Seewölfe Paket 19

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Zwei weitere Treffer hatte die ehemals spanische Kriegsgaleone im Heckbereich empfangen. Ein Loch von der Größe eines Ankerspills klaffte dort, wo sich vermutlich die Kapitänskammer befand. Die Heckgalerie war nur noch ein Gewirr von faserigen Splittern. Auch der hübsch verschnörkelte Namenszug existierte nicht mehr.
Während die Männer auf der „Isabella“ die Geschütze nachluden, rauschte die „Tortuga“ von achteraus heran. George Baxter, der fast kahlköpfige Profos, hatte dort drüben an Bord das Kommando übernommen, da er schon immer als Stellvertreter von Jerry Reeves fungiert hatte.
Hasard ließ eine zweite Breitseite abfeuern, die aber mehr dazu dienen sollte, den Gegner endgültig zu demoralisieren.
Die „Tortuga“ stieß von Steuerbord achteraus auf den Flammenschein der „Buena Estrella“ zu und feuerte aus großer Entfernung demonstrativ die beiden vorderen Drehbassen ab. Zwar prasselte das gehackte Blei wirkungslos in die Wasseroberfläche. Aber das beabsichtigte Ergebnis zeigte sich wenig später.
Während der Seewolf die „Isabella“ abfallen ließ und auch George Baxter seinem Beispiel folgte, entfernte sich das brennende Besansegel der „Buena Estrella“ wie eine übergroße Fackel nach Westen.
Die Kerle hatten begriffen, daß sie es mit einem übermächtigen Gegner zu tun hatten. Es blieb ihnen nichts, als ihr Heil in der Flucht zu suchen und die Flammen zu löschen. Daß ihnen letzteres gelang, zeigte sich nach einer Weile, als es über der See wieder vollständig dunkel wurde.
Der Seewolf verspürte indessen keine Neigung, der „Buena Estrella“ den Todesstoß zu versetzen. Der Plan würde so ablaufen wie vorgesehen. Keine voreilige Augenblicksentscheidung sollte daran etwas ändern. Wenn Jerry Reeves seinen Auftrag erfüllte, war der erste Schritt getan. Der Black Queen sollten die Augen übergehen.
7.
Vorsichtig lavierten die Männer das Beiboot durch die Korallenriffe, die der felsigen Nordküste von Tortuga vorgelagert waren. Weiße Schaumkronen und gischtende Fontänen kennzeichneten die Gefahrenstellen, wo die Riffe wie steinharte Schneidewerkzeuge bis an die Wasseroberfläche ragten und den Bootsrumpf im Handumdrehen aufgeschlitzt hätten.
Nachdem der Geschützdonner verklungen war, hatte Jerry Reeves ein paarmal schwache Lichter hoch oben in den Felsen gesehen. Auch meinte er, Stimmen vernommen zu haben. Möglich war immerhin, daß die Gefolgsleute der Black Queen Geschützstellungen eingerichtet hatten. Wegen der Entfernung und der Dunkelheit war es ihnen aber nicht möglich gewesen, in das Gefecht einzugreifen.
Jerry Reeves beschloß, größte Vorsicht walten zu lassen. Sie durften sich nicht zu sicher fühlen und mußten jederzeit damit rechnen, jemandem in die Arme zu laufen. Unbewacht war die Küste jedenfalls nicht. Soviel stand für Jerry schon jetzt fest.
Der hochgewachsene dunkelhaarige Mann hielt die Ruderpinne mit eisernem Griff. Während die übrigen sechs Männer mit geräuschlosen und doch zügigen Schlägen pullten, achtete er sorgfältig darauf, das Boot aus den Gefahrenbereichen herauszuhalten.
Schwarz und düster ragten die Küstenfelsen vor ihnen auf und wuchsen immer näher auf sie zu wie eine unausgesprochene Bedrohung. Jerry Reeves und seine Gefährten sprachen kein Wort. Sie wahrten größtmögliche Geräuschlosigkeit auch bei jeder ihrer Bewegungen.
