Seewölfe Paket 23

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Der Profos stemmte die Pranken in die Hüften und holte Luft.
Hasard seufzte und sagte mit leichtem Tadel: „Mister O’Flynn! Nicht du wurdest von Mister Carberry befragt, sondern ich, und ich brauche keinen Vorsprecher. Müßt ihr eigentlich immer wie Hund und Katze sein?“
„Ed und ich?“ fragte Dan O’Flynn erstaunt zurück. „Aber wir sind doch nicht wie Hund und Katze, Sir. Wir sind Freunde! Nicht, Ed?“
„Jawohl!“ dröhnte der Profos. „Dan und ich sind die dicksten Freunde, Sir. Du brauchst dich nur daran zu erinnern, daß mich mein Freund Dan vor ein paar Stunden davor bewahrte, vom Berg erschlagen zu werden. Mutig vergriff er sich an mir und stieß mich aus dem tödlichen Bereich der einstürzenden Decke. So handelt nur ein echter Freund, so wahr ich Edwin Carberry heiße. Das mußt du bedenken, Sir, wenn du sagst, wir seien wie Hund und Katze. Ich wüßte auch gar nicht, wer von uns der Hund und wer die Katze sein sollte. Mein Freund Dan ist allenfalls ein Kater, wenn ich der Hund bin – oder umgekehrt, was, wie?“
Hasard seufzte ein zweites Mal. „Ich korrigiere mich – ihr seid beide die größten Schlitzohren der ‚Isabella‘-Crew! Und jetzt hol den Dicken, Ed!“
„Aye, Sir, freundlich oder als Wüterich?“
„Beides!“
„Geht klar, Sir.“ Carberry feixte zu Dan hinüber, und der feixte zurück. Sie sahen beide aus, als hätten sie gerade der Großmutter des Teufels mit feurigen Kohlen eine Wärmflasche unter den Hintern gepackt – diese Spitzbuben!
Es war eine gute Stimmung, besser konnte sie nicht sein. War nicht alles bisher glatt verlaufen? Und der Pulverturm existierte nicht mehr. Die Bluthunde des Luis Carrero würden nie mehr einen flüchtenden Indio verfolgen, stellen und zerfleischen. Allein das hatte den mörderischen Aufstieg nach Potosi gelohnt. Und ihren Trumpf hatten sie noch gar nicht ausgespielt: Don Ramón de Cubillo.
Carberry hatte ihn wie ein abgeschossenes Karnickel hinten am Kragen und hievte ihn in die Mitte der versammelten Runde, wo der Dicke in sich zusammensackte.
„Jetzt wirst du geschlachtet, Don Ramón!“ sagte Carberry mit dumpfer Stimme. „Die schräge Isabella hat mit uns Zwiesprache gehalten und ihr Orakel verkündet. Vernimm es wie ein Mann, auch wenn du ein Haufen Scheiße bist!“
Hasard räusperte sich – es bezog sich auf die „Vulgärsprache“. Vielleicht sollte er wirklich mal – na ja, ein Donnerwetter konnte nicht schaden. Später, wenn sie wieder auf See waren. Wenn überhaupt. Das Schwerste stand ja noch bevor.
Hasard musterte den Dicken, der wie ein Buddha in ihrer Mitte saß, allerdings wie ein sehr verunglückter Buddha, mit dem er nur rein äußerlich etwas gemeinsam hatte – die Dicklichkeit. Und wenn die Buddhafiguren stets ein friedvoll lächelndes Gesicht zeigen, das ihre Erhabenheit über das weltliche Jammertal ausdrückt, so war bei dem Dicken nichts davon zu bemerken. Bei ihm war alles nach unten gebogen.
Aus trüben Augen starrte er stumpf vor sich hin. Die Nachtruhe hatte wenig zu seiner Erholung beigetragen. Natürlich war er von dem Donnerschlag des in die Luft geflogenen Pulverturms wach geworden und hatte gedacht, der Himmel wäre auf die Erde gestürzt. Daß er überhaupt noch lebte, erschien ihm wie ein Wunder.
