Seewölfe Paket 23

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„Die Indios!“ brüllte der Dicke und regte sich fürchterlich auf. „Ist das so absonderlich? Sie sollen sich satt essen, bevor sie entlassen werden. Und es muß genug da sein, daß sie auch noch Lebensmittel mitnehmen können.“
Der Bürgermeister schien kurz vor einem Schlaganfall zu stehen, auch die Señores des Stadtrates wurden unruhig und begannen zu tuscheln.
Carberry rückte wuchtig ein paar Schritte vor, in seiner Rechten schlenkerte das Entermesser. Sein wilder Blick streifte die ehrenwerten Señores.
Er sagte – und seine Stimme war fast leise und zufrieden: „Ist hier einer, dem das nicht paßt? Das würde mich freuen, denn dann könnte ich einmal ausprobieren, ob dieses Messerchen scharf genug für eine Rasur ist. Ich habe es heute morgen extra für diesen Zweck noch einmal geschliffen. Aber ich werde die Rasur an der Kehle ansetzen – hier!“ Und er setzte das Messer an seine bärtige Gurgel, zog es scharf nach unten und rasierte sich mit einem einzigen sauberen Schnitt den Hals frei. Wie abgehackt sah die Stelle aus, wo er das Messer angesetzt hatte. Wenn er ein bißchen geblutet hätte, wäre die Demonstration noch fürchterlicher gewesen.
Aber sie reichte auch so. Da waren nicht wenige Señores, deren Gesichter die gewisse grünliche Verfärbung angenommen hatten. Einige hatten unwillkürlich an ihre Hälse gegriffen, als müßten sie sich überzeugen, ob die noch heil und ohne Schnitt waren. Der Bürgermeister röchelte und preßte die Hand aufs Herz.
Hasard beobachtete scharf. Carberrys Spiel mit dem Entermesser war hervorragend. Schon im Ansatz hatte er mit seiner Darstellung und Redeweise das erstickt, was wie der schwache Versuch einer Entrüstung ausgesehen hatte. Die Señores kuschten. Ein Schnitt durch den Hals – die Vorstellung davon – erstickte jegliches Aufbegehren.
Und Don Ramón? Hätte er die Situation nicht nutzen können?
Don Ramón fixierte den würgenden Bürgermeister aus kalten Augen und sagte höhnisch: „Wenn Ihnen etwas fehlt, Don Carlos, dann ist es mir nur recht, auf Ihre Mitarbeit zu verzichten und unserem Zweiten Bürgermeister Ihre Aufgaben zu übertragen.“ Er ruckte mit dem Kopf nach links, wo der Zweite Bürgermeister saß, ein Mann mit einem knochigen Gesicht, das zwar mürrisch wirkte, jetzt jedoch eine freudige Erwartung auszudrücken schien.
„Señor Gouverneur?“ fragte er ein bißchen ölig.
„Sind Sie“, sagte Don Ramón, „bereit, das Amt des offenbar kranken Bürgermeisters zu übernehmen und meine Befehle auszuführen?“
„Es ist mir eine Ehre, Señor Gouverneur“, sagte der Zweite Bürgermeister und verbeugte sich im Sitzen.
Er war kaum wieder mit dem Kopf hoch, da sprang Don Carlos, der erste, auf und schrie: „Nein! Ich bin nicht krank! Ich war schon immer dafür, die – äh – Indios im Berg besser zu verköstigen, um ihnen die schwere Arbeit zu erleichtern. Nur …“
„… nur zweigten Sie von den königlich festgesetzten Rationen ganze drei Viertel ab, kassierten sie für Ihre eigene Haushaltsführung oder verteilten sie an Ihre Günstlinge“, ergänzte Don Ramón mit einem niederträchtigen Grinsen.
Siehe da! dachte Hasard. Hier wird jetzt schmutzige Wäsche gewaschen! Und der Dicke scheint dem Bürgermeister spinnefeind zu sein. Sicher, ein Bürgermeister kann zum Provinzgouverneur aufrücken, und vielleicht hatte dieser Don Carlos das begehrte und einträgliche Amt schon lange angepeilt – zum Mißbehagen des Don Ramón.
Warf der Bürgermeister jetzt dem Dicken vor, daß dieser ihm – was die Bereicherung betraf – immer ein gutes Vorbild gewesen sei?