Für einen kurzen Moment, als die Wolkendecke aufriß, erspähte Jerry einen schmalen Einschnitt zwischen zwei Uferfelsen. Das Boot glitt fast haargenau darauf zu. Eine geringe Korrektur mit der Ruderpinne genügte.
Die Männer reagierten, ohne daß ein Befehl ausgesprochen werden mußte. Rechtzeitig hoben sie die Riemen und stellten sie senkrecht. Dabei paßten sie auf, daß keine Riemenblätter gegeneinanderschlugen. Sekunden später knirschte der Kiel auf das Stückchen Ufersand zwischen den Felsen.
Stoker legte den Riemen flach und schwang sich als erster über das Dollbord. Kein Laut war dabei von dem gedrungen wirkenden Mann zu hören, der auch an Bord der „Tortuga“ die Funktion des Decksältesten übernommen hatte.
Ihm folgte Mulligan, der Schiffszimmermann. Er hatte sein strohblondes Haar mit einer Mütze bedeckt, damit er in der Dunkelheit nicht so leicht zu erkennen war. Ray Hoback war ebenfalls dabei. Er schleppte zwar etliche Pfunde Lebendgewicht mehr mit sich herum als die anderen. Daß er aber nicht minder geschickt war und sich behende bewegen konnte, bewies er jetzt, als er ohne das leiseste Geräusch aus dem Boot ins seichte Uferwasser glitt.
Stoker, Mulligan und Hoback zogen das Boot höher auf die winzige Strandfläche. Dann verließen auch Albert, Gustave Le Testu und Montbars die Jolle. Jerry Reeves folgte als letzter.
Sie packten alle gemeinsam zu, um das Beiboot der „Tortuga“ vollends an Land zu ziehen. Wann sie es wieder abholen konnten, stand vorläufig noch in den Sternen. Gemessen an der Wichtigkeit ihres Auftrags war es der unbedeutendste Punkt.
Jerry Reeves stieß einen Zischlaut aus, und die Männer begriffen sofort. Mehrere Minuten lang verharrten sie regungslos und horchten in die Dunkelheit. Erst danach waren sie absolut sicher, daß sich in unmittelbarer Nähe nichts rührte. Nur der Wind sang sein unstetes Lied in der zerklüfteten Felsenlandschaft, begleitet vorn Rauschen der Brandung.
Längst hatten sich die Augen der Männer an die Finsternis gewöhnt, so daß sie sich gegenseitig schattenhaft wahrnehmen konnten. Jerry beugte sich in das Boot, stellte den Bottich mit Pech auf eine der Duchten und begann, sich Gesicht und Hände zu schwärzen.
Die anderen folgten seinem Beispiel. Bald darauf war nur noch das Weiße ihrer Augen zu sehen, wenn sie sich ansahen. Noch während Montbars und Le Testu ihre Gesichter schwärzten, begannen die anderen, ihre Waffen für den Einsatz herzurichten.
Mit langen Stoffstreifen, die schon auf der „Tortuga“ vorbereitet worden waren, umwickelten sie die Scheiden der Entermesser. Auch die fertig geladenen Pistolen, die Pulverflaschen und die Kugelbeutel wurden entsprechend gesichert, damit sie beim Gehen keine Geräusche hervorriefen.
Etwa eine Viertelstunde nach ihrer Ankunft in der engen Felsenbucht waren sie abmarschbereit. Für ihren Auftrag hatten sie die ganze Nacht zur Verfügung, jedenfalls so lange, wie die Dunkelheit anhielt.
Wortlos übernahm Jerry Reeves die Führung und fand nach kurzem Suchen einen geeigneten Weg für den Aufstieg. Die Oberfläche des Gesteins war an diesem Küstenabschnitt glattgewaschen, verlief jedoch mit verhältnismäßig geringer Steigung landeinwärts. Auf nahezu geradlinigem Weg konnten sie aufsteigen. Jerry und seine Gefährten trugen dünne Ledersandalen, die ihre Schritte zur Lautlosigkeit dämpften und gleichzeitig ihre Fußsohlen vor Schrammen und Schnitten bewahrten.
