenpriesterin. „Es ist das Gefühl von Einsamkeit und Schutzlosigkeit.“
Karl von Hutten wandte den Blick von der Flotte des Seewolfs und sah das Mädchen an.
„Du täuschst dich. Es ist nur der Abschied, der solche Gefühle hervorruft. Wir sind nicht schutzlos, Araua. Denke an unsere Geschütze und an die vielen Kämpfer, die wir hier noch zur Verfügung haben.“
„Aber wir haben kein Schiff mehr zu unserer Verteidigung.“
„Der Seewolf weiß, was er tut. Unsere Feinde befinden sich auf Tortuga. Er muß schneller sein als sie, muß ihnen zuvorkommen und sie dort besiegen, wo sie sich zu einem neuen Angriff auf die Schlangen-Insel sammeln könnten. Nein, Araua, uns droht hier keine unmittelbare Gefahr.“
„Das ist es nicht allein“, sagte das Mädchen leise, „ich ahne blutiges Geschehen in der nahen Zukunft. Werden wir diese fünf Schiffe so wiedersehen, wie sie uns jetzt verlassen?“
Karl von Hutten lächelte und strich ihr über das Haar.
„Ja“, sagte er rauh, „wir werden an nichts anderes denken. Unsere Gedanken, mit denen wir die Freunde begleiten, dürfen nichts Unheilvolles haben.“
Araua hob den Kopf und erwiderte seinen Blick.
„Du hast recht. Meine Mutter würde nicht anders sprechen als du. Verzeih meine Angst. Sie ist falsch. Ich tue den Männern dort auf den Schiffen unrecht damit.“
Noch lange hielten sie auf der Beobachtungsplattform aus, bis die Segel nur noch als helle Punkte über der südwestlichen Kimm zu sehen waren.
Schon während der Seewolf und seine Gefährten mit ihren Schiffen ankerauf gegangen waren, hatte sich Arkana in das Felsengewölbe des Schlangengottes begeben.
Stumm und regungslos kniete die Schlangenpriesterin vor dem Standbild, umgeben von den züngelnden Lichtern der heiligen Flammen, die den magischen Kreis bildeten. Der Reif mit den beiden Schlangenköpfen ließ kleine Lichtreflexe über Arkanas Stirn glitzern. Es hatte den Anschein, als wanden sich die stilisierten Leiber in unablässiger Bewegung im Haar der Schlangenpriesterin.
Auch Arkanas ganzer Körper schien von dieser ständigen rhythmischen Bewegung erfaßt zu sein – wie in einem mystischen Tanz. Doch die Ursache war das Zucken der Flammen, die ihr Spiel von Licht und Schatten auf Arkanas brauner Haut trieben.
Die Schlangenpriesterin hielt die Augen geschlossen und den Kopf gesenkt. Sie konzentrierte die Kraft ihrer Gedanken darauf, alle Empfindungen auszuschließen. Nichts, was von außen an Wahrnehmungen auf sie eindrang, hatte jetzt noch eine Bedeutung. Ihr Bewußtsein war bereit, sich zu verlagern und den eingegrenzten Bereich des eigenen Ichs zu verlassen. Tief in ihrem Innern spürte sie, wie ihre Seele sich dafür öffnete, fremde Strömungen aufzunehmen und mit jenem Wesen in Zwiesprache zu treten, das sich nur ihr und Araua mitteilte.
Sie hob beide Arme und streckte sie dem Schlangengott entgegen. Der Moment war nahe. Sie spürte es deutlich, obwohl sie sich fern von Zeit und Raum befand. Ihr Bewußtseinszustand war wie das körperlose Schweben in einer unendlichen Leere.
„Sprich zu mir, Schlangengott, du, der du zahllose Generationen meines Volkes schützend auf seinem Weg begleitet hast. Sprich zu mir in dieser Stunde, in der meinem Volk und seinen Freunden vielleicht schlimmstes Unheil bevorsteht.“
Keines von diesen Worten war über Arkanas Lippen gedrungen. Die Worte schwangen in den Wellen ihres Bewußtseins mit und erreichten auf diese Weise die Gottheit, die gleichfalls nur auf einer fremden Bewußtseinsebene existierte und anderen Menschen unerreichbar bleiben würde.
„Öffne deine Augen, meine Hohepriesterin“, ließ sich der Schlangengott vernehmen.
Arkana gehorchte. Sie hob die Lider, und ihr Blick erfaßte die Statue, wanderte an ihr hoch und blieb an den grünen Augen des Schlangengottes haften, die jetzt in einem eigentümlichen Leuchten erglühten.