Nein, er zog den Schwanz ein, bangend darum, vom zweiten Bürgermeister ersetzt zu werden, und sagte mit bebender Stimme: „Ich führe Ihre Befehle selbstverständlich aus, Señor Gouverneur. Das ist mir eine Ehrenpflicht, denn ich stehe loyal zu Ihnen und zu unserer verehrten Majestät dem König!“ Und sein Kopf bewegte sich ruckartig zu der Stelle, wo er gewohnt war, den Allerkatholischsten zu sehen, der aus Alabaster melancholisch seit über zehn Jahren in den Saal blickte. Nur war dessen Büste jetzt ja weg, und der Alabasterkopf hatte einen Platz im Kamin gefunden.
„Äh!“ sagte der Bürgermeister irritiert.
Don Ramón nickte ihm zu und wedelte mit der rechten Hand.
„Dann sputen Sie sich, Don Carlos“, sagte er kalt, „und seien Sie versichert, daß ich geheime Dossiers über Sie habe, die Ihnen das Genick brechen werden, sollten Sie es wagen, meinen Befehlen zuwiderzuhandeln.“
Auch dieser Mensch wankte zur Tür, verfolgt von den Blicken der Runde. Über das Froschgesicht des Don Ramón geisterte ein verstecktes triumphierendes Grinsen.
Don Carlos’ Schritte wurden langsamer, je näher er Carberry rückte.
Der ruckelte mit dem rechten Zeigefinger und sagte: „Hol mal die Pistole raus, die du unter deinem Bauch versteckt hast, mein Dickerchen!“
Don Carlos fischte mit spitzen Fingern nach der Waffe, die vom über den Bauch hängenden Wams fast verdeckt wurde, und reichte sie mit dem Griff voran Carberry.
„Bitte sehr, Señor“, sagte er mit schon fast ersterbender Stimme. „Wirklich, ich hätte nie gewagt, damit zu schießen – äh –, und ich verabscheue auch den lauten Knall.“
„Soso“, sagte Carberry und besichtigte den Pistolengriff von beiden Seiten.
Hier war wohl derselbe Silberschmied am Werk gewesen – nur auf andere Weise, denn auf den beiden Griffschalen verlustierten sich lediglich weibliche Wesen, und dies wiederum sehr eindeutig.
Carberry blickte auf und ließ die Pistole achtlos fallen. Als sie auf den Mosaikboden klirrte, versetzte er der Waffe einen Tritt, und sie schepperte in Richtung des Kamins.
In seinen grauen Augen glitzerte Wut, als er quer durch den Saal hinüber zu Hasard schaute.
„Großmeister“, sagte er wild, „diese Ferkel und Säue kotzen mich allmählich an. Die lassen sich silberne Schweinereien in ihre Pistölchen einarbeiten, und dafür müssen die armen Kerle im Berg verrecken, sich schinden, peitschen oder von Bestien zerfleischen lassen. Das mußt du dir mal vorstellen! Dieses perverse Vieh hier sollte aufgehängt werden – oben an die Kirchturmspitze, damit es alle sehen!“
Carberry hatte die englische Sprache benutzt, und in derselben Sprache erwiderte Hasard: „Dreh jetzt nicht durch, Ed! Sie sind alle einander wert, der eine wie der andere. Aber wir sind hier wegen der Indios, nicht um Selbstjustiz zu üben. Wir sind nicht deren Richter.“
„Verstanden“, sagte Carberry mühsam und brüllte den Bürgermeister an: „Hau ab, du Strolch!“ Gleichzeitig riß er die Tür auf.
Don Carlos entfloh – gewissermaßen auf qualmenden Socken. Carberry stand in der Tür und starrte hinter ihm her. Seine Hände waren zu Fäusten geballt und zuckten etwas.
Dir hätte ich das Genick umdrehen können, Bürgermeister, dachte er, aber nicht nur dir!
Er trat zurück und verschloß die Tür.
Die Befehlsausgabe war noch nicht beendet. Don Ramón richtete das Wort an den Polizeipräfekten und sagte: „Ihre Aufgabe ist es, sofort zu veranlassen, daß sich die Bürger in ihre Häuser zurückzuziehen haben. Türen und Fensterläden sind zu verschließen – bis diese Verfügung von mir aufgehoben wird. Ich betone: ich wünsche keinen Bürger auf den Straßen zu sehen! Wer es wagen sollte, aus einem Fenster zu schauen, wird erschossen.“
„Habe Order verstanden“, schnarrte der Polizeipräfekt, stand auf, verbeugte sich und marschierte zur Tür.
„Die Waffe!“ fuhr ihn Carberry an.