Auf halbem Weg verwehrte ein senkrecht aufragender haushoher Felsklotz ihr zügiges Vordringen. Jerry verharrte, wandte sich um und hielt Stoker mit der flachen Hand zurück. Der Decksälteste stoppte seine Schritte sofort und gab das Zeichen an die anderen weiter.
Sie warteten, bis ihr Kapitän die Umgebung des Felsbrockens abgesucht hatte und zu ihnen zurückkehrte, nachdem er rechter Hand einen geeigneten Weg für den weiteren Aufstieg gefunden hatte. Danach gelangten sie ohne erneuten Aufenthalt rasch voran. Wenn sie den Kopf wandten, sahen sie die Schaumkronen der Brandung tief unten als kleine weiße Flecken in der nächtlichen Schwärze der Fluten.
Als sie wenig später ein kleines Plateau erreichten, ließen sie sich der Länge nach auf das ebene Gestein sinken und rührten sich nicht. Wieder horchten sie scharf in die Dunkelheit.
Jerry glaubte, gedämpfte Stimmen zu hören – wie aus weiter Ferne. Doch er war nicht sicher. Es mochten ebensogut Windgeräusche sein, die in der Felsenlandschaft die seltsamsten Laute bildeten.
Etwa hundert Yards landeinwärts, so konnte Jerry in einem vorüberwandernden Streifen Mondlichts erkennen, begann eine Zone spärlicher Vegetation. Er entschied sich für diesen Weg. Es hatte keinen Sinn, zu nahe am Küstenverlauf zu bleiben. Felsbrocken, Spalten und Geröllfelder bildeten unberechenbare Hindernisse.
Ohne zuviel Zeit zu verlieren, pirschten sie weiter voran. Wieder übernahm der hochgewachsene Kapitän der „Tortuga“ die Führung. Das Gestrüpp am Rand des Plateaus war fast brusthoch und dornig. Jerry teilte es vorsichtig, und seine Gefährten hielten geringen Abstand. Langsamer jetzt, Schritt für Schritt, drangen sie behutsam vor und vermieden jedes Rascheln. Mehr als dreihundert Yards legten sie auf diese beschwerliche Weise zurück, bis sie freieres Gelände erreichten.
Jerry wandte sich nach links, in südöstlicher Richtung. Anders hatte es keinen Zweck. Sie mußten die bewohnten Teile der Insel ansteuern, wenn sie ihr Ziel erreichen wollten.
Nur zehn, zwölf Schritte legten sie zügig zurück. Jäh verharrten sie von neuem. Jerry Reeves brauchte ihre Blicke nicht erst in die richtige Richtung zu lenken. Sie sahen es alle im selben Moment.
Da war blakender Lichtschein, linker Hand, etwa einen Steinwurf weit entfernt. Auch undeutliche Stimmen waren jetzt zu vernehmen.
Der Kapitän der „Tortuga“ zögerte keine Sekunde. Er stieß Stoker und Mulligan an. Zu sagen brauchte er nichts. Lautlos schlossen sie sich ihm an, während er begann, auf die Lichtquelle zuzupirschen.
Schon wenige Schritte weiter erkannten sie, daß die Lampe hinter hohen Felsbrocken verborgen war. Die Umrisse des Gesteins zeichneten scharfkantige, bizarre Linien. Die Stimmen wurden lauter, aber immer noch wehten nur Wortfetzen herüber.
Im Gehen zog Jerry Reeves vorsichtig sein Entermesser. Kein schabendes Geräusch entstand dabei. Stoker und Mulligan taten es ihm nach.
Nur noch wenige Yards trennten sie jetzt von den Felsbrocken. Sie verlangsamten ihre Schritte und schoben sich behutsam an das kühle Gestein heran. Der Geruch, den die Ölfunzel ausströmte, stieg ihnen in die Nase.
Jetzt waren auch Worte zu verstehen. Die Männer auf der anderen Seite der Gesteinsbrocken sprachen Spanisch, allerdings mit einem schaurigen kehligen Akzent.
