Seewölfe Paket 23

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Pater Aloysius steuerte auf die Kathedrale zu.
„Nanu!“ sagte Hasard etwas verwundert. „Willst du Zwiesprache mit dem Herrn halten, Bruder?“
Der Pater lächelte. „Das nicht – und dazu ist mir das Gotteshaus dort zu pompös. Nein, wir werden Pater Augustin aufsuchen, einen Bruder meines Ordens. Er hat das Ohr am Puls der Stadt. Im übrigen ist er ein erbitterter Gegner der ‚Encomienda‘. Du weißt, was das ist?“
„Nur ungefähr.“
Pater Aloysius sagte: „Es ist ein System, das den Spaniern in der Neuen Welt aufgrund eines königlichen Dekrets das Recht verleiht, Indianer als Zwangsarbeiter zu rekrutieren, ohne daß diese für ihre Arbeitsleistungen entlohnt zu werden brauchen. Praktisch hat das zur Ausbeutung der Indianer geführt – und zu ihrer Ausrottung.“
„Und was tut dieser Pater Augustin gegen das System?“ fragte Hasard.
Pater Aloysius seufzte. „Er kann nicht viel tun. Er hat Kontakte zu den Indios im Berg – frag mich nicht, auf welche Weise. Ich weiß es nicht, und es ist auch gefährlich, etwas zu wissen. Aber er schmuggelt heimlich Lebensmittel in den Berg und hat ein paarmal flüchtige Indios verstecken können, die ausgebrochen waren. Er versucht, die Situation der Ärmsten im Berg zu verbessern. Nun, es ist ein Tropfen auf den heißen Stein, aber besser, als die Hände in den Schoß zu legen.“
Hasard schwieg. Er dachte nur, daß es zu wenige waren, die sich gegen dieses mörderische menschenverachtende System stemmten.
Sie fanden den Pater in einem Nebenraum der Kathedrale, wo er an einem Stehpult stand, einen Folianten vor sich, in den er mit einem Schreibkiel etwas eintrug.
Er war ein schwerer, kräftiger Mann mit einem starken Nacken, einem kantigen Gesicht und einem harten Kinn. Aber in seinen braunen Augen schimmerte Wärme. Und jetzt leuchteten sie auf, als er Pater Aloysius erkannte.
„Bruder Aloysius!“ rief er aus. „Was für eine Freude!“
Sie umarmten sich und klopften sich auf die Schultern. Dann deutete Pater Aloysius auf Hasard und sagte nur: „Ein Freund unserer Brüder im Tacna-Tal, wo er verhinderte, daß Pater Franciscus zu Tode gemartert wurde.“
Das Gesicht Pater Augustins wurde hart, und er trat einen Schritt zurück.
„Was sagst du da, Bruder?“ fragte er.
Pater Aloysius erwiderte: „Ein Trupp Soldaten aus Arica erschien im Tacna-Tal. Unsere Indios, meine Brüder und ich verschwanden in unseren Verstecken. Pater Franciscus trat ihnen entgegen. Ein Teniente erklärte ihn für verhaftet – die Gründe waren an den Haaren herbeigezogen. Es war eindeutig eine gezielte Aktion – höre gut zu, Bruder –, eine gezielte Aktion zur Beschaffung von Arbeitskräften für euren Berg. Sie scheuen sich nicht, sich jetzt auch an uns zu vergreifen, zumal wir ihnen ja als Freunde der Indios bekannt sind. Sie verwüsteten unsere Felder, zerschlugen unsere Werkstätten, Schuppen und Scheunen, demolierten unsere Unterkünfte und brachen in unsere Kapelle ein, wo sie uns vermuteten. Die Kapelle wurde geschändet. Weil sie uns nicht fanden, begannen sie, Pater Franciscus zu foltern, um von ihm zu erpressen, wo wir seien. Das war der Zeitpunkt, an dem unser Freund hier eingriff.“
Pater Augustin starrte Hasard an. „Sie allein, Fremder?“
Hasard schüttelte lächelnd den Kopf und sagte: „Ich tötete nur den Teniente in einem Duell mit Blankwaffen. Meine Männer nahmen sich die Soldatenhorde vor. Aus bestimmten Gründen durfte es keine Überlebenden geben. Wir haben später auch die drei Hängebrücken zwischen dem Tacna-Tal und Arica zerstört und dabei einen zweiten Trupp vernichtet, der ebenfalls nach Tacna unterwegs war, um Zwangsrekrutierungen durchzuführen. Verzeihen Sie, wenn ich mich nicht vorstelle. Es ist besser, Sie kennen meinen Namen nicht. Aber ich bin Kapitän und habe etwas dagegen, daß Menschen versklavt werden und sich ein Land das Recht herausnimmt, diesen Teil der Welt auszuplündern. Genügt das?“
„Ich verstehe.“ Der Pater blickte in die eisblauen Augen dieses schwarzhaarigen, bärtigen Riesen und dachte: Mein Gott, er kämpft – und wir beten nur.