Sie wurde ihm überreicht – eine doppelläufige Pistole. Carberry nahm sie entgegen und betrachtete die Griffstücke. Sie waren „nur“ mit silbernen Girlanden eingelegt. Fast hätte Carberry dem Polizeipräfekten die Waffe zurückgegeben.
Der starrte ihm in die Augen und schnarrte: „Habe auch was gegen – äh – Schweinereien auf Waffen! Kolossale Schweinerei! Entehrt die Waffe – ähem! Skandalös! Wenn das der König wüßte!“
„Na ja“, sagte der Profos lahm und ein bißchen erschüttert.
Der Polizeipräfekt zirkelte einen eckigen Gruß, Handfläche ausgestreckt, an seine Perücke, auf der jetzt ein Helm hätte sitzen müssen. Aber so ging’s auch.
„Bitte mich verabschieden zu dürfen!“ schnarrte er.
„Genehmigt!“ rasselte Carberry und salutierte mit der Präfektenpistole wie mit einem Marschallstab.
Der Polizeipräfekt knickte vor, schlug gleichzeitig die Hacken zusammen und verbeugte sich.
Carberry runzelte die Stirn, öffnete die Tür und winkte jovial mit der Pistole, die den Marschallstab ersetzte.
„Es war mir eine Ehre, Señor Polizeipräfekt“, sagte er.
Der Polizeipräfekt marschierte hinaus, das Kinn an den Kragen gedrückt, den Blick geradeausgerichtet, ein sehr zackiger Mann, eifrig, pflichtbewußt und kantig. Nur diente er eben in einer lausigen Stadt – und einem System, das genauso lausig war.
Hier gibt’s Sachen, die gibt’s gar nicht, dachte Carberry und steckte sich nachdenklich die Pistole des Präfekten in den Gurt. Diesem Nußknacker hätte er zum Beispiel nicht das Genick umgedreht. Merkwürdig war das schon.
Was hatte er gesagt? Wenn das der König wüßte! Ha! Und wenn er’s wüßte? Würde das was ändern? Überhaupt nichts! Carberry schloß die Tür und schüttelte den Kopf.
Die letzte Befehlsausgabe: sie würde den Lebensnerv der Stadt treffen – das Silber. Der Bergwerksdirektor war dran, ein Mann, der über alles das herrschte und waltete, was den Cerro Rico betraf. Er machte sich nicht die Hände schmutzig, o nein! Er mordete vom Schreibtisch aus.
Er verfügte: soundso viele hundert Sklaven – oder Indio-Affen – zum Abbau des Silbers in den Stollen XYZ, soundso viele in den Stollen daneben, darunter oder darüber.
Aber der Stollen darunter ist bereits einsturzgefährdet, Señor Direktor!
Spielt keine Rolle!
Jawohl, er verwaltete den Tod, dargestellt in Strichlisten mit Zehnergruppen – zehn Striche gleich zehn Sklaven. Durchgestrichen wurde mit dem Lineal. Es bedeutete, daß wieder zehn Strichmännchen weniger für das Silber arbeiteten. In letzter Zeit war das Lineal immer häufiger benutzt worden.
Unerhört, wie diese Affen einfach wegstarben!
Wegstarben? Na ja, über die Art ihres Todes wurde nicht Buch geführt.
Bitte sehr, Señor, es ist doch völlig gleichgültig, an was diese Dingsda – äh – diese Wilden krepieren. Weil sie faul sind, müssen sie gezüchtigt werden. Hunger? Die fressen sowieso zuviel! Krankheiten? Mit denen müssen wir auch rechnen. Was sagten Sie – man müsse die Stollen besser absichern? Aber ich bitte Sie! Wir sind knapp an Holz! Das wäre reinste Verschwendung!
Der Señor Bergwerksdirektor setzte die täglichen Fördermengen fest, prüfte die Qualität des abgebauten Silbers, brütete über schematische Darstellungen des Berges, der kreuz und quer von Gängen zerfressen wurde, beutete die fetten Adern aus – und mochten sie auch noch so tief in den Berg führen oder gefährdet sein, trieb die Aufseher an, verlangte Sollerfüllung, drohte mit drakonischen Strafen, Verhängte für die Indios Trinkwasserentzug, kürzte Rationen, verweigerte ärztliche Hilfe bei Krankheiten oder Verletzungen – und sah selbst zu, sich die Taschen zu füllen.
