Seewölfe Paket 23

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„Wenn wir fleißig aufsteigen, haben wir bis zum Abend eine Höhle erreicht. Wir müssen aus einer Schlucht aufsteigen und befinden uns dann unterhalb eines Felsenkammes, wo es eine gute Höhle gibt.“
„Dann nichts wie los.“
Etwas später begann der Aufstieg in die Berge. Wieder waren Pfade, eisige Höhen und gefährliche Wege zu überwinden.
Dieser Tag stimmte sie friedlich, erwartungsvoll, obwohl es nicht mehr zu erwarten gab als eine kalte Nacht. Aber trotzdem war heute alles anders – feierlicher, wie der Profos sagte.
Noch vor Einbruch der Dunkelheit, sie stiegen jetzt gerade aus der Schlucht auf, zeigte Pater Aloysius nach oben.
„Links neben dem Felskamm ist die Höhle.“
„Dann sind wir noch früher da, als wir gedacht haben.“
„Es wird gerade dunkel werden, bis wir oben sind.“
Sie stiegen jetzt etwas schneller auf. Ribault wunderte sich, daß ihn keine Kopfschmerzen mehr plagten. Er fühlte sich himmlisch wohl, wie er sagte.
Diesmal stand der Mond so hinter den Bergen, daß er nur einen schwachen Abglanz auf die Umgebung warf.
„Da ist die Höhle.“ Aloysius zeigte auf ein gähnend schwarzes Loch in der dunklen Felswand. „Ich werde aber erst einmal nachsehen, ob sich auch kein unliebsamer Besuch darin niedergelassen hat – wie vor ein paar Tagen.“
Carberry folgte ihm in die Höhle. Sie hatten inzwischen eine Fackel entzündet und leuchteten vorsichtig hinein.
Ed blickte noch einmal zu Diego, aber der stand ganz ruhig da und rührte sich kaum. Bisher hatte er immer rechtzeitig gewarnt, wenn etwas in der Nähe war.
Die Höhle war leer und verlassen. Sie sah aus, als wäre seit Jahrtausenden niemand hier gewesen.
„Dann bereiten wir uns einen gemütlichen Abend“, sagte der Padre, nachdem sie alles abgesucht hatten.
„Mit einem heiligen Wässerchen“, setzte Ed prompt hinzu.
Das Ritual nahm seinen Anfang. Die Höhle war so geräumig, daß auch die Mulis wieder Platz darin hatten und nicht im eisigen Zug des Windes stehen mußten.
Dann wurde eingeräumt, Decken ausgebreitet und gekocht.
Aloysius hatte einen feierlichen Blick drauf. Auch Pater David wirkte heute ganz anders als sonst. Die Männer waren gelöster, entspannter.
Nach dem Essen setzten sie sich in die Runde und genossen den lieblichen Duft des heißen Weines, der aus dem Kessel drang und die Höhle bis in den letzten Winkel erfüllte.
Aloysius verteilte ein paar Zinnbecher, nahm die Schöpfkelle und goß die Becher voll. Dann reichte er jedem das heiße Getränk.
Behaglich schlürfend hockten sie auf den weichen Unterlagen. Sie hoben die Becher und tranken sich zu.
„Friede sei mit euch“, sagte Pater David. „Wenn ihr mögt, dann zitiere ich die Weihnachtsgeschichte.“
„Natürlich wollen wir“, sagte der Profos. Er wirkte heute so friedfertig wie nur selten. Sein Gesicht war entspannt, und obwohl er seit ein paar Tagen nicht mehr rasiert war, schienen sich auch seine Bartstoppeln friedlich geglättet zu haben.
„Erzähle die Geschichte, Pater“, wurde er von allen Seiten ermuntert.
Hasard lehnte sich entspannt zurück und beobachtete seine Männer.
Eigenartig ist dieser Weihnachtszauber, dachte er. Die Kerle sehen alle so friedfertig und entspannt aus, als könnten sie kein Wässerchen trüben. Und der Profos, der andächtig und mit leuchtenden Augen dahockt, sieht aus wie ein Kind, obwohl er doch wirklich und wahrhaftig ein Rabauke und Poltermann ist.