„… rühren wir uns hier nicht vom Fleck, wenn ich es euch sage. Die Madam hat einen klaren Befehl erteilt.“
„Stimmt. Daran halten wir uns. Die läßt uns glatt kielholen, wenn ihr gerade der Sinn danach steht.“
„Aber vielleicht sollte einer von uns doch Meldung erstatten. Kann doch sein, daß sie von dem Gefecht nichts mitgekriegt hat. Und wenn die ‚Buena Estrella‘ so stark beschädigt ist, daß sie sinkt, was dann?“
„So ein Quatsch. Die Kanonenschüsse waren bestimmt noch bis nach Hispaniola zu hören. Nein, nein: Der Befehl war klar. Alle Geschützmannschaften bleiben in ihren Stellungen und rühren sich nicht vom Fleck, bis Verstärkung eintrifft.“
„Außerdem hat die Queen schon richtig überlegt. Wenn jede Geschützmannschaft so denkt wie wir, dann fehlt in jeder Stellung jetzt ein Mann. Richtig?“
„Ja, schon, aber …“
Die Männer von der „Tortuga“ hörten nicht länger hin. Sie wußten Bescheid. Die Rechnung ging unerwartet gut auf: Nach den Stimmen zu urteilen, handelte es sich um drei Kerle, die hinter den Felsbrocken palaverten.
Jerry Reeves gab Stoker und Mulligan ein Zeichen, indem er sie kurz an der Schulter berührte. Dann schlich er als erster voran.
Er umrundete den Felsen, hinter dem sie gelauscht hatten. Der Lichtschein verstärkte sich, und dann hatte er plötzlich freien Blick. Innerhalb von einem Sekundenbruchteil erfaßte er die Situation.
Er sah ein Geschützrohr, das auf einer behelfsmäßig zusammengezimmerten Lafette ruhte und auf die See hinauszeigte, Kartuschen unter einer Persenning, aufgestapelte Eisenkugeln und drei Galgenstricke, deren Köpfe, erschrocken herumruckten.
Es durfte keine Gnade geben. Jerry Reeves ließ seine Beinmuskeln explodieren. Wie ein Panther schnellte er auf den vordersten der Kerle zu, noch bevor einer von ihnen den Mund aufreißen konnte.
Nur einen Sekundenbruchteil später waren auch Stoker und Mulligan zur Stelle. Die Klingen der Entermesser blitzten im matten Licht, das aus einer Lücke zwischen zwei Wolkenbänken herabfiel.
Die drei Geschützbediener starben, ohne noch einen Laut von sich zu geben. Jerry Reeves und die beiden anderen richteten sich auf und schoben die Entermesser zurück in die Scheiden.
Während Jerry und Stoker begannen, die Kartuschen zu öffnen und das Schwarzpulver den Abhang hinunterzustreuen, schlich Stoker zurück, um die wartenden Männer zu holen. Minuten später waren sie zur Stelle und halfen mit.
Sämtliche Kartuschen wurden beseitigt. Dann stopften sie nacheinander sechs Eisenkugeln in das Geschützrohr. Es würde elend lange dauern, bis diese Stellung jemals wieder einsatzbereit war.
Die Männer von der „Tortuga“ setzten ihren Weg fort. Wieder wahrten sie die gleiche Vorsicht, die ihnen bis jetzt ein unbehelligtes Vordringen ermöglicht hatte. Schon eine Viertelstunde später zahlte sich das aus.
Abermals verharrten sie, als sie Lichtschein erblickten. Kein Zweifel, daß es sich um eine weitere Geschützstellung handelte, denn auch diesmal schimmerte das Licht zwischen Felsbrocken unmittelbar vor dem Felsenhang der Küste.
Gustave Le Testu schob sich an Jerry Reeves heran.
„Jetzt sind wir an der Reihe“, flüsterte der Hugenotte in das Ohr seines Kapitäns. „Wir wollen schließlich auch unseren Beitrag leisten.“
„Einverstanden“, erwiderte Jerry.
Gustave, der Mann mit dem schmalen Oberlippenbärtchen, pirschte ohne Umschweife los. Ihm folgte Montbars, der Korse, dessen graues Haar einen ungewöhnlichen Kontrast zu seinen jettschwarzen Augen bildete.