In seine Gedanken hinein sagte Hasard: „Noch etwas sollen Sie erfahren, Pater Augustin. Ein gewisser Luis Carrero befindet sich als Gefangener an Bord meines Schiffes. Wir erwischten ihn, als er an der peruanischen Küste Indios rekrutierte – auf die übliche üble Art. Insofern bin ich orientiert über das, was sich hier abspielt.“ Hasard lächelte sanft in das verblüffte Gesicht des Paters. „Vielleicht hat mich Bruder Aloysius aus gewissen und verschiedenen Gründen in diese Stadt geführt.“
„Sie – Sie haben dieses Schwein von Oberaufseher in Ihrer Gewalt?“ fragte der Pater, und es war ihm anzumerken, daß er dem Herrn im Himmel ein herzliches Dankeschön für die frohe Botschaft zusandte.
Hasard nickte und erwiderte grimmig: „Was wir mit ihm anstellen werden, weiß ich noch nicht. Aber eins kann ich Ihnen versichern: nach Potosi wird er nicht zurückkehren.“
„Das ist eine gute Nachricht“, sagte Pater Augustin, „und sie wiegt das Betrübliche auf, das Bruder Aloysius berichtete.“ Er runzelte die breite Stirn, die von tiefen Falten gekerbt war. „Jetzt wird vieles verständlich. Ja, wir wissen, daß der Provinzgouverneur neue Rekrutierungsmaßnahmen getroffen hat. In der ganzen Stadt wird davon gesprochen. Der Silberabbau hat sich rapide vermindert – weil es an Arbeitskräften mangelt. Wir haben Don Ramón empfohlen, die Indios menschlicher zu behandeln und dafür zu sorgen, daß sie nicht wie bisher durch Unterernährung, barbarische Züchtigungen, Krankheiten oder maßlos überhöhte Sollerfüllungen wegsterben.“
„Und?“ fragte Pater Aloysius knapp.
„Wir stießen auf taube Ohren“, sagte Pater Augustin erbittert. „Ja, er reagierte geradezu entrüstet, als hätten wir ihn persönlich beleidigt.“ Er kniff die Augen zusammen. „Jetzt bekommt alles Gewicht: er drohte uns! Wir sollten uns nicht um Dinge kümmern, die uns nichts angingen. Sonst sähe er sich gezwungen, andere Saiten aufzuziehen und dafür zu sorgen, uns einer nützlichen Beschäftigung zuzuführen.“
„Klar“, sagte Pater Aloysius fast grob, „im Silberberg, wo denn sonst? Habt ihr das nicht kapiert?“
„Nein.“ Das klang gepreßt. „Wir haben nie für möglich gehalten, daß er soweit gehen würde.“ Und fast trotzig fügte Pater Augustin hinzu: „Alle Macht geht vom König aus, aber auch die Kirche ist eine Macht.“
„Ah ja“, sagte Pater Aloysius höhnisch. „Und wo ist sie, diese Macht unserer Kirche? Ich finde sie nirgends. Kannst du sie mir mal zeigen, Bruder? Aber die Macht des Königs sorgte dafür, daß der Altar unserer Kapelle im Tacna-Tal zerstört wurde. Das Kruzifix wurde zertrümmert. Ohne das Eingreifen unseres Freundes hätten wir einen neuen Märtyrer gehabt – Pater Franciscus. Er hätte sich eher die Zunge abgebissen, als zu verraten, wo wir uns versteckt hatten.“
„Du bist erregt, Bruder“, sagte Pater Augustin.