Aber sie alle dachten in diesem feierlichen Augenblick auch an ihre Kameraden und fragten sich, was die jetzt wohl tun mochten. Auch an Fred Finley dachten sie, der mit gebrochenem Fuß bei den Indios in der Hütte lag.
Der Pater begann mit dem Erzählen der Weihnachtsgeschichte.
„Es begab sich also zu der Zeit, daß ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, daß alle Welt geschätzt würde.“
Bis auf seine Stimme war alles ruhig. Die Männer hörten gebannt zu, als der Pater mit seiner tiefen Stimme sprach. Sie kannten die Weihnachtsgeschichte alle, und doch war sie jedes Mal wieder neu und schlug sie in ihren Bann.
Eine ganze Weile ging das so. Da war der Pater an der Stelle angelangt, an der der Engel sprach: „Fürchtet euch nicht …“
Aus dem hinteren Teil der Höhle war ein leises Schnauben zu vernehmen, dann scharten Hufe, und dann folgte der unausbleibliche donnernde Knall, der den Männern durch Mark und Bein fuhr. Diego hatte wieder seine Drehbasse abgefeuert.
„Jetzt muß dieses Stinktier schon wieder anfangen“, sagte der Profos unwillig. „Dem verdammten Furzaffenarsch ist aber auch gar nichts heilig.“
„Er kennt die Geschichte eben noch nicht“, sagte der Pater trocken.
Das Halbeselchen, der verdammte „Furzaffenarsch“, wie Carberry ihn tituliert hatte, benahm sich aber auch weiterhin mehr als ungebührlich.
Er schnaubte empört, scharrte wütend mit den Vorderhufen und drängte sich an den Männern vorbei, als wolle er ins Freie. Dort donnerte er wieder weiter, wobei er den Achtersteven aus der Höhle streckte.
„Wenigstens hat er Anstand“, sagte Stenmark lachend.
„Da gibt es gar nichts zu grinsen“, knurrte der Profos. „Der Pater hat so schön vom Christuskind erzählt, und da muß dieser Trompeter ihn dauernd unterbrechen.“
„Laß ihn doch schnarchen“, schlug Dan vor. „Du kraulst ihn ein wenig unter dem Kinn, und schon pennt er ein. Dann haben wir wenigstens Ruhe.“
„Ein guter Vorschlag.“
Der Profos war jetzt echt sauer, aber Dan hatte recht. Wenn er Diego kraulte, dann gab das Biest vielleicht Ruhe.
Unwirsch stand er auf und verließ seinen Platz. Diego scharrte immer noch am Eingang mit den Vorderhufen, hob und senkte blitzschnell den Schädel und bleckte die Zähne, als Ed heran war.
„Laß bloß dein dämliches Grinsen, du Affenarsch“, sagte Ed. „Das paßt heute überhaupt nicht hierher.“
Er streckte die Hand aus, um Diego zu kraulen, doch der liebe Diego erwies sich als recht kratzbürstig und eigensinnig. Er drängte noch weiter in die kalte Nacht hinaus.
„Dir werde ich es schon zeigen.“
Carberry ging hinaus und packte den Zügel. Als er Diego zurückziehen wollte, warf er mehr zufällig einen Blick in östliche Richtung.
Da war leichter Flackerschein zu erkennen, der zweifellos von einem Feuer stammte.
Verblüfft stellte er fest, daß sie in der Einsamkeit der Berge nicht mehr allein waren. Der Profos stierte sich die Augen aus, konnte aber in der Ferne nur das leise Flackern sehen. Es schien auf und nieder zu hüpfen wie ein Elmsfeuer.
„Und das hast du bemerkt?“ fragte er ungläubig den Halbesel. Der nickte wieder – wie zur Bestätigung.
Sehr nachdenklich kehrte der Profos zurück. Pater David wollte gerade weiter zitieren, als Ed ihn unterbrach.
