Seewölfe Paket 19

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Hasard wartete, bis sein Vetter den Bericht abgeschlossen hatte. Dann sagte er: „Die Black Queen ist also wieder aufgetaucht. Kein Wunder – wir hätten damit rechnen müssen. Um Esther und El Tiburon tut es mir leid, ihr Tod ist absurd und sinnlos. Was geschehen ist, hätte nicht passieren dürfen. Aber wir können es nicht mehr ändern. Nur einen Trumpf haben wir jetzt: Wir wissen, wo sich die Queen aufhält und auf die Rückkehr ihrer beiden Agenten Sarraux und Nazario wartet.“
„Das sollten wir ausnutzen“, sagte Jean Ribault. „Sie ahnt nicht, daß wir bereits alles erfahren haben.“
„Mit anderen Worten, wir haben eine gewisse Zeitspanne zur Verfügung – bis zu dem Moment, in dem sie mißtrauisch wird und etwas zu ahnen beginnt“, sagte Siri-Tong. „Eine bessere Gelegenheit, ihr nun doch den entscheidenden Schlag zu versetzen, gibt es für uns nicht.“
„Immer wieder ist es ihr geglückt, uns zu entwischen“, sagte Thorfin Njal grimmig. „Wie wäre es, wenn wir sie diesmal festnageln würden? In Punta Gorda müßte es gelingen, da sitzt sie in der Falle.“
Gotlinde stemmte die Fäuste in die Seiten. „Ihr lauft also wieder aus? Bei Odin und allen Göttern, Thorfin, da habe ich ja wohl ein Wörtchen mitzureden.“
„Einen Augenblick“, sagte der Seewolf. „So weit sind wir noch nicht. Der Bund der Korsaren tritt unverzüglich zur Beratung zusammen. Arne, ich schlage vor, du kehrst sofort nach Tortuga zurück, sobald wir abgestimmt haben, was zu tun ist. Dies ist mein erster Antrag, wir sollten sofort darüber entscheiden.“
Kurze Zeit später wurde der Antrag einstimmig gutgeheißen – der Bund der Korsaren hockte beisammen, diesmal allerdings nicht auf dem Ratsfelsen der Schlangen-Insel, sondern aus Zeitgründen am Strand der Bucht.
Arne von Manteuffel sollte mit der „Wappen von Kolberg“ wieder in der Hafenbucht von Tortuga ankern und seine Kontrollfunktion fortsetzen. Seine vordringliche Aufgabe war es, die Dinge im Griff zu behalten und die Spione Sarraux und Nazario zu bewachen, die vorerst auf Nummer Sicher blieben. Erst wenn der Seewolf mit seinem Verband Tortuga anlief, sollte über – das weitere Schicksal des Bretonen und des Portugiesen entschieden werden.
„Nun mein nächster Vorschlag“, sagte Hasard. „Wir sollten nicht lange fackeln und sofort nach Punta Gorda segeln – mit der ‚Isabella‘ und der ‚Le Vengeur‘. Nur so haben wir eine Chance, die Black Queen noch zu erwischen. Der Schwarze Segler und die ‚Tortuga‘ bleiben hier.“
„Bei Geri und Freki, Odins Raben, nein!“ Thorfin Njal hieb mit der Faust in den Sand, daß eine Fontäne hochspritzte. „Das lasse ich nicht zu! Das könnte euch so passen, ohne mich zu segeln! Ich habe mit der schwarzen Satanswalküre auch noch ein Hühnchen zu rupfen und eine Rechnung zu begleichen, vergeßt das nicht!“
„Gotlinde hast du wohl ganz vergessen, was?“ sagte die Rote Korsarin. „Sie hat recht – es wird Zeit, daß du dich um sie kümmerst. Eine Ehefrau, die guter Hoffnung ist, läßt man nicht dauernd allein, oder hast du das immer noch nicht begriffen, du ungehobelter Klotz?“
Jean Ribault konnte sich eines Grinsens nicht erwehren. „Das gehört nun mal zu den Pflichten eines treusorgenden Ehemannes. Daran muß sich auch ein Thorfin Njal gewöhnen. Da hilft kein Fluchen und kein Protestieren.“
„Unfaßbar“, sagte der Wikinger „Ihr seid also alle gegen mich?“
„Stimmen wir ab“, sagte der Seewolf. „Hand hoch, wer dafür ist, daß Thorfin auf der Schlangen-Insel bleibt.“
Er selbst hob die rechte Hand. Siri-Tong, Ribault, Arne und Jerry Reeves folgten seinem Beispiel. Der Wikinger saß da wie vom Donner gerührt. Dann weiteten sich seine Augen, er lief rot an und brüllte: „Hand hoch, wer dafür ist, daß ich mit nach Punta Gorda segle!“
Diesmal riß nur er den Arm hoch, sonst rührte sich keiner. Fast sah es so aus, als sträube sich sein Bart vor lauter Wut. Aber er nahm die Entscheidung hin.