„Ich danke dir, daß du mich anhören willst“, sagte die Schlangenpriesterin, „ich danke dir heute besonders für die Güte, die du an meinem Volk und seinen Freunden sooft hast walten lassen.“
„Deine Worte sind ungewöhnlich. Du weißt, daß du mir nicht danken mußt. Ich spüre deine Empfindungen, die dahinterstehen.“ Das Leuchten in den Augen des Schlangengottes verminderte sich und nahm einen matten Hauch an, der ihn mitleidsvoll aussehen ließ.
„Ich weiß“, erwiderte er in der Bewußtseinsströmung, in der sie beide in Verbindung standen. „Aber es gibt nichts, womit ich deine Angst mildern kann. Die bösen Ahnungen, die dich erfüllen, sind sehr wohl berechtigt. Tödliche Gefahren warten auf den Seewolf und die anderen Männer – und auf Siri-Tong, die Rote Korsarin, die an mich glaubt.“
„Kannst du denn nichts tun?“ Arkanas geistige Stimme war beinahe flehentlich.
„Das, was mir möglich ist, werde ich gewiß tun. Ich werde dem Seewolf einen Weg weisen, der am besten geeignet sein wird, sein Vorhaben zu verwirklichen. Aber dann werden er und seine Gefährten auf sich allein gestellt sein. Denn die Black Queen verkörpert das Böse, das Böse, das sich außerhalb meines Machtbereichs befindet.“
„Du gibst mir wenig Hoffnung, Schlangengott.“
„Dann verstehst du mich falsch. Sei zuversichtlich. Eins ist sicher: Die Entscheidung des Seewolfs war richtig. Der Schlangen-Insel droht keine Gefahr, solange die Schiffe abwesend sind. Und was die Aufgabe in Tortuga betrifft: Hast du dich nicht immer auf die unerschütterliche Kraft des Seewolfs und seiner Männer verlassen können?“
„Das habe ich. Aber …“
„Es darf kein Aber geben, Schlangenpriesterin. Ich wiederhole: Sei zuversichtlich. In deinen Gedanken mußt du den Männern und der Roten Korsarin beistehen, du mußt sie beflügeln und ihnen Mut zusprechen. Düstere Gedanken sind nicht hilfreich. Nicht für dich selbst und nicht für andere.“
„Ich werde deinen Rat beherzigen“, sagte Arkana.
„Dann ist es gut. Du wirst mich nun allein lassen. Sicher werde ich dir schon bald mehr sagen können, aber für dieses Mal muß es genug sein. Achte darauf, daß das heilige Feuer weiterbrennt, bis es von selbst erlischt.“
Arkana senkte den Kopf und schloß die Augen. Als sie sie wieder öffnete, waren die Augen der Statue erloschen. Die heiligen Flammen bewegten sich ruhiger, als hätten sie einen Teil ihres Lebens verloren.
Die Schlangenpriesterin erhob sich langsam und wie in Trance. Aber in ihren Adern spürte sie das Pulsieren einer neuen Kraft. Es war wie nach einem langen und erholsamen Schlaf. Ihr Körper war wie neugeboren und damit auch ihr Geist.
Verflogen waren die bösen Ahnungen. Als sie das Gewölbe verließ, wußte sie es: Der Schlangengott hatte ihre Gedanken in die rechte Bahn gelenkt.
5.
Drei Tage waren verstrichen.
Eine Zeit nervöser Ungewißheit hatte auf Tortuga begonnen. Jeder, der mit der Black Queen zu tun hatte, spürte ihre wachsende Gereiztheit. Die Stimmung griff auf die Besatzungen der vier Schiffe über und pflanzte sich immer deutlicher auch an Land fort.
Die Black Queen hatte bereits am zweiten Tag der entnervenden Wartezeit erhöhte Alarmbereitschaft angeordnet. Dies galt für die Mannschaften ebenso wie für die Geschützbedienungen, die oben in den Felsen Stellung bezogen hatten und aus den Schiffskombüsen mit Verpflegung versorgt wurden.
Caligula wußte sehr wohl, daß sie froh sein konnten, für die Geschützstellungen an Land überhaupt noch genügend Leute gefunden zu haben. Aber er hütete sich, seiner Gefährtin das zu sagen. Sie erlitt jedesmal einen Tobsuchtsanfall, wenn man den wachsenden Unmut unter den Siedlern aus El Triunfo auch nur andeutete.