„Tut mir leid, Leute, aber da draußen ist etwas. Im Osten scheint ein Feuer zu flackern. Oder gibt’s Elmsfeuer auch in den Bergen?“
Hasard sprang auf die Beine, Dan O’Flynn ebenfalls. Auch die anderen standen auf.
„Elmsfeuer in den Bergen habe ich noch nicht gesehen“, sagte der Seewolf.
Der Profos lauschte wieder. Durch die klare Luft waren Töne zu hören, sehr dünn zwar, aber es klang wie Gesang.
„Da singen welche“, sagte er fassungslos. „Aber das hört sich nicht nach weihnachtlichem Gesang an, wie er dem heutigen Abend angemessen wäre. Nein, da grölen ein paar Kerle.“
Jetzt gingen sie alle zum Ausgang und blickten in die von Ed angegebene Richtung.
„Tatsächlich“, sagte Dan. „Da flackert ein Feuer. Aber man sieht nur den Widerschein an einer Felswand. Offenbar befindet sich dicht davor eine Mulde.“
Dann lauschten sie mit angehaltenem Atem in die Finsternis.
Ja, das war Grölen, aber kein Gesang. Ein paar Kerle sangen wüst durcheinander, ohne auf die Harmonie zu achten.
„Das muß ich mir ansehen“, sagte Hasard. „Du gehst mit, Ed, und Pater Aloysius auch, wenn er möchte.“
„Aber sicher doch. Ich hatte schon immer eine Schwäche für grölende Musikanten.“
Hasard, Carberry und der Pater pirschten los. Der Pater übernahm fast automatisch die Führung. Jetzt waren sie doch neugierig geworden und wollten sich das ansehen, was Diego als erster gewittert hatte.
Carberry klopfte seinem Maultier noch schnell den Hals.
„Braves Diegoleinchen“, sagte er anerkennend.
Etwa dreihundert Yards weit pirschten sie sich vorwärts. Dann blieben sie unter einer Felsennase stehen und sahen in eine tiefere Felsmulde.
Dort flackerte ein Feuer, dessen Schein von den Felswänden zurückgeworfen wurde. Auf und nieder hüpfte es, und verzerrte die Gestalten um das Feuer immer wieder ins Riesenhafte.
„Ich krieg mich nicht mehr ein“, flüsterte Ed, „das sind ja wieder mal liebe Dons. Und stockbesoffen sind sie auch noch.“
Es waren acht Soldaten, die um ein Feuer hockten. Sieben Maultiere hatten sie dabei, die nahe an einer Felswand standen.
„Sogar ein Capitán ist dabei“, sagte Hasard erstaunt.
„Und der säuft am meisten“, sagte Ed fast neidisch.
Die acht Spanier waren stark angetrunken. Sie reichten sich gegenseitig Weinflaschen zu und soffen, was das Zeug hielt. Wenn sie die Buddeln absetzten, fingen sie an zu grölen. Dem Text nach handelte es sich um reichlich zotige und unanständige Lieder, die sie da in die Nacht brüllten.
Neben den Maultieren standen längliche Holzkisten, die der Profos mit einem leisen Schauern musterte.
„Die haben Särge dabei“, sagte er leise, „da, neben den Mulis stehen sie an der Wand. Richtig unheimlich ist das.“
„Särge? Was sollten die hier wohl mit Särgen?“
„Weiß ich nicht. Vielleicht pennen sie darin, wegen der Kälte und so. Die Dons kriegen das fertig.“
Aloysius lächelte sparsam und schüttelte den Kopf.
„Das sind keine Särge. Ich kenne diese typischen Holzkisten und weiß, was sie enthalten. Silberbarren aus Potosi befinden sich darin, die Ausbeute aus dem Cerro Rico, unterwegs nach Arica. Empfänger, so der Herr im Himmel will, ein gewisser geldgieriger Philipp, seines Zeichens König von Spanien.“
„Damit ist der Himmel ganz bestimmt nicht einverstanden, sonst hätte er uns nicht geschickt“, sagte Hasard grimmig. „Der liebe Philipp wird wohl auf diese Ladung verzichten müssen.“
„Recht so“, knurrte Ed, „soll es ihn schmerzen. Diese Silberladung kriegt er nicht. Was meinst du, Bruder?“
Aloysius sagte nichts. Er stand nur da, beobachtete die saufenden Spanier und grinste über sein scharfes Piratengesicht.