„Erregt?“ schnappte Pater Aloysius. „Zornig bin ich, weil diese Teufel tun, was ihnen paßt, und niemand stellt sich ihnen entgegen. Du sagtest eben selbst, er habe euch gedroht, dieser Fettwanst, der sich Gouverneur nennt. Habt ihr diese Drohungen zurückgewiesen? Habt ihr ihn mit dem Kirchenbann belegt? Darf er diese Kirche noch betreten? Habt ihr seine Drohungen von der Kanzel herab angeprangert?“
„Du weißt, daß nur der Bischof in Lima solche Strafen verhängen kann, Bruder“, sagte Pater Augustin verbissen. „Und Lima ist weit.“
„Es wird noch weiter von euch weg sein“, sagte Pater Aloysius, „wenn auch ihr im Berg gelandet seid, um ‚einer nützlichen Beschäftigung‘ nachzugehen.“
Hasard räusperte sich, und er sagte zu Pater Aloysius: „Vorwürfe führen jetzt zu nichts, Bruder. Du verlangst eine kämpferische Kirche, was im Widerspruch zu ihrem Auftrag steht, überall Frieden zu verkünden. Wir wollen das hier nicht erörtern. Mich interessiert etwas anderes.“ Er blickte zu Pater Augustin. „Hat Don Ramón, der Provinzgouverneur, hier in Potosi irgendwelche Feinde, die nur darauf lauern, ihn ausbooten zu können, um selbst Machtpositionen zu besetzen?“
Pater Augustin schüttelte den Kopf. „Er sitzt fest im Sattel. Es gibt niemanden, der ihn aus seinem Amt als Provinzgouverneur verdrängen könnte. Nur der König beziehungsweise der Vizekönig in Lima ernennt ihn oder setzt ihn ab. Es ist ein Amt von des Königs Gnaden.“
„Das ist mir schon klar“, sagte Hasard. „Ich dachte nur bei meiner Frage an etwas anderes.“
„Und das wäre?“ fragte Pater Augustin.
Hasard sagte geradeheraus: „Was geschieht zum Beispiel, wenn jemand den Provinzgouverneur ausschaltet, indem er ihn als Geisel gefangensetzt? Gilt dann seine Befehlsgewalt immer noch, oder geht sie möglicherweise auf einen Vertreter über, der auf sein Leben keine Rücksicht zu nehmen braucht und daher auch seine Befehle ignorieren kann?“
Pater Augustin starrte Hasard an, als habe der den Verstand verloren. Pater Aloysius indessen hatte bereits begriffen und begann breit zu grinsen.
In den letzten Wochen hatte er mit diesem Kanonensohn und seinen harten Kerlen ja schon allerlei erlebt. Die kamen zur Sache, ohne lange zu fackeln. Was der schwarzhaarige Riese mit den eisblauen Augen jetzt jedoch plante, das war an Verwegenheit kaum zu überbieten – und müßte Erfolg haben, vorausgesetzt, die Señores der Exekutive wie Stadtkommandant, Offiziere, Polizeipräfekt oder Bürgermeister zitterten um das Leben des ehrenwerten Don Ramón und unternahmen nichts, um es zu gefährden.
Weil der Bruder Aloysius so infam grinste, begann es bei Pater Augustin zu dämmern. Heilige Mutter Gottes! Sollte es dieser bärtige Riese mit dem verwegenen und doch so sympathischen Gesicht wagen, das auszuführen, was er eben angedeutet hatte?
„Ungeheuerlich“, murmelte Pater Augustin, „unvorstellbar.“ Er blickte zu dem grinsenden Pater Aloysius und dann wieder zu dem Riesen, der eine undurchdringliche Miene aufgesetzt hatte, aber ihn aufmerksam musterte. Pater Augustin hüstelte. „Entschuldigung, ich bin etwas verwirrt. Eine – eine Geiselnahme dieser – äh – Person ist so unvorstellbar, daß man sie hier nie ins Kalkül gezogen hat, um sich mögliche Gegenreaktionen auszudenken. Insofern lautet meine Antwort auf Ihre Frage, daß niemand in Potosi wagen wird, das kostbare Leben dieser Person in Gefahr zu bringen.“
„Er wird als Geisel weiter befehlen können?“ fragte Hasard.