„Na schön“, sagte er grollend, „dann bleibe ich eben hier. Aber ihr beißt euch vor Ärger noch selbst wohin, ihr Hänflinge, nämlich dann, wenn ihr mit der schwarzen Hexe aneinandergeratet und dringend meine Unterstützung braucht.“
„Richtig“, sagte Ribault. „Wir haben ja auch noch nie etwas ohne die Hilfe des Wikingers unternommen. Du bist unsere Amme, Thorfin, aber wir strampeln uns trotzdem zurecht, glaub es mir.“
„Du mit deinen Sprüchen“, brummte der Nordmann. „Du kannst mich ruhig anöden, aber du wirst trotzdem noch an meine Worte denken.“
Er verspürte Lust, sich den Helm vom Kopf zu reißen und ihn in den Sand zu knallen, aber wieder bezwang er sich. Gotlinde stand außerdem nicht weit entfernt und sandte immer wieder neugierige Blicke zu ihnen herüber. Es sollte nicht so wirken, als wolle er partout nicht bei ihr bleiben. Das gab erst recht böses Blut. Teufel, was für eine Situation! Es gab keinen Ausweg.
Hasard sah den Wikinger an und konnte sich nur schwer ein Lachen verkneifen. „Du bleibst also hier, Punktum und basta. Tröste dich, auch Siri-Tong ist diesmal nicht mit von der Partie.“
„Richtig“, erklärte die Rote Korsarin. „Ich leiste Gotlinde, dir und allen anderen Gesellschaft, Thorfin. Was sagst du jetzt?“
Er war sprachlos, blickte vom einen zum anderen und begriff nicht, was geschah. Er fixierte Ribault aus schmal werdenden Augen und beugte sich etwas vor. „Was hat das zu bedeuten? Verdammt, kannst du mir erklären, was hier gespielt wird?“
„Ja“, erwiderte der Franzose fröhlich grinsend. „Ich weiß Bescheid. Aber es würde zu lange dauern, dir jetzt alles auseinanderzusetzen. Hab’ Geduld bis nachher.“
„Gotlinde!“ brüllte der Wikinger. „Hier wird ein Komplott gegen mich geschmiedet! Beeil dich und bring unseren Sohn bald zur Welt, oder ich drehe noch durch!“
Gotlinde lächelte nachsichtig. „Ich fürchte, da mußt du noch ein paar Monate warten. Außerdem steht noch nicht fest, ob wir einen Jungen haben werden. Es könnte auch eine Tochter werden.“
Thorfin Njal erhob sich mit den anderen. „Wenn’s ein Junge wird, nenne ich ihn vielleicht Thor“, brummelte er. „Wenn’s eine Tochter wird, Thora. Mal sehen.“
„Da habe ich auch noch ein Wörtchen mitzureden“, sagte Gotlinde, als die Versammlung sich auflöste.
„Tausend Wörtchen“, sagte der Wikinger.
Aber er hatte sich doch beruhigt. Was blieb ihm anderes übrig? Er mußte sich den Dingen fügen. Nur eins war sicher: Sollte während der Abwesenheit von Hasard und Ribault irgend jemand versuchen, die Schlangen-Insel zu erobern, dann würde er sich höllisch die Finger verbrennen – am frisch gewetzten Messerchen von Thorfin Njal.
Der Abschied fiel kurz aus. Hasard, Ribault und Arne sowie die Crews begaben sich an Bord der „Isabella IX.“, der „Le Vengeur III.“ und der „Wappen von Kolberg“. Die Beiboote wurden hochgehievt und binnenbords geschwenkt, auf den Decks festgezurrt und mit gewachstem Segeltuch abgedeckt. Die Männer eilten auf ihre Manöverposten, enterten in den Wanten auf und setzten die Segel, während andere das Spill besetzten und den Anker hievten.