Vor sich selbst mußte sie inzwischen vielleicht sogar zugeben, daß es kein weiser Entschluß gewesen war, die Mädchen in das umzäunte Lager zu sperren. Die zunehmende Gereiztheit der Männer war sicherlich zum Teil auch auf diese Verfügung der Queen zurückzuführen. Aber sie konnte die Order nicht aufheben, wenn sie nicht ihr Gesicht verlieren wollte.
An diesem dritten Tag hatte sie einen Befehl ausgesprochen, der für die Decksmannschaften endlich etwas Klarheit brachte.
Die „Buena Estrella“ ging auf Weisung der Black Queen ankerauf und begab sich auf einen Kontrollkurs rund um Tortuga.
Für die übrigen Schiffsbesatzungen wurde damit deutlich, über was bislang nur vage Vermutungen angestellt werden konnten. Die Queen rechnete mit einem baldigen Angriff auf Tortuga. Sie hatte darüber kein offenes Wort verloren und ihre Untergebenen bis jetzt nicht für wert befunden, an ihren düsteren Vorahnungen teilzuhaben.
Am Abend dieses dritten Tages wurde die Kneipe „Zur Schildkröte“ zum Mittelpunkt des Geschehens auf Tortuga. Schon vor Einbruch der Dunkelheit versammelten sich die Siedler aus El Triunfo scharenweise in der Felsengrotte, um die besten Plätze zu ergattern.
Willem Tomdijk hatte sich am Kopfende von einem der langen Bohlentische niedergelassen. Dort thronte er als ruhender Pol, mit unbewegter Miene, einer Buddha-Statue nicht unähnlich. Nur seine hochgezogenen Augenbrauen verrieten von Zeit zu Zeit, daß er über die ständig anwachsende Zuhörerschar mehr als zufrieden war.
Dies war sein Abend. Er, Willem Tomdijk, hatte ein Wörtchen mitzureden, wenn es um Zukunftsentscheidungen ging. Das mußte auch die Black Queen lernen. Er hatte eine Bürgerversammlung einberufen, ohne die Schwarze zu fragen. Jetzt stand sie vor vollendeten Tatsachen, und er war gespannt, wie sie reagieren würde.
Dieser Abend war seine Revanche für die Art und Weise, wie sie Emile Boussac, Manon und ihn vor drei Tagen an Bord des Zweideckers abgekanzelt hatte.
„Mein Gott“, sagte Boussac, der neben ihm saß. „Wo sollen die Leute bloß alle Platz finden?“
Die Hauptgrotte war bereits überfüllt. Nur die Plätze, die Willem für die Black Queen und ihre Begleitung reserviert hatte, waren noch frei. Versorgungsschwierigkeiten gab es allerdings nicht.
Der dicke Diego, Schankwirt und Inhaber der „Schildkröte“, hatte für diesen Abend mehr als ein Dutzend Helfer eingestellt. Sie hatten alle Hände voll zu tun, die schaumgekrönten Bierkrüge und die Humpen mit bestem karibischem Rum an den Mann zu bringen.
„Zerbrich dir nicht den Kopf über ungefangene Fische“, sagte Willem brummend, „die Leute werden alle Platz finden. Schließlich gibt’s hier genug Nebengelasse. Wenn wir unsere Reden schwingen, brüllen wir eben etwas lauter.“
Emile Boussac zuckte mit den Schultern und blickte in die Runde. Stimmengewirr erfüllte die Grotte. Auch aus dem angrenzenden Labyrinth von Gängen, Nebenräumen, Nischen und Kellern war bereits ein dumpf hallendes Gemurmel zu hören. Willem hatte vermutlich recht. Wer später zu weit entfernt in der weitverzweigten Kneipenhöhle saß, dem wurde es eben von denen weitererzählt, die in der Hauptgrotte mitkriegten, um was es ging.
Willem schob den leeren Bierkrug von sich weg, und sein Gesicht wurde zu einer betrübten Landschaft von wulstartigen Falten.
„Diego!“ brüllte er. Zum Klang seiner Donnerstimme erbebte seine Körperfülle. Er hatte keine Mühe, das Stimmengewirr zu übertönen.
Der Schildkrötenwirt hastete eilends herbei. Schließlich hatte er den sich anbahnenden Rekordumsatz dieses Abends keinem anderen als dem Koloß aus Holland zu verdanken.
Diego, mit strähnigem Haar und listigem Grinsen im Runzelgesicht, war selbst füllig genug. Doch in Willem Tomdijks Nähe wirkte er wie ein schmächtiges Kerlchen.
„Noch mal das Gleiche?“ erkundigte er sich dienernd und griff nach dem leeren Bierkrug.