„Das wird er.“ Pater Augustin nickte. „Davon bin ich überzeugt. Aber was bezwecken Sie mit einer solchen Geiselnahme, Señor? Entschuldigen Sie, wenn ich das frage.“
„Oh, ich verfolge dabei mehrere Ziele, die aber alle darauf hinauslaufen, den Silberabbau in der Mine zumindest für einige Zeit außer Betrieb zu setzen.“
In den braunen Augen Pater Augustins blitzte es auf. „Das höre ich gern. Aber es wird sehr sehr schwer, ja, nahezu unmöglich sein, diese Person gefangenzunehmen, Sie wird ständig von einer Leibwache begleitet, und das sind harte Burschen, die ohne viel zu fragen sofort schießen oder zuschlagen, sollte ihr Schützling in irgendeiner Weise bedrängt werden. Sie erhalten dafür einen Privatsold aus der Schatulle des hohen Herrn und stehen sich damit besser als ein Capitán der spanischen Armee.“
„Wie stark ist diese Leibwache?“ fragte Hasard.
„Vier Soldaten unter der Führung eines Teniente“, erwiderte Pater Augustin.
Nicht sehr aufregend, dachte Hasard und fragte: „Dieser Teniente – ist das ein dürrer Mensch mit einem Ziegenbart?“
„Ja, das ist er“, sagte der Pater, „Teniente Manuel de Olivella, ein dummer Laffe, der sich als Kommandant der Leibwache des hohen Herrn für den Nabel der Welt hält und eben wegen seiner Dummheit gefährlich ist.“
„Das haben wir schon gemerkt“, sagte Hasard lächelnd und dachte an den dürren Gockel, dem sie erklärt hatten, sie befänden sich auf der Pilgerfahrt nach Jerusalem. Als „hart“ mochte er diesen Burschen nicht einschätzen. Aber Dummheit – da hatte der Pater recht – war etwas Gefährliches. Hasard verneigte sich leicht. „Vielen Dank für die Informationen, Pater Augustin. Wenn alles so klappt, wie ich mir das vorstelle, wird die absolute Herrschaft der Person, von der wir sprechen, einen erheblichen Stoß erhalten.“
„Gott möge Ihnen beistehen“, sagte Pater Augustin.
Sie verabschiedeten sich und kehrten auf Umwegen zur Südseite des Silberberges zurück.
3.
Hasard berichtete in dem Stollen von ihrem Stadtbesuch und was er von Pater Augustin erfahren hatte. Zum Schluß sagte er: „Ich habe die Absicht, den ehrenwerten Don Ramón zu schnappen und als Geisel zu benutzen. Meiner Meinung nach ist er ein feiger Mann, das heißt, er wird tun, was ich ihm befehle. Mit den vier Leibwächtern und dem Teniente sollten wir fertig werden – fragt sich nur, wo und wann wir zuschlagen.“
„Kein Problem“, sagte Pater Aloysius voller Heiterkeit. „Nordwestlich von Potosi liegen die warmen Quellen von Miraflores. Dort hat sich der Fettwanst an einem Thermalbad ein luxuriöses Landhaus errichten lassen, das er täglich aufsucht. Teilweise verbringt er dort auch seine Nächte – mit hübschen Indiomädchen, die er für Liebesdienste mißbraucht. In diesem Landhaus könnten wir ihn festsetzen.“
„Wie weit ist es von Potosi entfernt?“ fragte Hasard.
„An die zwölf Meilen, Bruder Hasard.“
Hasard schüttelte den Kopf. „Das ist zu weit weg von der Stadt, denn sie wird es sein, der ich Forderungen stellen werde – über Don Ramón als Sprachrohr. In dem Landhaus sind wir zu weit ab vom Schuß. Aber wir können über ihn herfallen, wenn er in seiner Sänfte zu diesem Landhaus gebracht wird. Dann schleppen wir ihn hierher und zwiebeln ihn ein bißchen, um ihn als unser Sprachrohr auf seine Rolle einzustimmen …“
„Schlage mich als Einstimmer vor, Sir“, sagte Carberry sofort. „Du weißt, daß ich auch den Hundesohn Luis Carrero bestens eingestimmt habe, nicht wahr? Wenn er mich sah, wurde er immer grün in seiner schönen Visage, so grün wie – wie …“
„… Kuhkacke“, ergänzte Dan O’Flynn. Und die Männer einschließlich des Paters Aloysius grinsten.