Kurz darauf segelte die „Isabella IX.“ als erste mit dem Mahlstrom aus der Bucht. Die „Le Vengeur III.“ lag in ihrem Kielwasser und folgte dichtauf. Als letztes Schiff verließ die „Wappen von Kolberg“ die Bucht.
Vor der Schlangen-Insel trennten sich die drei Galeonen. Arne von Manteuffel nahm Kurs auf Tortuga. Hasards und Jean Ribaults Kurs lag etwas südwestlich versetzt, sie liefen Punta Gorda an. Ein neues Abenteuer begann, und keiner wußte, wie es enden würde.
3.
Siri-Tong, Arkana, Araua, Gotlinde und die Schlangen-Kriegerinnen winkten den davonziehenden Schiffen noch eine Weile nach, dann gesellten sie sich zu den Männern, die sich um Thorfin Njal, Jerry Reeves und George Baxter scharten und die jüngsten Ereignisse von Tortuga eifrig diskutierten. Die Rote Korsarin hörte eine Weile zu, dann aber sonderte sie sich ab und schritt zur Werft, wo sie sich mit Hesekiel Ramsgate verabredet hatte.
Auch Thorfin Njal erfuhr schon wenig später, über was die beiden sprachen – und daß weder von einem „Komplott“ noch von einem „Geheimnis“ die Rede sein konnte. Siri-Tong wollte lediglich auf der Schlangen-Insel bleiben, um mit dem alten Ramsgate beraten zu können, was schon seit einiger Zeit ihre Gedanken bewegte. Seit dem Verlust ihres Viermasters „Roter Drache“ sehnte sie sich nach einem neuen Schiff.
„Ich habe daran auch schon gedacht“, sagte der alte Ramsgate und lächelte. „Immerhin können Sie, Madam, nicht immer als zweiter Mann auf einem anderen Schiff fahren – beziehungsweise, als zweiter Kapitän, meine ich natürlich.“
„Ein neues Schiff ist mein Traum“, sagte sie und ließ ihren Blick über die Werft wandern. „Aber ich muß noch einen genauen Plan entwerfen.“
„Wir könnten zusammen eine Zeichnung anfertigen“, sagte Ramsgate. Die Begeisterung hatte ihn bereits gepackt. Der Bau eines Segelschiffes war eine Schöpfung, eine Verbindung von solidem Handwerk und genialem Entwurf und die Vollendung menschlichen Könnens. Ramsgate hätte sich keine schönere Aufgabe vorstellen können. Sein Herz schlug für den Schiffbau, und er versah seine Arbeit mit dem Feuereifer eines echten Liebhabers.
„Ich habe an einen schnellen, wendigen Dreimaster gedacht“, fuhr Siri-Tong fort. „Etwa im Stil der ‚Isabella‘, der ‚Tortuga‘ und der ‚Le Vengeur‘. Aber ich hätte einige Sonderwünsche, von denen ich hoffe, daß sie sich verwirklichen lassen.“
Wieder lächelte der Alte. „Das hängt davon ab, um welche Art von Wünschen es sich handelt, Madam.“
„Ich erinnere mich beispielsweise an die spanische Kriegsgaleone ‚Aguila‘, die wir vor Tortuga versenkt haben – und an ähnliche Schiffe, die mit Heckkanonen ausgerüstet waren.“
„Heckkanonen lassen sich im Achterschiff durchaus unterbringen, man muß nur gewisse statische Berechnungen anstellen und die Lage der Stückpforten richtig wählen“, sagte Ramsgate.