Auch Emile Boussac schob ihm seinen Krug hin und wollte etwas sagen. Doch Willem kam ihm zuvor.
„Das Zeug kannst du selber saufen“, sagte Willem grunzend und faltete die Hände über dem Bauch. „Ich geb’s endgültig auf, mein Freund. Wie oft war ich jetzt schon in deinem Saftladen und habe Bier bestellt!“
„Bist du mit der Bedienung nicht zufrieden?“ fragte Diego bestürzt. „Habe ich dich nicht immer bevorzugt behandelt, Señor Willem? Du hast doch dein Bierchen immer prompt erhalten, oder?“
„Wenn es bloß Bier gewesen wäre!“ stöhnte der Ex-Bürgermeister und verdrehte die seetrüben Augen unter den Wulst-Lidern. „Was du ausschenkst, ist alles andere, nur kein Bier. Zapfst du vielleicht deinem Personal den Schweiß ab und füllst ihn in Bierkrüge?“
„Oder Schlimmeres“, fügte Boussac kichernd hinzu, „mir kannst du mit dem Gesöff auch gestohlen bleiben, Kollege Diego.“
Der Schildkrötenwirt erbleichte.
„Ist das euer Ernst?“ hauchte er. „Ihr wollt mich auf den Arm nehmen, wie?“
„Dir ist bekannt, daß du einen Fachmann vor dir hast“, dröhnte ihn Willems Stimme an. „Auch Emile weiß, wovon er spricht. Zu Hause in El Triunfo hat er den edelsten Gerstensaft ausgeschenkt, den du in der ganzen neuen Welt kriegen kannst.“
„Ich weiß, ich weiß“, ächzte Diego, „du hast es oft genug erzählt. Aber was soll ich denn tun? Ich bin von meinen Lieferanten abhängig. Madre mia, ich muß das Bier, das sie mir liefern, teuer genug bezahlen.“
Willem lachte glucksend, und sein mächtiger Leib bewegte sich ruckhaft auf und ab.
„Das meiste, was du bezahlst, ist Wasser. Mann, Mann, die Inselaffen und Eimerschipper in dieser Gegend haben doch noch nie in ihrem Leben richtiges Bier getrunken. Ich sage dir, wenn du deine gelbe Brühe ins Meer kippst, fallen die Fische tot auf den Grund.“
„Das werde ich doch den Fischen nicht antun, Señor Willem.“ Diego schickte einen ergebenen Blick zur Felsendecke. „Wenn du erst einmal deine eigene Brauerei aufgebaut hast, werde ich dein wichtigster Abnehmer, und alle Leute auf Tortuga sind endlich glücklich und zufrieden.“
„Mhm“, brummte Willem, „du hast ja schon eine Menge gelernt, seit wir hier sind. Dann bring uns jetzt Rum. Das ist das einzige, was man in deinem Laden genießen kann, ohne daß sich einem der Magen umdreht.“
„Ganz wie Sie befehlen, Mijnheer“, sagte Diego und versuchte dabei, den holländischen Wortklang nachzuahmen, was ihm aber nur unzureichend gelang. Er schnappte sich die beiden Krüge, verbeugte sich und vollführte eine Kehrtwendung. Erst auf dem Weg zur Theke, als Willem es nicht mehr sehen konnte, begann er zu grinsen.
Natürlich wußte Diego, was der Holländer bei seinen Bemerkungen im Hinterkopf hatte. Nichts steckte Willem mehr in den Knochen als der Verlust seiner schönen Bierbrauerei in El Triunfo. Er würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um sich die Ausrüstung für eine neue Brauerei zu verschaffen. Schon jetzt betrieb er Werbung für seinen künftigen Gerstensaft, indem er die Konkurrenz in den Dreck zog.
Als Willem Tomdijk und Emile Boussac ihren Rum erhielten, herrschte bereits ein nicht mehr zu überblickendes Gedränge in der Kneipengrotte. Willem mußte immer wieder vorwitzige Kerle zurückscheuchen, die sich zu seiner Linken auf die reservierten Plätze setzen wollten. Emile stierte währenddessen trübsinnig in seinen Rum und dachte an seine kleinen Pariserinnen, die man so schmählich eingesperrt hatte.
Unvermittelt ebbte das Stimmengewirr ab. Ein beinahe andächtiges Raunen folgte. Willem hob den massigen Schädel, und auch Emile riß sich aus seinen Gedanken los.