Genau in diese Überlegung hinein – als könne er Gedanken lesen – sagte Hasard: „Ihr Leben hängt an einem seidenen Faden, Cubillo, an einem verdammt dünnen Faden, an einem Fädchen. Sie wissen das, nicht wahr?“
„Ja“, flüsterte der Dicke. Er schielte zu Hasard hoch, der an der Stollenwand lehnte, die Arme über der Brust verschränkt. In den Augen des Dicken flackerte nichts anderes als hündische Angst.
Hasard sagte: „Bevor ich Ihnen einen Vorschlag unterbreite oder anbiete, wie Sie eine Chance zum Überleben haben, möchte ich Sie darüber informieren, daß sich Ihr Oberaufseher Luis Carrero seit etwa Mitte November in unserer Gewalt befindet, daß wir bereits mehrere Transporte zwangsrekrutierter Indios abgefangen und sie befreit haben, daß wir ferner in dieser Nacht den Pulverturm von Potosi gesprengt und auch die Bluthunde des Carrero getötet haben. Im übrigen ist Potosi in dieser Nacht von meinen Truppen umstellt worden. Können Sie mir folgen?“
„Uaah“, ächzte der Dicke. Sein qualliges Gesicht sah so ungenießbar aus wie ein alter Käse, in dem die Maden herumturnen und in den Löchern Kriegen spielen.
Hasard dachte, hoffentlich kippt mir der Kerl nicht aus den Stiefeln. Er sagte scharf: „Haben Sie mich verstanden, Cubillo?“
Der Dicke nickte schwach und flüsterte: „Jawohl, Señor Großadmiral!“
Wie gut, daß er nur zu Hasard schielte. Denn die Kerle grinsten wie Honigkuchenpferde.
„Dann hören Sie jetzt gut zu, Verehrtester“, sagte Hasard mit metallischer Stimme. „Ein paar meiner Generäle und ich werden Sie gegen elf Uhr zur Ratsversammlung in Ihre Residenz begleiten, wo Sie gemäß meinen Instruktionen bestimmte Befehle erteilen werden. Sollten Sie sich weigern, dann reißt das dünne Fädchen, das Sie noch mit dem Leben verbindet. Das ist ein Versprechen. Bleiben Sie jedoch fügsam und sind zur positiven Mitarbeit bereit, dann ist das Ihre Chance, zu überleben. Auch das ist ein Versprechen, und ich gehöre zu jenen Männern, die ihr Versprechen halten.“
Natürlich, der Dicke grapschte nach jedem rettenden Strohhalm, der ihm gereicht wurde. Das Risiko für Hasard bestand in der Ungewißheit, ob diesem Bastard zu trauen war. Männer, die es – wenn auch durch die Gnade ihres Königs – bis zum Gouverneur oder gar Vizekönig gebracht hatten, waren keineswegs als Trottel einzustufen. O nein, sie brauchten für ihr Amt schon eine gehörige Portion an Verstand, diplomatischem Geschick, Durchsetzungsvermögen und Härte. Das waren durchaus positive Eigenschaften, die sich allerdings bei Typen wie Don Ramón de Cubillo oder Don Antonio de Quintanilla, dem Gouverneur von Kuba, noch mit höchst unerfreulichen Anlagen mischten, deren übelste die Gier nach Gold und Silber war.
Kurz, die Frage lautete, ob der Dicke einen harten Kern hatte, aus dem heraus er es fertigbrachte, sie zu überlisten.
Im Moment jedoch schimmerte nichts als Hoffnung in den Augen des Don Ramón.
„Ich tue alles, was Sie anordnen, Señor Großadmiral“, sagte er, und seine Stimme hatte einen festeren Klang als bisher. „Das verspreche ich Ihnen, und ich halte auch meine Versprechen.“
„Das wird sich herausstellen“, sagte Hasard. „Vergessen Sie in keiner Sekunde, daß immer eine Pistole auf Sie gerichtet ist, und meine Generäle und Männer sind Scharfschützen.“
„Von hinten durch die Brust ins Auge – oder umgekehrt: von vorn durchs Auge in die Brust“, sagte Carberry mit seiner dumpfen Stimme.
Der Dicke schaute scheu zu ihm hin. Sicher war dieses Ungetüm der Scharfrichter und Henker dieser fürchterlichen Männer, die unter dem Großkreuz des Ordens der schrägen Isabella segelten. Und Don Ramón begann wieder zu zittern.