Dritter im Bunde war der hagere Albert mit dem wirren schwarzen Haar. In Quimper an der französischen Atlantikküste war er als der Bucklige bekannt gewesen. Den falschen Buckel trug er schon lange nicht mehr unter dem langen schwarzen Umhang, und auch seine durchtriebenen Machenschaften gehörten der Vergangenheit an.
Während sie warteten und den drei Männern nachschauten, mußten Jerry Reeves und seine Gefährten ungewollt an die Ereignisse an der bretonischen Küste zurückdenken. Damals, als sie den Seewolf als einen zuverlässigen und gerechten Freund kennengelernt hatten, waren auch Gustave Le Testu und die anderen beiden zu ihnen gestoßen.
Gustave hatte eine Bande von Wegelagerern befehligt, mit der er Heinrich von Bourbon zu schaden versucht hatte, wo er nur konnte. Aber dann war die Bande von französischen Soldaten aufgerieben worden, und Gustave und Montbars waren die einzigen Überlebenden gewesen.
Dunkelheit verschluckte die beiden Franzosen und den Korsen im felsigen Küstenbereich. Minuten verstrichen, ohne daß ein Laut zu hören war. Dann, plötzlich, tauchten die Silhouetten der drei Männer im Lichtschein auf. Gustave war es, der kurz den Arm hob und winkte.
Jerry und die anderen setzten sich in Bewegung. Kurz darauf sahen sie, daß Gustave, Montbars und Albert ihr tödliches Handwerk mit jener unerbittlichen Zuverlässigkeit erledigt hatten, die damals in Frankreich dazu geführt hatte, daß sogar der Königshof auf sie aufmerksam, geworden war.
Auch diese Geschützstellung wurde in der schon gewohnten Weise zerstört. Es gab zwei Rohre weniger, die den Schiffen des Seewolfs schaden konnten. Allein das war schon ein Erfolg. Aber es reichte nicht. Die eigentliche Aufgabe stand noch bevor.
Auf dem weiteren Weg in Richtung Südosten erreichten Jerry und seine Männer bald darauf einen Trampelpfad, der von der Küste weg ins Innere der Insel führte. Jerry überlegte nicht lange und entschied sich für diesen Pfad. Wohin er auch immer führen mochte – er wurde von Menschen benutzt und mußte demzufolge eine Bestimmung haben.
Sie zogen die Entermesser, denn mit bösen Überraschungen war jetzt eher zu rechnen. Wieder übernahm der Kapitän der „Tortuga“ die Spitze seines Trupps. Beim Vordringen wurde nach allen Seiten gesichert. Mit zunehmender Vegetation setzten sehr bald auch Geräusche ein. Die Tierwelt im Dickicht beiderseits des Pfades kümmerte sich nicht um den menschlichen Lebensrhythmus und gab auch zu dieser späten Stunde keine Ruhe.
Der Schatten tauchte so plötzlich hinter einer Wegbiegung auf, daß selbst Jerry Reeves erschrak.
Er prallte mit dem Mann zusammen, der einen entsetzten Quieklaut ausstieß. Jerry reagierte dennoch blitzschnell. Mit der Linken packte er zu, riß die Gestalt herum, umklammerte sie und preßte ihr die Klinge des Entermessers an die Kehle.
Der andere begann zu zittern.
„Wer bist du?“ zischte Jerry. „Was hast du hier zu suchen?“ Da es sich nicht um einen Mann der Geschützbedienungen handelte, war nicht von vornherein anzunehmen, daß er aus den Reihen der Black Queen stammte.
„Mei-mein Name ist – Emile Boussac“, wisperte der andere mit vibrierender Stimme.
Jerry horchte auf.
„Boussac?“ flüsterte er erstaunt. „Der Schankwirt aus El Triunfo?“
„Ja, der bin ich. Aber woher …?“
„Du hast zwei Freunden von uns geholfen. Wenn du vernünftig bist, lasse ich dich los.“
„Ich war schon immer ein vernünftiger Mensch“, versicherte der Franzose eilfertig. „Die beiden Freunde, von denen du gesprochen hast, waren das etwa Monsieur Ribault und sein schweigsamer Begleiter?“
„So ist es.“ Jerry Reeves löste seinen Griff.