„Ich stelle mir das so vor: Es müßte eine Kammer unter dem Achterdeck ausgespart und als Geschützdeck für eine oder zwei Kanonen verwendet werden.“
„Mit wasserdichtem Schott zu den übrigen Achterdeckskammern und Speigatten, damit überkommendes Wasser ablaufen kann“, fügte der Alte hinzu. „Ja, das halte auch ich für eine gute Idee. Achterlich ausgerichtete Siebzehn- oder Zwanzigpfünder erfüllen die gleiche Funktion wie Buggeschütze. Ich meine, sie können in einem Gefecht von großer Bedeutung sein, obwohl sie natürlich nicht so beweglich sind wie Drehbassen oder Serpentinen.“
„Sie lassen sich meinen Vorschlag also durch den Kopf gehen, Hesekiel?“
„Ja. Und vielleicht fertige ich auch gleich eine entsprechende Skizze dazu an.“
„Mit anderen Worten, Sie können mir schon in den nächsten Tagen detaillierte Vorschläge unterbreiten?“
„Ganz bestimmt“, erwiderte der Alte. „Aber sind Sie wirklich davon überzeugt, daß es ein Dreimaster sein soll – und kein Viermaster wie ‚Roter Drache‘?“
Siri-Tong nickte. „Ich kenne die ‚Isabella‘, und ich bin lange genug an Bord der ‚Le Vengeur III.‘ gefahren. Die Schiffe faszinieren mich von der Schnelligkeit und Wendigkeit her, von ihren guten Am-Wind-Eigenschaften und der Manövrierfähigkeit – wie im übrigen auch die ‚Tortuga‘, welche die gleiche Qualität hat.“
Diese Worte erfüllten den alten Mann mit Stolz, ja, fast mit Ergriffenheit. Schließlich war er der Konstrukteur der drei Galeonen gewesen, sie waren daheim in Plymouth auf seiner Werft vom Stapel gelaufen.
Er murmelte etwas Unverständliches, dann streckte er der Roten Korsarin die Hand entgegen. „Na, dann also – auf ein gutes Gelingen, Madam.“
Siri-Tong ergriff seine Hand und drückte sie fest. „Ich bin schon jetzt davon überzeugt, daß die Pläne für das neue Schiff bei Ihnen in sicheren und kundigen Händen sind. Ich bin neugierig auf Ihre Entwürfe.“
Der Alte kicherte. „Ich selbst auch. Mal sehen, was dabei herauskommt. Haben Sie denn auch schon eine Vorstellung, wie die Galeone heißen soll? Das Kind muß schließlich einen Namen haben, das sagt sogar Thorfin Njal.“ Er hatte gehört, was der Wikinger Gotlinde während der Beratung zugerufen hatte – es war ja nicht zu überhören gewesen.
„Ich weiß es noch nicht“, erwiderte Siri-Tong. „Das muß ich mir noch überlegen.“
Gemeinsam schritten sie zu den anderen, und die nächsten Stunden verstrichen mit Mutmaßungen und Erwägungen, die bezüglich der Ankunft von Hasard und Ribault in Punta Gorda angestellt wurden. Hielt sich die Black Queen wirklich noch auf Hispaniola auf? Oder war sie inzwischen weitergesegelt, mit unbekanntem Ziel? Was würde geschehen, wenn die Männer der „Isabella“ und der „Le Vengeur III.“ die Bande der „Caribian Queen“ tatsächlich antrafen?
Es würde gekämpft werden, daran bestand kein Zweifel. Wie aber ging das Gefecht aus? Gelang es dem Seewolf, die Black Queen endlich zu vernichten? Die Männer und Frauen auf der Schlangen-Insel hofften darauf, aber eine genaue Vorhersage ließ sich nicht treffen.
Die Queen war geschwächt, aber sie hatte immer noch ein Schiff und eine Mannschaft. Sie würde sich mit allen Mitteln gegen den Feind wehren, notfalls mit Zähnen und Nägeln. Sie durfte auch jetzt nicht unterschätzt werden.
Aber das wußten Hasard und Ribault – sie hatten aus den Erfahrungen der jüngsten Zeit gelernt. Sie gingen in keine Falle und fielen auf keinen Trick herein. Nur die offene Auseinandersetzung würde eine Entscheidung herbeiführen.
Gilbert Sarraux und Joao Nazario waren auf Tortuga in eine Felsenhöhle in der Nähe der „Schildkröte“ gesperrt worden. Carlos Rivero hatte die Wachen im vierstündigen Turnus eingeteilt und kontrollierte jede Ablösung genau. Hin und wieder sah er auch nach dem Bretonen und dem Portugiesen und überzeugte sich davon, ob ihre Fesseln noch straff genug saßen.