„Wenn du jetzt losheulst, kriegst du eine geschmiert!“ drohte Carberry – und grinste freundlich. Das heißt, seine Bartlandschaft verzog sich unregelmäßig, und er zeigte sein tadelloses Gebiß, in dem vorn nur eine einzige Lücke klaffte – Erinnerung an die erste wüste Begegnung mit Philip Hasard Killigrew im Jahre des Herrn 1576.
Hasard hüstelte verhalten und warf seinem Profos einen Blick zu, der besagte, jetzt die Rolle des Wüterichs etwas zu zähmen. Dann instruierte er den Dicken, der ergeben lauschte und sich dabei in einem Schwitzbad befand. Der Schweiß, der über sein teigiges Froschgesicht perlte, zeigte es. Er mußte viel wischen.
Hinterher examinierte ihn Hasard, und da stellte sich heraus, daß der Dicke doch ein recht gutes Gedächtnis hatte.
„Sie können sich auf mich verlassen, Señor Großadmiral“, sagte er tapfer.
Dafür empfing er von Pater Aloysius ein kräftiges Schlückchen vom heiligen Wässerchen des Herrn, das der Mann aus Tirol aus verschiedenen Kräutern gebraut hatte, und auf das der Profos so scharf war. Er meinte zwar, da würden „bei dem Speckfaß“ Perlen vor die Säue geworfen, aber er konnte nicht leugnen, daß der Dicke von dem Wässerchen etwas aufgemöbelt wurde und seiner bevorstehenden „Mission“ durchaus männlich ins Auge blickte – auch wenn er einen Schluckauf hatte.
Etwa zwanzig Minuten vor Beginn der Ratsversammlung brachen Hasard, Jean Ribault, Karl von Hutten und Carberry auf und begleiteten den ehrenwerten Gouverneur zu seiner Residenz. Pater Aloysius und Pater David, beide in ihren Kutten als Dominikaner erkenntlich, flankierten den Dicken, ihn freundlich stützend, um ihm den schweren Gang zu erleichtern. Jedoch hielt sich der Dicke erstaunlich wacker. Zweifellos war dies eine Wirkung des „heiligen Wässerchens“.
Wie am Vortag Hasard und Pater Aloysius, so betrat auch jetzt die Gruppe von Westen her die Stadt und marschierte über die Calle Ayacucho in Richtung der Plaza. Schon die erste Begegnung mit Bürgern verlief günstig, denn der Señor Gouverneur scheuchte sie weg wie lästige Fliegen.
Dennoch sprach es sich wie ein Lauffeuer herum, der Erlauchte kehre aus Miraflores zurück, merkwürdigerweise ohne Sänfte und daher zu Fuß, begleitet von zwei Dominikanern und vier bärtigen Männern. Und recht angegriffen sehe er aus und sei auch recht ungehalten.
Vor der Plaza tauchte eine Streife Stadtgardisten auf und versperrte der Gruppe den Weg. Hasard biß die Zähne zusammen und brachte die Rechte in die Nähe seiner Pistole. Wie würde sich der Dicke verhalten? Das war jetzt die Generalprobe.
Prächtig verhielt sich der Señor Gouverneur, ganz prächtig.
Er ranzte die Stadtgardisten an, gefälligst seinen Weg zur Residenz abzuschirmen und dafür zu sorgen, daß er nicht dauernd mit dummen Fragen belästigt werde.
Das wirkte. Die Stadtgardisten spritzten auseinander und übten sich in Begleitschutz. Sehr schön war das, und sie setzten auch ihre Schlagstöcke ein, um dem Señor Gouverneur zu zeigen, wie ernst sie ihren „Ehrendienst“ für die Sicherheit des Erlauchten nahmen.
„Platz für den Señor Gouverneur!“ brüllten sie. „Weg da, Leute! Fort mit euch!“
Nein, sie ahnten nichts, überhaupt nichts. Hauptsache, der Gouverneur war wieder da, wenn auch zu Fuß und in ungewohnter Begleitung, aber allein die beiden Padres bürgten dafür, daß alles seine Ordnung hatte.