Emile Boussac atmete erleichtert auf und strich seine Kleidung glatt. Stoker schob sich vorbei, um die Sicherung nach vorn zu übernehmen. Am Schluß der kleinen Marschformation war Gustave Le Testu auf dem Posten.
„Die Kanonenschüsse“, hauchte Boussac, „und jetzt ihr, heimlich, still und leise! Die Black Queen ist in Aufruhr – alles zusammen bedeutet doch wohl, daß ein Angriff bevorsteht.“
„Mir ist lieber, wenn ich es bin, der die Fragen stellt“, entgegnete Jerry Reeves. „Dir passiert nichts, wenn du uns erzählst, wie die Lage auf Tortuga ist.“
„Warum denn nicht?“ sagte Emile Boussac leichthin. „Ich stehe doch eher auf eurer Seite.“ Mit einem nicht endenden Wortschwall berichtete er zunächst, daß er in der Berglandschaft herumgeschlichen sei, um das eingezäunte Lager zu suchen, in das man seine bedauernswerten Mädchen gesperrt habe.
Aus dem weiteren Redefluß des drahtigen Franzosen notierte Jerry Reeves nur das Wesentliche in seinem Gedächtnis. Nach dem Geschützdonner, der von der Nordseite der Insel herübergeweht war, hatte die Black Queen sofort alle verfügbaren Kräfte mobilisiert. Der Zweidecker und die „Aguila“ waren klar zum Auslaufen, während die „Vascongadas“ offenbar die Verteidigung der Hafenbucht übernehmen sollte.
Die Siedler um Willem Tomdijk hatten sich allesamt in den Grotten der Kneipe „Zur Schildkröte“ versammelt. Sie hatten beschlossen, sich aus allem herauszuhalten.
Jerry Reeves war mehr als zufrieden, dies zu hören. Der Unsicherheitsfaktor, der dem Seewolf am meisten Kopfzerbrechen bereitet hatte, war damit aus der Welt geräumt. Es bedeutete kein Problem mehr, die Unbeteiligten aus den Kampfhandlungen herauszuhalten.
Die Leute aus El Triunfo waren in der „Schildkröte“ in Sicherheit. Und die Pariserinnen waren von der Black Queen selbst in Sicherheit gebracht worden, ohne daß die Schwarze dies vermutlich jemals beabsichtigt hatte.
„Sehr gut“, sagte Jerry, als der andere seine heruntergehaspelte Schilderung beendete. „Wenn du auf unserer Seite stehst, kannst du uns jetzt noch einen Gefallen tun. Kennst du dich auf Tortuga schon einigermaßen aus?“
„Ich habe mir alle Plätze angesehen, wo man vielleicht eine zweite Kneipe einrichten könnte.“
„Wir brauchen mindestens zwei Einmaster“, sagte Jerry, „und zwar so, daß niemand etwas davon mitkriegt.“
Die Augen Emile Boussacs leuchteten verstehend in der Dunkelheit. Mit einem erneuten Wortschwall versicherte er nach kurzem Nachdenken, daß er genau die richtige Stelle wüßte.
In der Tat erwies sich die Behauptung des Franzosen als nicht übertrieben. Auf Schleichwegen führte er die Männer von der „Tortuga“ zu einer abseits gelegenen kleinen Bucht. Mehrere Einmaster lagen dort vertäut. Die Eigentümer hatten sich ohnehin aus den nahen Hütten zurückgezogen und im Inneren der Insel verkrochen.
Jerry Reeves entschied sich für zwei Pinassen, auf die er seine Männer verteilte. Boussac entließ er, nachdem er ihm das Versprechen abgenommen hatte, kein Wort über die nächtliche Begegnung zu verlieren. Minuten später wurden die Leinen der beiden Einmaster gelöst und die Segel gesetzt. Außerhalb der Bucht gingen sie sofort auf Nordkurs.
8.
Rings um die Hafenbucht von Tortuga war es still geworden. Auch hier hatten sich die Bewohner der Hütten zurückgezogen. Sie waren aus Erfahrung klug geworden. Oft genug war in der letzten Zeit die wahre Hölle losgebrochen. Wer auch immer sich in der Bucht oder vor der Bucht Gefechte lieferte – man konnte nie wissen, ob nicht einmal eine volle Breitseite versehentlich an Land einschlug.