Sarraux und Nazario waren die Hände auf den Rücken gebunden, und auch ihre Fußknöchel wurden durch Stricke zusammengehalten. Vor dem Eingang der Höhle standen immer zwei Posten. Die beiden Gefangenen hatten nicht die geringste Chance, sich aus eigener Kraft zu befreien und zu fliehen.
Die ersten Stunden verbrachten sie in dumpfem Schweigen. Wut und Panik lösten sich in Nazarios Geist ab. Zunächst gab er seinem Kumpan die Schuld an dem Mißlingen der Mission, die ihnen zwanzig Piaster eingebracht hätte.
Sarraux indes brütete in dumpfer Niedergeschlagenheit und Verzweiflung vor sich hin. Er wußte keinen Rat mehr. Was sollten sie unternehmen? Es gab nichts zu tun, sie konnten nur abwarten, was weiter mit ihnen geschah.
Wieder fand eine Wachablösung statt, und erneut trat Carlos Rivero zu ihnen in die Höhle, um die Fesseln zu überprüfen. Er hatte kein Mitleid mit den Kerlen, denn er mußte immer wieder an das Mädchen Esther und an El Tiburon denken, der in seinen Augen ein aufrichtiger und mutiger Mann gewesen war und einen solchen Tod nicht verdient hatte.
Geld erzeugte Gier, sorgte für Blindheit und säte Haß, aber Sarraux und Nazario hätten sich von der Black Queen nicht derart verblenden lassen dürfen. Nur ein ausgesprochener Galgenstrick wurde für Gold und Silber zum Meuchelmörder.
Carlos Rivero verließ die Höhle, ohne ein Wort zu sprechen. Wieder verstrich die Zeit quälend langsam. Bald hielt Nazario es nicht länger aus. Er beugte sich zu dem Bretonen hinüber und zischte: „Wo bleibt deine Gerissenheit? Du hast doch sonst immer so gute Einfälle. Hol uns aus dem Schlamassel raus. Es ist deine Schuld, daß wir erwischt worden sind.“
„Nein. Du hast dich von dem Weibsbild Esther überlisten lassen. Vergiß das nicht.“
„Du hättest sie niederschlagen können.“
„Sie wäre zu sich gekommen und hätte geschrien.“
„Wir hätten sie verschleppen können.“
„Um was mit ihr anzufangen?“ raunte Sarraux. „Um sie nach Hispaniola zu bringen und dann doch zu töten? Tut mir leid, den Ballast wollte ich nicht am Bein haben. Im übrigen hat es keinen Sinn, daß wir uns gegenseitig Dreck an den Kopf werfen.“
Nazario sann eine Weile darüber nach, dann sagte er kaum vernehmbar: „Du hast recht. Aber ich will nicht sterben. Wir müssen hier raus, bevor der Seewolf eintrifft, bevor wir noch mal vernommen werden oder irgend jemand auf den Gedanken verfällt, uns kurzerhand am nächsten Baum aufzuknüpfen.“
„Vielleicht hat die Höhle einen zweiten Ausgang?“
„Damit ist nicht zu rechnen“, zischte Nazario. „Wir haben nur eine Chance: Flucht nach vorn.“
„Und die Fesseln?“
„Von denen müssen wir uns natürlich befreien. Eine Glasscherbe würde mir genügen.“
„Ich habe mit den Fingern alles abgesucht“, wisperte Sarraux. „Aber es gibt nicht mal einen spitzen Stein. Und die Posten? An die gelangen wir nicht auf einen Schritt heran, ohne daß sie’s merken.“
„Warten wir den nächsten Wachwechsel ab.“
„Und dann?“
„Sie müssen uns was zu essen und zu trinken bringen“, raunte der Portugiese. „Ich habe gehört, wie sie vorhin darüber geredet haben. Das nutzen wir aus. Wenn sie hier aufkreuzen und uns den Fraß vorsetzen, werfen wir uns auf sie.“
„Sie haben nicht nur Säbel, sie haben auch Pistolen und Musketen“, gab der Bretone zu bedenken.