„Mister O’Flynn“, sagte der Profos mit Würde. „Das sind nicht meine Worte. Ich meinte, so grün wie Gras.“
„Ist ja auch Gras, was die Kuh verdaut“, entgegnete Dan.
„Das ist durchaus richtig, Mister O’Flynn“, erklärte der Profos. „Es muß also heißen, der Hundesohn Luis Carrero wurde so grün wie das von der Kuh verdaute Gras.“
„Kuhkacke klingt besser“, sagte Dan ungerührt. „Das mußt du zugeben, Mister Carberry.“
Der Profos schnaufte verächtlich. „Das ist Vulgärsprache, Mister O’Flynn. Sie ziemt sich nicht …“
Carberry wurde wieder unterbrochen. Aus dem Nebenstollen, wo die Maultiere standen, ertönte ein eindeutiges Geräusch – donnernd und kurz darauf auch riechend.
„Dein Diegolein“, sagte Dan O’Flynn, „in der Vulgärsprache, die sich nicht ziemt. Manchmal frage ich mich wirklich, wie merkwürdig es ist, daß es immer deine Tiere sind, die sich so unflätig äußern.“
„Deine Tiere?“ Der Profos hatte den Kopf vorgeschoben und lauerte. „Was soll das denn heißen?“
„Ich denke da an Sir John, mein lieber Mister Carberry“, erwiderte Dan O’Flynn.
Edwin Carberry, Profos der Arwenack-Crew, schwoll an und pumpte sich voll Luft wie eine Schweinsblase.
„Ich …“, begann er.
Hasard sagte sanft: „Ed, unser Thema hatten wir auf die Gefangennahme des Don Ramón abgesteckt, und ich habe nichts dagegen, daß du ihn auf deine bewährte Art ein bißchen einstimmst, aber nicht mit den Fäusten …“
„Völlig richtig, Sir“, unterbrach ihn Carberry, „völlig richtig. Ich werde dem feisten Rübenschwein nur erzählen, wie ich mit dem Hundesohn unsere Decks aufgewischt habe und daß unsere liebe Plymmie nach seiner Kehle gelechzt hätte. Wäre das was?“
„Etwa so“, erwiderte Hasard lächelnd.
„Alles klar, Sir“, sagte Carberry und schoß einen wilden Blick auf Dan O’Flynn ab. „Und du Kuhkacker wirst nie ein Gentleman!“
„Hab ja auch noch Zeit“, sagte Dan O’Flynn freundlich.
Hasard sagte gelassen: „Ich habe nichts dagegen, daß ihr euer Thema weiterspinnt, wenn wir anderen aufgebrochen sind, um den Dicken zu schnappen. Oder wolltet ihr mit dabeisein?“
„Natürlich muß ich dabeisein“, brummte der Profos.
„Ich auch“, erklärte Dan O’Flynn.
„Das freut mich“, sagte Hasard. „Also weiter. Frage an Pater Aloysius: Du kennst den Weg zu den Thermalquellen – ist das Gelände für einen Überfall geeignet?“
„Es könnte besser nicht sein“, sagte Pater Aloysius. „Und du hast recht, Bruder Hasard. Miraflores liegt für unsere Zwecke zu weit entfernt von Potosi, ganz abgesehen davon, daß das Landhaus Diener, Lakaien und weitere Bewacher beherbergt, die unter Kontrolle gebracht werden müßten. Nein, da ist es richtiger, den Kerl auf dem Weg zum Landhaus zu packen, zumal er da nur von den vier Soldaten und dem Teniente bewacht wird.“
„Gut“, sagte Hasard, „dann schlage ich vor, daß wir sofort aufbrechen. Allerdings brauchen wir einen Freiwilligen, der hierbleibt, um auf unsere Maultiere aufzupassen. Sie müssen ja auch versorgt werden.“ Hasard blickte in die Runde der Männer, die um ihn herumsaß. „Gibt’s einen Freiwilligen?“
Pater David hob den rechten Arm, grinste ein bißchen und sagte: „Wenn Mister Carberry nichts dagegen hat, daß ich auch seinen Diego versorge.“
„Genehmigt, Bruder David“, sagte Carberry sehr großzügig. „Aber du weißt, daß er seine Launen hat, was, wie?“
„Haben wir Menschen die nicht auch?“ fragte der Pater zurück.