Emile Boussac empfand leises Unbehagen, als er sich durch die unbefestigten Gassen der Bucht näherte. Die Leute waren vernünftiger als er. Die meisten von ihnen hockten wahrscheinlich zusammen mit Willem Tomdijk und seiner Anhängerschar bei Diego in der „Schildkröte“. Oder sie hatten sich andere beschauliche Plätze in einem sicheren Gebiet der Insel ausgesucht.
Emile sagte sich, daß er ein verdammter Narr war, jetzt noch zur Bucht zu gehen. Aber da war eine seltsame Art von Jagdfieber, das ihn gepackt hatte. Die Jagd nach Informationen konnte unter Umständen wichtiger sein als ein Gefecht auf See. Das begriff er jetzt, nachdem er den Freunden Jean Ribaults sein Wissen preisgegeben hatte.
Wußte er denn, ob nicht vielleicht ein zweites geheimes Landeunternehmen stattfand? Vielleicht konnte er noch einmal mit wichtigen Nachrichten zu Diensten sein. Möglich auch, daß sich so etwas auszahlte, wenn nicht in klingender Münze, dann doch auf die eine oder andere lohnende Weise.
Emile Boussac, der kleine Schankwirt aus El Triunfo, empfand plötzlichen Stolz darüber, wie bedeutend seine Person geworden war – und noch werden konnte. Nur durch die Weitergabe seines Wissens trug er vielleicht entscheidend zur Entwicklung des Geschehens auf Tortuga bei.
Verblüfft verharrte er, als er den Strand erreichte.
Alle drei Schiffe lagen noch in der Bucht – die „Caribian Queen“ die „Aguila“ und die „Vascongadas“. Das Laternenlicht enthüllte hektisches Treiben auf den Decks. Kisten und Fässer wurden aus längsseits liegenden Schaluppen und Pinassen an Bord gehievt. Zweifellos handelte es sich um Munitionsvorräte, die in die Pulverkammern verfrachtet wurden.
Die Black Queen mußte also einen Schiffsausrüster aufgetrieben haben, der sich bereit erklärt hatte, sie zu beliefern. Auf Tortuga, soviel hatte Emile Boussac mittlerweile begriffen, war das Unmögliche möglich. Hier gab es die denkwürdigsten und unvermutetsten Vorratsquellen. Man mußte nur dem richtigen Mann den richtigen Preis zahlen, dann gab es nichts, was man nicht erhalten konnte.
In seinem Hinterkopf notierte Emile Boussac die Tatsache, daß sich die Black Queen mit zusätzlicher Munition versorgt hatte, eine wichtige Erkenntnis, die vielleicht für die gegnerische Seite noch von Bedeutung war.
Er ging ein paar Schritte weiter und stutzte, als er eine kleine Jolle an einem der Stege liegen sah. Solche Beiboote wurden nur an Bord der großen Galeonen mitgeführt. Es handelte sich also nicht um ein Boot, das irgend jemandem gehörte, der hier zu Hause war.
Emile fand keine Zeit mehr, weiter über seine Beobachtung nachzudenken.
Das Geräusch, das er plötzlich hinter sich hörte, war nicht mehr als ein Huschen. Schreck durchzuckte ihn. Er kreiselte herum und streckte abwehrend die Arme aus. Zu spät.
Die Silhouette, die ihn ansprang, war schneller. Emile fühlte sich jäh in einem eisenharten Griff. Die Arme wurden ihm auf den Rücken gerissen, und erst jetzt sah er aus den Augenwinkeln heraus, daß es Caligula war, der ihn mit brutaler Gewalt festhielt.
Aus dem Dunkel trat die Black Queen. Das Weiße ihrer Augen leuchtete. Ein spöttischer Glanz schien darin zu liegen.
„Was hast du hier zu suchen, du lausiger Hurenbändiger?“ fauchte sie ihn an.
„Ich? Nichts, gar nichts“, stammelte Emile. „Hab mir nur ein bißchen die Beine vertreten.“