„Zurück“, erklärte Hasard. „Sagen wir es den anderen. Und du bist ganz sicher, Padre, daß in den Kisten Silber ist?“
„Natürlich, ich weiß es genau. Sie haben immer einen Capitán dabei, weil die Ladung so wichtig ist.“
„Das werden wir ihnen versalzen.“
Sie warfen noch einen Blick in die Mulde. Der Capitán tönte groß herum und fing dann wieder an zu grölen. Die Weinflaschen gingen von einem zum anderen, die Kerle soffen weiter und sangen ihre unanständigen Lieder.
„Die werden bald nüchtern werden“, brummte Ed, „nämlich dann, wenn der Heilige Geist über sie kommt.“
In der Höhle wurden sie sofort von den anderen umringt. Hasard erzählte, was sie angetroffen hatten.
„Spanier“, sagte Dan andächtig, „und sie leiten einen Silbertransport. Ist doch herrlich.“
„Nehmt eure Entermesser“, sagte Hasard. „Die beiden Padres und Sten können in der Höhle bleiben. Dann steht es acht gegen acht.“
„Ich soll zurückbleiben?“ fragte Aloysius.
„Es ist besser so, Padre, glaube mir. Du sollst an einem Tag wie heute nicht dein Gewissen belasten müssen. Außerdem wären wir dann in der Überzahl, was unfair wäre.“
„Davon steht aber nichts in der Bibel“, knurrte Aloysius. Doch dann fügte er sich.
Als Hasard sah, daß alle Männer bewaffnet waren, nickte er ihnen kurz zu.
„Leise anpirschen, bis wir dicht vor der Mulde sind. Dann nichts wie mitten zwischen die Dons. Wir werden ihnen erklären, daß die Silberkisten beschlagnahmt seien.“
„Das wird sie aber mächtig jucken“, meinte Ed.
„Sie werden sich wehren, und dann geht es zur Sache.“
Sie verließen die Höhle und schlichen sich wieder an, bis sie die Mulde erreichten.
Die acht Dons soffen immer noch. Wenn eine Flasche leer war, feuerten sie sie unter lautem Gelächter gegen die Felswände oder warfen sie die Schlucht hinunter, die dreihundert Yards steil in die Tiefe führte.
„Vorwärts“, sagte Hasard.
Mit ein paar Sätzen sprangen sie in die Mulde, die Entermesser in den Fäusten.
Die Dons rissen fassungslos die Mäuler auf und starrten sie an, als seien sie soeben vom Himmel gefallen.
„Buschräuber“, lallte der Capitán, „Buschräuber mitten in den Bergen.“ Er konnte es nicht fassen und stierte immer noch.
Na ja, dachte Hasard, ein bißchen nach Buschräubern mochten sie ja aussehen mit den Bartstoppeln im Gesicht und der tiefbraunen Hautfarbe, dazu noch die Entermesser in den Fäusten.
„Die Silberkisten sind beschlagnahmt“, erklärte er kühl. „Oder haben die ehrenwerten Señores etwas dagegen? Wenn ja, dann müssen Sie schon etwas dafür tun, wie es sich für die Wächter eines so wertvollen Transportes gehört.“
Die Spanier glotzten immer noch verblüfft und fassungslos. Der Capitán stierte Hasard perplex an.
„Das Silber wollt ihr?“ schrie er dann.
„Genau das“, erklärte Hasard kalt.
„Hier habt ihr euer Silber, ihr Buschräuber!“
Der Capitán sprang auf und riß seinen Degen hervor. Die sieben Soldaten folgten seinem Beispiel. Zischend fuhr der Degen durch die Luft.
Hasard sprang zurück, um die Kerle aus der Mulde zu locken. Sie stürmten auch sofort brüllend hinterher.
Da langte Carberry schon zu. Ein wilder Hieb fegte einen Don von den Beinen, der sich zweimal überschlug und mit lautem Geschrei in dem tiefen Abgrund verschwand.