„Hm-hm“, brummte der Profos und warf Dan O’Flynn einen schiefen Blick zu. „Du sagst es, Bruder David, und ich bemühe mich ständig, sanft wie ein Reh zu sein und die Vulgärsprache zu vermeiden, die manche Affenärsche als übellaunig auffassen. Dabei ist es nur der Herr, der in mich fährt und mir befiehlt, gewisse Kuhkacker in die Schranken zu weisen.“
„Du lieber Gott“, murmelte Dan O’Flynn und blickte zur Stollendecke hoch.
„In Ordnung“, sagte Hasard energisch, bevor der Profos und Dan O’Flynn erneut das Thema der Vulgärsprache zu erörtern begannen. „Pater David sei gedankt, daß er freiwillig hierbleibt. Nehmt etwas Proviant mit, Männer, und eure Waffen.“ Er grinste zu Jean Ribault hinüber. „Du siehst, Jean, mit der Ruhe ist es bereits vorbei.“
„Hab’s begriffen, Sir“, erwiderte der schlanke Franzose und grinste ebenfalls. „Du hattest wohl doch was auf der Pfanne.“
„Noch mehr, mein Freund“, sagte Hasard. „Wir werden uns über Langeweile nicht zu beklagen haben.“
Der Kontrast zwischen Potosi und der Bergwelt ringsum war nahezu greifbar – hier quirlendes, lautes Leben, dort schweigende Einsamkeit; hier einmalige Prunkbauten, von Menschenhand geschaffen, dort karge Felsen, zum Teil von bizarren Formen, entstanden in einer Zeit, die man die Schöpfungsgeschichte nennt.
Der Trupp unter Führung von Pater Aloysius bezog am frühen Nachmittag eine Lauerstellung in einer kleinen Schlucht, durch die der Weg nach Miraflores zu den Thermalbädern verlief. Sie waren in einem Bogen – Potosi östlich lassend – nach Nordwesten marschiert. Niemand war ihnen begegnet. Man hätte meinen können, es gäbe kein Potosi.
Die Schlucht verlief von Südosten nach Nordwesten. Felsen vulkanischen Ursprungs begrenzten die beiden Seiten, etwa hundert Fuß hoch, zum Teil nackt oder von Flechten und Moosen bewachsen. Es war ein sonniger Tag, aber ein kalter Wind strich von Süden her über das rauhe Bergland und erzeugte zwischen den Felsen einen singenden Ton, flötenähnlich und von eigentümlicher Wehmütigkeit.
Am Fuß der beiden Schluchtseiten lagen Geröllbrocken, zum Teil groß genug, um dahinter Deckung nehmen zu können. Der Platz war ideal für einen Überfall.
Dan O’Flynn war am Schluchtanfang im Südosten auf einen Felsturm geklettert, von dem aus er den ganzen südlichen Bereich einschließlich der Route nach Miraflores überblicken konnte. Am Nachmittag meldete er das Herannahmen der Sänfte, die wieder von sechs Indios getragen wurde. Eine weichgefederte Prunkkarosse mit prächtigen Pferden wäre dem Dicken mit dem Froschgesicht wahrscheinlich lieber gewesen – weil schneller und aufwendiger –, aber die Route zwischen Potosi und Miraflores war nichts weiter als ein Trampelpfad und völlig ungeeignet für ein Gefährt auf Rädern.
„Keine Knallerei, Leute!“ sagte Hasard noch einmal. „Setzt die Pistolengriffe ein, das genügt. Außerdem sind wir in der Überzahl.“
Die Männer nickten und verschwanden hinter den Steinbrocken – fünf auf der einen und fünf auf der anderen Seite.
Die Sänfte wurde von der vierköpfigen Leibwache und dem Teniente eskortiert. Die Tätigkeit des Teniente bestand darin, die sechs Indios anzutreiben. Er benutzte dazu eine Reitgerte mit einem sehr fein ziselierten silbernen Griffstück. Von dem, was das Ding gekostet hatte, wären vermutlich ein paar Indiofamilien für einige Wochen satt geworden.
„Vorwärts, ihr faulen Hunde!“ krähte der Gockel-Teniente. „Hier wird nicht geschlafen! Schneller, schneller!“ Die Reitgerte pfiff durch die Luft und fetzte über einen Indiorücken, einen aufquellenden Striemen hinterlassend.