„Warte ab“, flüsterte Nazario. „Es muß sich eine Gelegenheit ergeben. Wichtig ist, daß wir bereit sind, wenn es soweit ist.“
Einer der Posten vor dem Eingang der Höhle drehte sich zu ihnen um. „Ihr beiden – was habt ihr zu tuscheln?“
„Wir sprechen unsere letzte Beichte“, erwiderte Nazario höhnisch. „Habt ihr keinen Kaplan? Den könnten wir jetzt brauchen.“
„Ihr seid schon wieder ganz schön frech“, sagte der zweite Bewacher. „Wenn ihr nicht das Maul haltet, legen wir euch in Ketten, verstanden?“
„Verstanden“, brummte Nazario und bedeutete seinem Spießgesellen durch eine Kopfbewegung, daß es wirklich besser war, nicht mehr miteinander zu flüstern.
Die Gelegenheit, auf die Nazario und Sarraux warteten, bot sich tatsächlich beim nächsten Wachwechsel. Zwei Männer stiegen durch das Gebüsch zum Eingang der Höhle auf, einer von ihnen trug einen kleinen Essenkübel und einen Krug Wasser. Er war der grauhaarige Seemann aus Northumbria, der sich schon an der Suche nach den beiden Spionen beteiligt hatte und nun zu den Freiwilligen gehörte, die Carlos Rivero ihre Dienste angeboten hatten.
Der andere Mann war ein untersetzter, rotgesichtiger Spanier, der ständig Durst hatte. Allerdings trank er erstaunlicherweise nur ganz wenig Wein oder mit Wasser vermischten Wein. Meistens löschte er seinen Durst mit reinem Quellwasser, das auf Tortuga ausreichend vorhanden war. Er pflegte Gallonen davon die Kehle hinunterzustürzen, wie viele am Tag, wußte er selbst nicht.
Die beiden lösten die Wachtposten ab, die ihrerseits froh waren, nach vier Stunden Dienst in die „Schildkröte“ zurückzukehren und einen Umtrunk zu halten. Sie murmelten ein paar Grußworte und verschwanden im Dickicht.
„Also dann“, sagte der grauhaarige Engländer. „Ich bringe den Kerlen das Essen und Trinken rein.“
„Ich muß mal in die Büsche“, sagte der Spanier. „Warte solange.“
„Gut, aber beeil dich. Carlos und Willem Tomdijk wollen nachher erscheinen und die Kerle noch einmal verhören. Es wäre mir unangenehm, wenn sie in einem Moment auftauchen, in dem du gerade nicht auf deinem Posten bist.“ Der Engländer nahm seine Aufgabe sehr ernst.
Grinsend verschwand der Spanier. „Es dauert wirklich nicht lange“, sagte er noch, dann hörte der Engländer ihn nur noch im Gebüsch rascheln.
Es war Sarraux’ und Nazarios Chance, daß der Engländer hin und wieder einen Anflug von Zerstreutheit hatte. Einige Augenblicke verstrichen, dann betrat er mit dem Essenkübel, in dem eine Suppe schwappte, und dem Wasserkrug die Höhle – ohne die Rückkehr des Spaniers abzuwarten.
4.
Sarraux und Nazario hatten jedes Wort verstanden, das vor der Höhle gesprochen worden war. Es bedurfte nur noch eines einzigen Blickes. Sie tauschten ihn und waren sich einig: Jetzt oder nie! Versagten sie, war es aus und vorbei. Gelang ihnen die Überrumpelung des Engländers, zogen sie ihren Kopf aus der Schlinge, die sich bereits um ihre Kehlen zusammenzog.
Der Engländer trat auf sie zu, bückte sich und wollte ihre Näpfe mit der Suppe füllen. Er sprach kein Wort, sah die Gefangenen nur finster an. Mörder, dachte er, was seid ihr nur für Menschen, euch an einem wehrlosen Mädchen zu vergreifen?
Sarraux und Nazario hatten ihn fast genau zwischen sich – und das war der entscheidende Moment. Sarraux riß die Beine hoch, seine Füße trafen die Hände des Engländers. Die Kelle und ein Napf flogen hoch, und die Suppe klatschte dem Engländer ins Gesicht. Sie war nicht mehr sehr heiß, sein Schreck war größer als der Schmerz, den er verspürte. Er fuhr zusammen und griff zur Pistole.