Inzwischen hatte Hasard den Capitán so weit vor sich her getrieben, daß er auch dicht vor dem Abgrund stand. Der Kerl fuchtelte wild mit dem Degen und stach immer wieder zu. Aber er kämpfte gegen einen Schatten, der immer wieder auswich.
Dann stürmte der Schatten vor. Im schwachen Mondlicht blitzte einmal der Stahl auf. Der Capitán fiel zurück und verschwand in dem finsteren Abgrund.
Die anderen räumten inzwischen ebenfalls auf. Ribault hatte seinen Gegner erledigt, von Hutten trieb einen anderen Don mit blanken Fäusten in die Finsternis, und dem nächsten fuhr Dans Messer ins Herz. Mel Ferrow, Gary Andrews und Matt Davies kämpften noch, aber dieser Kampf war schon bald entschieden.
Neben der Mulde lagen drei tote Spanier, die fünf anderen hatte die unergründliche Finsternis der Schlucht geschluckt.
„Werft sie in die Schlucht.“
Die Toten wurden in die Schlucht geworfen. Es dauerte lange, bis man das Aufschlagen ihrer Körper hörte. Dreihundert Yards ging es hier in die Tiefe.
„Was tun wir mit dem Silber?“ fragte Dan, „das sind immerhin vierzehn Kisten. Wollen wir die etwa nach Potosi schleppen, oder lassen wir sie hier zurück bis zu unserer Rückkehr?“
„Weder das eine noch das andere. Es geht mir nicht um das Silber“, sagte Hasard. „Es geht mir nur darum, daß die Dons sich nicht daran bereichern, um noch mächtiger zu werden. Für dieses Silber sind vielleicht eine Menge Indios gestorben. Werft den ganzen Krempel mitsamt den Kisten hinterher. Dort mag es bis zum Jüngsten Tag liegen bleiben. Es wird nie wieder einer nach oben holen.“
„Klar, was sollen wir auch damit“, sagte Ed. „Aber da sind noch die sieben Mulis.“
„Die nehmen wir selbstverständlich mit und auch alles das, was sie noch bei sich haben.“
„Hopp auf“, sagte der Profos, „hinunter mit den Särgen.“
Die erste Silberkiste wurde hochgehoben und in die Schlucht geworfen.
Als sie aufprallte, gab es einen berstenden Knall, ein Splittern und Krachen. Die Kiste flog auseinander und verstreute ihren kostbaren Inhalt nach allen Seiten.
Die nächsten Kisten folgten, krachend, zerberstend, laut polternd, als würden ganze Bergzüge einstürzen. Das Echo warf die Geräusche tausendfältig zurück.
Dann war die letzte Kiste an der Reihe. Ein unvorstellbares Vermögen donnerte in die Schlucht und ergoß sich über die toten Spanier.
Die Männer kehrten zurück und nickten den anderen zu. Die sieben Maultiere hatten sie mitgebracht.
„Ich glaube, wir können jetzt doch noch die Weihnachtsgeschichte hören“, sagte Hasard. „Jetzt herrscht hier wieder Ruhe.“
„Und vergiß des heiligen Vaters Öl nicht, Bruder“, sagte Ed. „Du hast es schließlich versprochen.“
„Ich werde daran denken.“
In dieser Nacht saßen sie noch lange beisammen, tranken den würzigen heißen Wein und genossen des heiligen Vaters Öl, das der Pater großzügig spendierte.
Am Morgen brachen sie kurz nach Tagesanbruch auf und warfen einen Blick in die Schlucht. Dort funkelte und gleißte es. Geprägtes und ungeprägtes Silber war nach allen Richtungen verstreut. Es bedeckte die Körper der Männer, die da unten lagen und vermutlich ewig dort unten liegen würden.
Am 27. Dezember war ihr Zielort erreicht. Da stand die Truppe vor Potosi und kampierte in einem verlassenen Stollen auf der Südseite des Cerro Rico.