Im Vergleich zum Tampen war diese Reitgerte eine höllisch scharfe Sache, dem schnappenden Zubiß einer Schlange nicht unähnlich. Der Indio war zusammengezuckt und hatte einen kurzen Schmerzlaut ausgestoßen.
„Hier wird nicht gejammert!“ schrie der Gockel-Teniente. „Das beleidigt die Ohren unseres Gouverneurs, du Mißgeburt eines Affen!“ Und er schlug noch einmal zu – auf dieselbe Stelle. Es schien ihn zu entzücken, daß die Haut jetzt aufplatzte, denn er stieß ein meckerndes Lachen aus. Dieser Manuel de Olivella war nicht nur ein dummer Laffe, wie ihn Pater Augustin bezeichnet hatte, sondern auch ein Sadist. Ob sein meckerndes Lachen die Ohren des Gouverneurs „beleidigte“, war nicht festzustellen.
Den sechs Indios lief der Schweiß über die ausgemergelten Gesichter. Zu der Last der Sänfte mit dem dicken Gouverneur schleppten sie auch noch das Gewicht ihrer jeweiligen Kette, mit der sie an die Sänfte gefesselt waren. Drei waren vorn „vorgespannt“, drei hinten. Jeder von ihnen umklammerte einen Holm. Zusätzlich verlief ein breiter Ledergurt quer über ihre Schultern hinunter zu den sechs Holmen.
Der hohe Herr wurde also „sechsspännig“ getragen – zu wenig für den schweren Prunkkasten. Die sechs Indios schufteten sich die Seele aus dem Leib und die Lunge aus dem Hals.
„Schneller, schneller!“ gellte die Stimme des Schinders. „Eins-zwei! Eins-zwei! Wollt ihr wohl laufen, ihr dreckiges Pack?“
Sie keuchten, und die Ketten klirrten.
Die Sänfte erreichte die Mitte der Schlucht.
„Ihr kriegt nichts zu fressen, ihr verlausten Affen!“ schrie der Schinder. „Ich werde …“
Eine helle Stimme unterbrach ihn. Sie klang wie ein Trompetenstoß.
„Drauf, Männer!“
Zehn Gestalten schnellten links und rechts der Schlucht hinter Felsen hervor wie rasende Teufel, überbrückten die kurze Distanz bis zur Sänfte mit zwei, drei langen Sätzen und fielen über die Eskorte her.
Dumpf dröhnten Pistolengriffe auf Helme und trieben sie tief über Gesichter, deren Glotzaugen verständnislos aufgerissen waren. Musketen polterten auf den felsigen Boden, die Kerle sackten in sich zusammen, ohne überhaupt reagiert zu haben. Der blitzschnelle Überfall hatte sie total überrumpelt.
Innerhalb von einer halben Minute waren sie mit Lederriemen gefesselt.
Die sechs Indios hatten die Sänfte mit einem Ruck abgesetzt. Sie blickten sich scheu um.
Aus der Sänfte erklang die zeternde Stimme des dicken Gouverneurs.
Carberry riß die Tür auf.
„Aussteigen!“ bellte er. „Hopphopp, du Froscharsch! Die Reise ist zu Ende! Fallen Anker, klar?“
„Gehen Sie weg, Sie Unhold!“ kreischte der Dicke. „Ich bin der Gouverneur! Teniente! Verhaften Sie diesen Menschen!“
Carberry langte in die Sänfte und knurrte: „Dir werd’ ich helfen – von wegen Unhold, du vollgefressener Speckkloß!“
Don Ramón sah die behaarte Riesenpranke, die ihn vorn an der Brust packte, und begann zu quieken wie ein angestochenes Ferkel. Gleichzeitig strampelte und zappelte er, als ihn eine unheimliche Kraft nach draußen zog. Er fiel aufs Gesicht, quiekte in noch höheren Tönen, wurde hochgezerrt und empfing von der Riesenpranke eine Maulschelle, die ihm schier den Kopf abriß.
Die Maulschelle beendete das Quieken. Dafür folgte ein Schluchzen, und dann heulte Don Ramón de Cubillo, seines Zeichens Provinzgouverneur und damit unumschränkter Herrscher über Tausende versklavter Indios, los wie ein kleines Mädchen, das von einem bösen Buben an den Zöpfen gezogen worden war.