Er war ein Mann mit einem spitzen Kinn, einem messerscharfen Mund, einer Geiernase und bösen kalten Augen. Jetzt waren diese Augen unstet und unruhig. Er ahnte wohl, daß noch einiges auf ihn zukam.
„Señor Jimeno“, sagte Don Ramón zu dem Geiernasigen, „Sie erhalten den Befehl, sämtliche Indios aus dem Berg holen und mit den Aufsehern hier in den Hof der Residenz bringen zu lassen.“
Der Geiernasige stand steif auf, zögerte und sagte dann: „Das – das bedeutet das Ende des Silberabbaus, Señor Gouverneur. Ich – ich bin verpflichtet, der Krone halbjährlich die festgesetzte Menge Silber zu liefern …“
„Geht es hier um die Einhaltung von Terminen – oder um mein Leben?“ fauchte der Dicke aufgebracht.
„Dieser Mann bleibt hier“, sagte Hasard scharf. „Er ist der unmittelbare Vorgesetzte des Luis Carrero, nicht wahr?“
„Ja“, erwiderte der Dicke.
„Legen Sie Ihre Waffen ab, Señor“, sagte Hasard kühl und richtete die Pistole auf den Geiernasigen.
Der Geiernasige zischte: „Und wenn ich mich weigere?“
Hasard zuckte mit den Schultern und sagte ironisch: „Das wäre dumm von Ihnen, denn Sie würden mich zwingen, Ihr Leben mit einer Kugel zu beenden. Ich könnte nicht behaupten, daß mir der Tod eines Massenmörders besonders nahegehen würde.“
„Ich bin kein Massenmörder!“ schrie der Geiernasige. „Das ist ja geradezu absurd!“
Carberry war fängst herangeschlichen und stand jetzt hinter dem Buchhalter des Todes. Er tippte ihm auf die Schulter. Der Geiernasige ruckte herum.
„Hier wird nicht geschrien“, sagte Carberry, griff zu, zog den Geiernasigen aus der Stuhlreihe, drückte ihn einarmig hoch in die Luft – und ließ ihn fallen, einfach so.
Der Geiernasige stauchte sich das Kreuz auf dem Mosaikboden, denn er prallte mit dem verlängerten Rückgrat auf, sein Gesicht verzerrte sich vor Wut, er sprang auf, seine Rechte zuckte zum Degen und riß ihn heraus.
Carberry sagte sanft: „Ich warne dich, Freundchen. Laß deinen Piekser fallen und sei friedlich. Du hast hier keinen wehrlosen Indio vor dir …“
Der Geiernasige stürmte auf Carberry zu. Der Profos glitt zur Seite und stellte den Fuß vor. Als der Fuß hakte, riß er ihn hoch. Im Schrägsturz landete der Kerl mit dem Kopf voran auf dem steinernen Boden, schrammte über ihn weg und sauste gewissermaßen auf seiner Geiernase und dem Spitzkinn über die spiegelnde Fläche, die nur von den Mörtelfugen unterbrochen war.
Diese Fugen waren es, die ihm die Haut auf Spitzkinn und Geiernase wegraspelten.
Spiegel, an der richtigen Stelle angebracht, haben die Eigenschaft, einen Raum zu vergrößern. Das hatte der Innenausstatter dieses Residenzsaales wohl auch im Auge gehabt, als er links und rechts der hübschen Kassettentür je einen Wandspiegel hatte aufstellen lassen, die bis zum Boden reichten. Zwei gleiche Spiegel standen gegenüber an der anderen Saalfront und noch je zwei an den beiden anderen Saalseiten.
Diese Spiegelorgie zwang die beleibten Señores bei Empfängen oder Lustbarkeiten, die hier des öfteren stattfanden, die Bäuche einzuziehen, während die Señoras und Señoritas von den Spiegeln verlockt wurden, ihre Oberweiten prangen zu lassen.
In den Spiegel links der Tür krachte der Geiernasige, durchbrach ihn und blieb stecken. Es regnete Spiegelscherben, die lustig funkelten und glitzerten – wie Silber.
„Der schöne Spiegel“, murmelte Carberry kopfschüttelnd. „Alles müssen diese Affenärsche kaputtmachen – erst die teure Marmorsäule mit der Büste unserer verehrten Majestät und jetzt dies! Man muß meinen, unter die Barbaren geraten zu sein. Und ich habe diesen Kerl noch gewarnt!“
Er zog den Geiernasigen an den Stiefeln aus dem zerborstenen Spiegel. Pater David umwickelte den Kopf des Kerls mit einer langen weißen Binde, bis er wie eine Mumie aussah, wie Carberry mißbilligend feststellte. Seit ihrer Nilreise hatte er etwas gegen Mumien. Die Mumie durfte weiter den Fußboden abhorchen.