Die Stadt war von hier aus noch nicht einzusehen, aber sie hatten den Berg erreicht, in dem Blut und Tränen flossen und das Wimmern und Stöhnen der Sklaven zum Alltag gehörte …
ENDE

1.
Potosi, 28. Dezember 1594.
An die dreizehntausend Fuß hoch liegt die Stadt, an deren Südrand der „Cerro Rico“ aufragt, der reiche Berg, der Silberberg, der „Sumack Orcko“, wie ihn die Inkas genannt hatten. Über den Dächern der Stadt erhebt er sich wie ein Kegel – noch einmal an die über zweitausend Fuß hoch.
Die Sage berichtet, daß die Inkas den „Sumack Orcko“ unberührt gelassen hätten. Eine Stimme aus dem Berg soll ihnen befohlen haben, seinen Reichtum nicht anzurühren, das Silber sei für andere Besitzer bestimmt.
Die Sage berichtet viel – so von dem Indio aus Porco, südwestlich von Potosi, der bereits zur Zeit der Spanier in eine Höhle des Berges gekrochen wäre, um sich dort vor der Kälte der Nacht zu schützen. Die Hitze seiner Fackel, die er in den Felsen gesteckt hatte, um Licht und Wärme zu haben, hätte das Silber im Fels zum Schmelzen gebracht. Und Tage später hätte dieser Indio seinem spanischen Patrón in Porco von seinem erstaunlichen Fund berichtet.
Eine andere Sage wiederum erzählt, im Jahre 1545 hätte ein indianischer Hirte ein Lama am Hang des Berges verfolgt und sich beim Aufsteigen an dem niedrigen Gestrüpp festgehalten. Das aber wäre aus dem Erdreich gerissen worden, und an den Wurzeln hätten helle Kügelchen gehaftet – Silber!
Ob nun der Indio aus Porco oder der Hirte – beide zu den Ärmsten der Armen zählend – die Entdecker waren, spielte keine Rolle mehr. Das Geheimnis sickerte durch, und die Geier waren zur Stelle, menschliche Geier, in diesem Falle jene, die diesen Teil der Neuen Welt für sich beanspruchten und ausbeuteten oder – um im Bilde zu bleiben – bis auf die Knochen abnagten.
Später sagte man vom Cerro Rico, er sei der Berg mit den dreißigtausend Löchern. Man hätte aber auch sagen können, er sei der Berg Tausender an Hunger, Durst oder Erschöpfung krepierter Indios – so sie nicht von zusammenbrechenden Stollen verschüttet oder von ihren Aufsehern wegen „Faulheit“ erschlagen wurden. Die Geschichte berichtet, die Zahl dieser Toten sei mit Sicherheit fünfstellig.
Die Geschichte berichtet auch, Philipps II. Vater – Karl V. – hätte die 1546 gegründete Stadt Potosi bereits 1547 zur „Villa Imperial“, zur kaiserlichen Stadt, erhoben. Kein Wunder, denn vom Zeitpunkt der Gründung an begann aus dem Berg das Silber zu fließen – natürlich nach Spanien, falls nicht Schnapphähne zupackten und den Silberstrom ein bißchen unterbrachen.
Und die Stadt florierte. Sie mästete sich – es blieb ja genug Silber in der Stadt an klebrigen Fingern hängen. Innerhalb kürzester Zeit entstand am Fuß des mörderischen Berges eine Stadt, in der Pomp, Prunk und Verschwendung beispiellos waren. Kirchen, Klöster, Paläste und Villen wurden gebaut, Wasser wurde meilenweit herangeleitet, man badete in Thermalquellen, und die Chronik berichtet, sogar das Nachtgeschirr der Spanier sei aus Silber getrieben gewesen.
Die Stadt fühlte sich sicher. Die Küste im Westen war über dreihundert Meilen entfernt. Wer von dort nach Potosi aufbrechen wollte, mußte sich darüber klar sein, auf was er sich einließ. Vielleicht nahm er Maultiere mit, um sich weite Strecken tragen zu lassen. Er brauchte sie auf jeden Fall, um nicht selbst sein Gepäck, Proviant und Ausrüstung schleppen zu müssen. Er würde schwindelerregende Pässe und Gletscher übersteigen, sich über schmale Felspfade bewegen oder in eiskalte Schluchten hinunterklettern. Er mußte reißende Bergbäche durchqueren oder sich über schaukelnde Hängebrücken tasten.