Am Portal der Kathedrale stand Pater Augustin und vergaß den Rosenkranz in den Händen. Nur seine Finger drehten unabhängig von seinen Gedanken an den Kügelchen – indessen nicht zum Abzählen der Gebete, sondern als Ausdruck seiner inneren Erregung.
Mein Gott, dachte er, sie haben das Unmögliche geschafft, diese fremden Männer. Sie haben den Teufel in ihrer Gewalt – als Geisel, wie es der schwarzhaarige, bärtige Riese mit den eisblauen Augen geplant hatte. Es war nicht zu fassen. Und natürlich: sie mußten es gewesen sein, die in der Nacht den Pulverturm gesprengt und auch die widerlichen Bestien getötet hatten.
„Herr, es ist gut, daß du ihnen beigestanden hast“, murmelte Pater Augustin.
Neben Pater Augustin stand der Prior, ein dicklicher Mensch mit einem weißen Haarkranz und rosigen Wangen. Er blickte den Pater indigniert an. „Was sagst du da, Bruder? Wem hat der Herr beigestanden?“
„Den Gerechten“, erwiderte Pater Augustin hintergründig.
„Du sprichst in Rätseln, Bruder“, rügte der Prior.
Er erhielt keine Antwort, denn Pater Augustin eilte zur Plaza, um sich um einen Hund zu kümmern, der gewagt hatte, den Weg des erlauchten Gouverneurs zu kreuzen. Für diese unerhörte Respektlosigkeit war er von einem Stadtgardisten mit einem Fußtritt bestraft worden, der ihn böse getroffen haben mußte, denn er lag schmerzjaulend neben dem Plaza-Brunnen.
Elf Glockenschläge vom Turm der Kathedrale hallten über die Stadt. Die Gruppe betrat über die breiten Treppen die Residenz, an den Türen dienerten Lakaien, ein zickiges Männchen eilte ihnen entgegen, sehr elegant nach letzter spanischer Hofmode gekleidet, sehr bleich und sehr erregt.
Für einen kurzen Moment stoppte die Gruppe.
„Mein Zeremonienmeister“, sagte der Dicke unwillig. Er hatte sich zu Hasard umgedreht.
„Wird heute nicht gebraucht“, entschied Hasard.
Der Dicke nickte, Wandte sich wieder um, schnickte mit den Fingern und befahl: „Verschwinde!“
„Der – der Pulverturm ist heute nacht …“
„Verschwinde!“ schrie der Dicke das Männchen an. „Hinaus, du Schlüssellochgucker!“
Das Männchen zuckte zusammen und entfleuchte. Hasard grinste unwillkürlich. Um durch Schlüssellöcher zu spähen, mußte sich das Männchen schon auf die Zehenspitzen stellen oder auf einen Hocker steigen.
Sie marschierten in einen Prunksaal. Um einen auf Hochglanz polierten länglichen Tisch mit vergoldeter Zierleiste und gedrechselten Beinen, die unten in Tatzen mündeten und oben mit goldenen Löwenköpfen geschmückt waren, saß die ehrenwerte Runde der Stadtväter und Ratsmitglieder: der Bürgermeister mit seinem Gefolge, der Stadtkommandant, der Polizeipräfekt, der Bergwerksdirektor, der Stadtkämmerer, der Vorsteher der Münze und die verschiedenen Ratsherren.
Nun ja, sie saßen da wie ihre eigenen Denkmäler, und es waren sehr dumme Denkmäler, weil sie offene Münder hatten und ihre Augen beängstigend groß geworden waren, noch größer als das Gelbe im Spiegelei.
Was sich indessen bewegte, das waren ihre perückenbestückten Köpfe, die den Weg des Erlauchten zum Gouverneursthron begleiteten, als würden sie an einer Schnur gezogen.
Der Thron, ein Prunkstück spanischer Handwerkskunst, stand an der einen Schmalseite des großen Tisches, auf dem zehn Paare getrost einen Reigen hätten tanzen können, ohne befürchten zu müssen, hinunterzufallen.
Der Dicke sank auf seinen Thron, die beiden Padres traten zurück, ihren Platz nahmen zwei der bärtigen Fremden ein. Der eine war ein schwarzhaariger Riese mit Augen, die wie bläuliches Gletschereis schimmerten, der andere ein schlanker Mann mit breiten Schultern und einem verwegenen Gesicht.