„Platz da!“ ertönte eine barsche Stimme vom Eingang her. „Platz für die Black Queen!“
Das war Caligulas Stimme, unverkennbar. Willem Tomdijk und Emile Boussac wechselten einen Blick. Die schwarze Königin, wie sie sich in ihrer Vermessenheit nannte, hatte sich tatsächlich herabgelassen, der Einladung Folge zu leisten. Entsprechend mußte ihr Gemütszustand sein. Innerlich kochte sie wahrscheinlich vor Wut. Willem war auf einiges gefaßt.
Sekunden später bildete sich eine Gasse im Gedränge. Begehrliche Blicke hefteten sich auf die hochgewachsene Schwarze, die in majestätischer Haltung mit hoch erhobenem Kopf voranschritt.
Caligula folgte ihr mit einem Schritt Abstand. Seiner Miene war anzusehen, wie sehr er diesen Spießrutenlauf seiner Gefährtin haßte. Am liebsten hätte er den Kerlen für ihr gieriges Glotzen kräftig was auf die Finger gehauen. Aber dafür waren es wieder zu viele.
Willem verkniff sich ein Grinsen. Er nickte Emile zu. Der drahtige Franzose sprang sofort auf und winkte der Negerin und ihrem Begleiter zu. Die Queen bemerkte es und schien erleichtert, in dem Durcheinander einen Orientierungspunkt gefunden zu haben.
Willem Tomdijk erhob sich schnaufend und wies ihr und Caligula die beiden Plätze an seiner Seite zu. Sie folgten der Aufforderung. Die Queen verschränkte die Arme über den Brüsten, wobei sie eine hochmütige und unbeteiligte Miene aufsetzte.
Der ehemalige Bürgermeister von El Triunfo hob gebieterisch den fleischigen Arm. Augenblicklich kehrte in seiner unmittelbaren Umgebung Ruhe ein. Nach und nach pflanzte sich die Stille fort, sehr bald war auch aus den Nebengelassen der Kneipe kein Ton mehr zu hören.
„Ich begrüße euch alle auf das herzlichste!“ brüllte Willem. Jede Silbe hallte wie ein Paukenschlag durch das Gewölbe. „Eine besondere Ehre ist es, daß wir die Black Queen und Caligula zu unserer Bürgerversammlung willkommen heißen dürfen.“ Er legte eine wohlbedachte Pause ein, und die Männer begriffen, was er von ihnen erwartete.
Donnernder Beifall brandete auf.
Der stoische Gesichtsausdruck der Black Queen wich einem Ansatz des Lächelns. Sie konnte nicht umhin, sich geschmeichelt zu fühlen. Der Feiste war ein Schlitzohr, das wußte sie. Aber vielleicht war sein Willkommensgruß doch ernst gemeint.
Caligula beugte sich zu ihr und flüsterte in ihr Ohr.
„Siehst du. Sie können gar nicht anders, sie bewundern dich eben doch. Nach allem, was du für sie getan hast …“
Auf ein erneutes Handzeichen von Willem Tomdijk endete der Beifall. Abermals ließ er seine Stimme dröhnen.
„Nun zur Sache, Männer. Ihr wißt alle, warum wir uns zusammengefunden haben. Es geht um unsere Pläne für die Zukunft. Was soll aus uns werden? Wir haben alles verloren und praktisch nur unser nacktes Leben gerettet.“
„Nicht ihr!“ schrie die Black Queen dazwischen. Sie sprang auf. „Ich habe euch das Leben gerettet. Vergeßt das nicht. Vergeßt es nie!“ Ihr flammender Blick wanderte in die Runde.
Aber diesmal setzte kein Beifall ein.
Die Augen der Schwarzen verengten sich, und ihre Lippen bildeten einen Strich, als sie sich wieder auf die Bank sinken ließ. Sie fing an zu begreifen, was der Fettsack im Schilde führte.
„Selbstverständlich denken wir immer daran!“ rief Willem. „Wir vergessen doch nicht, wer uns geholfen hat! Auch, daß wir auf Tortuga oder später auf Hispaniola eine neue Heimat finden werden, verdanken wir doch nur unserer verehrten Madam, unserer Black Queen. Aber“, er holte Luft, und sein mächtiger Leib schien sich dabei aufzupumpen, „Dankbarkeit hat irgendwann ihre Grenzen. Und die Rettung aus der Not kann man so oder so betrachten: Geschah sie aus reiner Menschenfreundlichkeit, oder steckte eine Portion Eigennutz dahinter?“
„Eigennutz!“ rief jemand von weit hinten aus der Menge.
„Die Lady braucht uns als Fußvolk!“ ertönte die Stimme eines anderen.