Auch Nazario wurde aktiv, seine beiden Füße hieben gegen den Rücken des Mannes. Der Engländer stürzte vornüber und wurde dabei von dem Kübel und dem Krug behindert. Der Krug zerbrach, das Wasser floß über den Höhlenboden. Eine Scherbe bohrte sich in den Arm des Mannes, er stöhnte auf. Der Kübel wackelte, kippte aber nicht um.
Jetzt war es der Bretone, der wieder mit den Beinen und Füßen zuschlug. Der Engländer schlug mit der Stirn auf einen flachen Stein. Er gab keinen Laut mehr von sich, als er schlaff zusammensank und reglos liegenblieb.
Nazario war über ihm und drehte sich so, daß er ihm mit den Fingern das Messer aus der Scheide des Waffengurtes ziehen konnte. Sarraux rückte dicht zu ihm heran. Immer wieder warfen sie gehetzte Blicke zum Eingang der Höhle, während sie wie die Besessenen mit dem Messer an ihren Fesseln arbeiteten. Jeden Moment konnte der Spanier auftauchen. Er brauchte sie nur zusammenzuschießen, dann war der Fall für ihn erledigt.
Sarraux’ Handstricke lösten sich. Ein Ruck noch, und seine Finger waren frei. Er griff zu dem Messer, das der Kumpan ihm hingehalten hatte, und säbelte an dessen Fesseln herum. Sie sprangen auf. Hastig zerschnitten sie auch ihre Fuß stricke, rissen die Waffen des Engländers an sich und stürzten zum Ausgang.
Der Spanier kehrte leise vor sich hinpfeifend zur Höhle zurück.
„He, Engländer“, brummte er. „Du solltest doch auf mich warten.“
„Ja“, sagte Nazario und bemühte sich, die Stimme des Engländers so täuschend wie möglich nachzuahmen. Er kauerte an der linken Seite des Höhlenausgangs, Sarraux hatte sich an der rechten Seite postiert.
Der Spanier war heran und wollte einen Blick ins Innere der Grotte werfen, doch in diesem Moment traf ihn der Kolben der Muskete, die Nazario von dem Engländer erbeutet hatte. Der Schlag war entschlossen, hart und sicher geführt. Der Kolben knallte gegen den Kopf des Spaniers, und dieser sackte mit einem Ächzer, in dem sich Entsetzen und Verblüffung vereinten, zu Boden.
„Der schläft für eine Weile“, zischte Sarraux. „Los jetzt, nichts wie weg.“ Er kroch auf den Spanier zu, sah sich nach allen Seiten um und hob das Messer. Er hatte wirklich vor, auf ihn einzustechen, doch Nazario hielt ihn davon ab.
„Vorwärts“, raunte er ihm zu. „Wir dürfen keine Zeit verlieren. Bis die Hunde wieder bei Bewußtsein sind, haben wir uns längst verdrückt.“ Sie liefen geduckt zu den Büschen und waren im nächsten Augenblick darin untergetaucht.
Carlos Rivero konnte sich des Gefühls nicht erwehren, daß es noch mehr aus den auskunftsbereiten Gefangenen herauszuholen gab. Diese Vermutung ließ ihm keine Ruhe – und auch Willem Tomdijk erging es nicht anders. Früher als ursprünglich beabsichtigt, verließen sie die „Schildkröte“ und stiegen zu der Höhle hinauf, die als Verlies eingerichtet worden war.
„Fragen wir sie vor allen Dingen, was die Black Queen eigentlich in Punta Gorda sucht“, sagte Carlos. „Will sie Proviant und Munition? Ich nehme es mit Sicherheit an. Aber vielleicht versucht sie auch schon wieder, neue Männer für ihr Schiff zu rekrutieren.“
„Wenn ihre Crew wächst, wird sie wieder zu einer Gefahr für uns“, sagte der Dicke, der einige Schwierigkeiten hatte, mit dem Spanier Schritt zu halten. „Es wäre besser gewesen, wenn der Seewolf sie verfolgt und auf See gestellt hätte.“
„Das entspricht aber nicht den Prinzipien des Seewolfs“, sagte Carlos. „Einem Gegner, der ohnehin kapituliert und das Weite sucht, versetzt er nicht noch den Todesstoß.“
„Ein sehr guter und vor allem humaner Grundsatz“, sagte Willem keuchend. „Aber im Fall der Black Queen ist er nicht angebracht. Sie kämpft ja selbst auch nicht fair.“