Gelassen zogen sie ihre Pistolen und richteten sie wie von ungefähr auf den Señor Gouverneur.
Ein Ungeheuer von Mann mit einem Rammkinn schmetterte die Tür zum Saal zu, baute sich davor auf und spielte mit einem Entermesser.
Dieses Ungetüm wirbelte jedoch plötzlich herum, riß die Tür mit einem Ruck wieder auf – und herein stolperte das Männchen Zeremonienmeister, den Kopf noch vorgereckt, als klebe er am Schlüsselloch.
„Buh!“ machte das Ungeheuer, knallte die Tür wieder zu und wischte das Männchen von den Füßen. Es sauste über den hübschen Mosaikboden, zwischen den gegrätschten Beinen eines Lakaien hindurch, der nicht wußte, wie ihm geschah, und auf eine Marmorsäule zu, die oben mit der Alabasterbüste Seiner Allerkatholischsten Majestät, des Königs von Spanien bestückt war. Sehr bleich, fast melancholisch schaute Philipp II. in den Saal – zum letztenmal.
Denn das Männchen wickelte sich um die Marmorsäule und riß sie um. Die Säule zerbrach. Philipps Kopf rollte holterdiepolter durch den Saal zu dem Ungeheuer namens Carberry, und der nahm die Gelegenheit wahr, Seine Majestät mit einem kräftigen Fußtritt zu beehren. Aber dessen Nase war schon beim Sturz zu Bruch gegangen. Der Alabasterkopf landete scheppernd im Kamin und gelangte dort zur Ruhe. Ein Feuerchen war noch nicht entzündet worden.
Die Señores saßen steif und stumm und entsetzt.
6.
„Señores“, sagte Hasard freundlich und mit der ihm eigenen Liebenswürdigkeit, „es besteht kein Grund zur Panik, und ich schätze – ja, ich bin sogar davon überzeugt, daß wir sehr gut miteinander auskommen werden, wenn Sie die Befehle Ihres ehrenwerten Señor Gouverneur so befolgen, wie Sie das immer getan haben. Allerdings“, und hier lächelte Hasard so richtig von Herzen, „kann ich für sein Leben nicht garantieren, wenn Sie seinen Befehlen zuwiderhandeln oder sie zu sabotieren versuchen.“
Die Señores lauschten wie Buben, die zum ersten Male in ihrem Leben von einem Lehrer oder Schulmeister angesprochen werden, der die Absicht hat, sie in die Kunst des Schreibens und Lesens einzuweisen.
Da waren keine Rebellen oder Feuerköpfe, denen die Tat wichtiger erschien als die Folgen. Hasards Blick musterte jeden einzelnen Mann, und jeder senkte den Blick, als könne er diese aufmerksamen scharfen Augen nicht ertragen. Sie waren auch sehr verwirrt, diese ehrenwerten Señores, die hier in Potosi bisher ein so schönes, geruhsames, gefahrloses und vor allen Dingen einträgliches Leben geführt hatten – einträglich, was den Griff nach dem Silber betraf.
Natürlich war die Ausbeute je nach Stand verschieden und nicht an dem zu messen, was der Señor Gouverneur in seinem Landhaus gehortet hatte. Aber es war nicht übertrieben, wenn man die ehrenwerten Señores als Millionäre bezeichnete. Der Vorsteher der Münze hatte die dreckigsten Pfoten. Dafür war er jetzt so weiß wie ein Leichentuch – und er schwitzte.
Das alles registrierte Hasard, und er verriet nicht den Ekel, der in ihm aufstieg.
Im lässigen Plauderton fuhr er fort: „Meine Truppen, Señores, haben die Stadt umstellt, jedoch die Straße nach Sucre offengelassen. Es würde sich also nicht lohnen, gegen uns hier Gewalt anzuwenden, die sie dann alle zu büßen hätten. Im übrigen haben meine Einsatzkommandos heute nacht den Pulverturm gesprengt – vorsorglich natürlich, um Sie nicht in Versuchung zu führen, ein Massaker anzurichten, dem ja doch immer nur die Unschuldigen zum Opfer fallen. Da wir ferner etwas gegen Bluthunde haben, die auf Menschen gehetzt werden, haben wir uns erlaubt, auch diese Bestien zu beseitigen.“
Die Stadt umstellt? Den Pulverturm gesprengt? Die Bluthunde beseitigt? Die Señores zogen die Köpfe ein und krochen in sich zusammen. Am liebsten wären sie in Mauselöchern verschwunden.