Er würde in den menschenfeindlichen Höhen frieren und zugleich von der Sonne erbarmungslos verbrannt werden, wenn er nicht Kopf, Gesicht und Hände schützte. Er würde die Sonne tagsüber verfluchen und in den eisigen Nächten herbeiwünschen. Und er würde, je höher er stieg, einen unsichtbaren Feind haben, die berüchtigte Soroche, die Höhenkrankheit, die ihn mit Kopfschmerzen, Übelkeit, fliegendem Puls und Atemnot quälen würde.
Nein, für Buschklepper und Galgenvögel war Potosi kein Ziel. Sie wollten es bequemer haben und ihre Fußsohlen schonen. Potosi lag für sie auf einem anderen Stern. Wer nach dorthin aufbrach, mußte verrückt sein, ganz abgesehen davon, daß man ja auch zurückkehren wollte – mit Beute beladen. Nein, das war alles viel zu mühsam, zu gefahrvoll und zu unsicher.
Kein Provinzgouverneur, kein Bürgermeister, kein Polizeipräfekt, kein Bürger von Potosi rechnete jemals damit, jemand könne so wahnwitzig sein und über die „Villa Imperial“ herfallen.
Und doch war es so.
Elf verwegene Männer hatten nach einem mörderischen Marsch die Stadt erreicht und waren entschlossen, hier die Kuh fliegen zu lassen.
Anfang Oktober waren die Arwenacks und die Le Vengeurs von der Schlangen-Insel in der östlichen Karibik aufgebrochen, und jetzt, Ende Dezember, hatten von den einundfünfzig Teilnehmern an diesem einzigartigen Unternehmen elf Männer das Ziel erreicht, ein ausgesuchter Trupp unter Führung Philip Hasard Killigrews.
Es waren Jean Ribault, Karl von Hutten, Pater David, Pater Aloysius, Dan O’Flynn, Edwin Carberry, Matt Davies, Gary Andrews, Stenmark und Mel Ferrow. Fred Finley war nicht dabei – er lag mit gebrochenem Fußknöchel bei einer Indiofamilie am Westrand der Puna.
Die Nacht vom 27. auf den 28. Dezember hatten die Männer in einem verlassenen Stollen auf der Südseite des Silberberges verbracht und dort biwakiert. Es war ein feiner Platz: er lag geschützt und bot Wärme. Sie hatten gewissermaßen ein Dach über dem Kopf – ein Silberdach.
Ein bißchen verrückt war das schon, wenn man das so betrachtete und das Spinnen anfing. Carberry zum Beispiel hatte gesagt, so ein teures Dach hätte er noch nie über dem Kopf gehabt, und wenn er das seinen Enkeln erzählte, würden die ihn auslachen oder glattweg erklären, der Opa Edwin sei ein ganz fürchterlicher Aufschneider.
In dieser Nacht nun hatte er davon geträumt, ganz in Silber gebettet zu sein. Gegen Morgen hatte ihn der Traum in ein Bad entführt, dem er versilbert entstiegen war.
Matt Davies konnte das nicht wissen, als er dem Profos den Ellbogen in die Rippen stieß, weil der so entsetzlich schnaufte und röchelte.
Matt Davies wiederum war aufgewacht – als erster übrigens –, weil ihn nicht Carberrys Schnaufen und Röcheln beunruhigt hatten, sondern weil etwas anderes an seine Ohren gedrungen war – Geräusche, die er nicht zu deuten wußte. Sie kamen nicht von draußen, sondern aus dem Berg: ein dumpfes Schlagen oder Pochen, eine Art Scharren, auch ein Knistern und Rumpeln. Unheimlich war das anzuhören. Und darum hatte er den Profos geweckt, der neben ihm lag.
Carberry grunzte, dann fuhr er hoch und stierte Matt Davies aus verdwarsten Augen an.