Nicht einmal der winzigste Funke eines Gedankens tauchte in ihren Köpfen auf, hier einem riesigen Bluff aufzusitzen. Das mochte allerdings auch an der Persönlichkeit des schwarzhaarigen Riesen liegen, der einen bezwingenden Charme ausstrahlte und gleichzeitig von einer granitenen Härte war. Nein, einem solchen Mann waren sie noch nicht begegnet, einem Mann, der es im Handumdrehen fertigbrachte, ihnen seinen Willen aufzuzwingen.
Hasard nickte dem Dicken ermunternd zu, wiederum freundlich lächelnd.
„Jetzt sind Sie dran, Señor Gouverneur“, sagte er. „Die Señores warten auf Ihre Befehle.“
Der Dicke richtete seinen Blick auf den Stadtkommandanten, einen knebelbärtigen, hageren Menschen, und sagte: „Don Alfonso! Ich befehle, daß die gesamte Truppe der Potosi-Garnison einschließlich der Polizeikräfte und Stadtgardisten innerhalb einer halben Stunde auf der Plaza anzutreten hat, bereit zum Abmarsch nach Sucre, wo weitere Weisungen von mir abzuwarten sind. Schuß-, Hieb- und Stichwaffen bleiben in der Garnison. Sie, Don Alfonso, bürgen mir für die exakte Ausführung meines Befehls und werden auch die Truppe nach Sucre begleiten. Die Straße dorthin ist frei. Sollten Sie jedoch die Straße verlassen – entgegen meiner Order –, dann haben Sie damit zu rechnen, daß Sie unter Feuer genommen werden. Ist das klar?“
„Jawohl, Señor Gouverneur“, erwiderte der Stadtkommandant und wiederholte brav den Befehl des Dicken.
Dann verließ er die Runde und marschierte auf die Tür zu, wo der Profos stand und ihm aus grauen Augen grimmig entgegensah.
„Waffen ablegen!“ knurrte er.
„Jawohl“, sagte der Knebelbärtige gehorsam und entledigte sich seines Wehrgehänges samt einer prächtigen Pistole.
Carberry nahm es in Empfang und betrachtete die Pistole, deren Griff aus Nußbaumholz mit Silber eingelegt war. Kopfschüttelnd schaute er sich die Einlegearbeit an. Auf beide Griffseiten war je ein nacktes Liebespaar eingearbeitet, das sich umarmte. Es war eine erotische Szene, die an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrigließ. Vielleicht brauchte der ehrenwerte Don Alfonso solche Bildchen zur Aufmunterung, bevor er den Liebespfad beschritt.
„Ihr seid vielleicht Ferkel“, sagte der Profos ein bißchen erschüttert, obwohl ihm im Grunde nichts fremd war. Aber so etwas Obszönes öffentlich mit sich herumzuschleppen, das fand er nicht sehr geschmackvoll.
„Jawohl“, sagte Don Alfonso und schaffte es, rote Ohren zu haben.
„Hinaus!“ grollte Carberry und fletschte die Zähne. „Du alter Lustmolch!“
Der „Lustmolch“ mit dem Knebelbart entschwand. Die Tür krachte wieder zu.
Der Dicke stach den Zeigefinger auf den Vorsteher der Münze zu, den Schwitzemann mit dem teigigen Gesicht.
„Sie, Don José“, sagte er, „sorgen dafür, daß sofort sämtliche Silbermünzen aus der königlichen Schatzkammer und der Münze sack- und kistenweise in den Hof der Residenz gebracht werden, da ich die Absicht habe, die Münzen einem guten Zweck zuzuführen. Haben Sie verstanden?“
„Oje-oje!“ jammerte der Schwitzemann. „Alle Münzen?“
„Ich sagte es!“ donnerte Don Ramón. „Haben Sie Dreck in den Ohren? Und ich bitte mir aus, daß nicht eine einzige Münze beim Transport in den Hof verschwindet!“
„Jawohl, Señor Gouverneur.“ Der Schwitzemann erhob sich und wankte zur Tür. Weit gelangte er nicht, weil das Männchen Zeremonienmeister wieder bei Bewußtsein war und ihm wie ein schnüffelndes Hundchen vierbeinig in den Weg kroch. Das Männchen wußte wohl noch nicht so recht, wo es sich befand.
„Wau-wau!“ bellte Carberry von der Tür her.
Das Männchen sprang mit einem schrillen Schrei auf, prallte auf den Schwitzemann mit dem teigigen Gesicht und umarmte ihn. Jetzt wankten sie beide und hielten sich gegenseitig fest, als müßten sie sich trösten.
Don Ramón trommelte mit seinen Wurstfingern auf der Tischplatte und war gereizt.
„Hinaus!“ schrie er. „Und vergessen Sie meinen Befehl nicht, Don José, sonst soll Sie der Teufel holen! Es geht um mein Leben, falls Sie das noch nicht begriffen haben!“
Erschrocken trennten sich die beiden und eilten zur Tür, wo Carberry sie hungrig anstarrte, als habe er die Absicht, sie roh zu verspeisen.
Langsam öffnete er die Tür, fixierte das Männchen und sagte dumpf: „Du hast den Philipp vom Sockel gestoßen, du Wüstling! Das wird noch Folgen haben, denn das ist eine Beleidigung Seiner Majestät!“
„Er-erbarmen“, stotterte das Männchen mit flatternden Augen und käsigem Gesicht, dessen linke Seite von der Pranke Carberrys erheblich geschwollen und gezeichnet war.
„Das wird Seine Majestät entscheiden“, sagte Carberry grollend, „und ich weiß sehr genau, daß er Sockelumstoßern, wie du einer bist, die Ohren abbeißt und die Haare ausreißt! Und wenn du hier noch mal am Schlüsselloch hängst, du Schnüffler, dann ziehe ich dir den Hals lang und knüpf ihn dir um die Beine!“
Das Männchen schoß davon, als sei es von Carberry mit einer Nadel in das Hinterteil gepiekt worden. Der Schwitzemann war schon auf und davon. Wieder knallte die Tür zu.
Jetzt war der Bürgermeister dran, ein Mann mit einem dicken Schmerbauch, Doppelkinn und einer Warze auf der rechten Wange. Die schwarze Lockenperücke verjüngte ihn zwar, aber mit den Tränensäcken unter den Augen und dem aufgedunsenen Gesicht sah er reichlich verlebt aus. Wie Don Ramón war er das, was man die Made im Speck nennt.
Hasard hatte für solche Typen einen sicheren Blick. Ganz abgesehen davon sah der Kerl verschlagen aus. Aber zur Zeit überwog die Angst, das war nicht zu verkennen. Er blickte immer wieder zu Carberry, der als grimmiger Wächter an der Tür stand, ein wüster Koloß mit der Kraft von ein paar Ochsen. Keine Frage, der Profos verschreckte die ehrenwerten Señores, insbesondere den dickbäuchigen Bürgermeister.
Don Ramón wandte sich dem Mann zu und sagte: „Sie, Don Carlos, sorgen dafür, daß im Hof der Residenz Tische aufgestellt werden – und natürlich Stühle. Die Tische sind reichlich zu decken – mit allen verfügbaren Lebensmitteln: Obst, Brot, Braten, Käse, Wurst und so weiter. Der Señor Küchenmeister, den ich zu Ihrer Verfügung befehle, möge eine kräftige Hühnersuppe kochen und im Hof bereitstellen, dazu das notwendige Geschirr und Besteck …“
„Ah, die Señores wünschen im Hof zu speisen, nicht wahr?“ unterbrach ihn der Bürgermeister und schmatzte mit den dicken Lippen.
„Irrtum“, sagte Don Ramón frostig. „Nicht die Señores werden dort speisen, sondern die Indios aus dem Berg.“
„Äh!“ Der Bürgermeister wirkte, als habe ihm jemand einen Scheuerlappen um die Ohren gehauen. „Die – die Indios?“