„Ich schlage vor“, sagte Hasard zu Don Ramón, „Sie delegieren diese letzte Aufgabe an den Zweiten Bürgermeister, der mir dafür geeigneter erscheint als dieser Señor Jimeno.“
Der Zweite Bürgermeister sprang sofort auf, verbeugte sich vor Hasard und sagte: „Es wird mir eine Ehre sein, diese Order zu übernehmen.“
„Ich habe nichts dagegen“, sagte Don Ramón und nickte dem Zweiten zu. „Aber beeilen Sie sich.“
„Sehr wohl, Señor Gouverneur.“ Der Zweite Bürgermeister eilte hinaus.
Hasard winkte den wie Salzsäulen dastehenden Lakaien zu und sagte freundlich: „Ich habe nichts dagegen, wenn Sie den ehrenwerten Señores dieser Ratsversammlung ein Gläschen Wein einschenken, zumal ich die Absicht habe, auf Ihrer aller Wohl zu trinken!“
Die Lakaien flitzten und spielten Mundschenk. Das leise Klingen von Gläsern tönte durch den Saal und stimmte friedlich. Es gluckerte aus Kristallkaraffen, roter Wein floß in die funkelnden Gläser.
Als alle versorgt waren, hob Hasard sein Glas und sagte: „Señores, der elfte Vers im zweiundsechzigsten Psalm lautet: ‚Verlasset euch nicht auf Unrecht und Frevel, haltet euch nicht zu solchem, das eitel ist; fällt euch Reichtum zu, so hänget das Herz nicht dran.‘ Über diese Worte sollten Sie nachdenken. Ich trinke auf Ihr Wohl!“
Hasard trank, und sie taten ihm Bescheid. Pater David und Pater Aloysius lächelten versteckt. Die ehrenwerten Señores waren sehr verwirrt, betroffen oder gar nachdenklich.
Es wurde geklopft, und Carberry öffnete.
Der Stadtkommandant erschien, salutierte und meldete: „Truppe wie befohlen abmarschbereit auf der Plaza angetreten.“
„Danke, Don Alfonso“, sagte Don Ramón zu dem knebelbärtigen Mann. Er drehte sich zu Hasard. „Möchten Sie eine Musterung vornehmen, Señor Großadmiral?“
„Genau das“, erwiderte Hasard. „Die Señores der Ratsversammlung mögen sich nach Hause verfügen und ruhig verhalten. Der Señor Jimeno wird bei uns bleiben.“
Damit war die Ratsversammlung aufgelöst.
7.
Jean Ribault, Karl von Hutten und die beiden Padres blieben bei dem Dicken und der „Mumie“ auf der Treppe vor der Residenz. Es tat sich schon allerlei – Büttel zogen Karren, beladen mit Säcken und Kisten, von der Münze zur Residenz und in den Innenhof. Andere Bedienstete schleppten Lebensmittel heran. Sonst hatten sich die Straßen bereits deutlich geleert. Die Läden vor den Fenstern waren geschlossen worden. Eine ungewohnte Stille lag über der Stadt.
Die Truppe – an die hundert Mann oder mehr – stand mit Front zur Residenztreppe.
Hasard ging mit Carberry und dem Stadtkommandanten langsam an der Front entlang und musterte die Männer aus harten Augen.
Vor einem Teniente blieb er stehen und blickte ihn scharf an.
„Name?“ fragte er.
„Alvaro Gomez.“
Hasard trat etwas zurück und legte die Hände auf den Rücken.
„Der Stadtkommandant hat Sie über die Order des Gouverneurs informiert?“ fragte er.
„Ja, wir sollen nach Sucre marschieren und dort auf weitere Order warten.“
„Richtig, was noch?“ Hasard wippte auf den Ballen.
„Äh – Schuß-, Hieb- und Stichwaffen sollten in der Garnison bleiben“, sagte der Teniente.
„Und? Haben Sie noch Waffen bei sich?“
„Ich? Nein, ich habe keine Waffen bei mir. Ich pflege Befehle zu befolgen.“
Es war die alte Weisheit: Menschen mit unruhigen Augen, die dem festen Blick des anderen ausweichen, haben etwas zu verbergen, ein schlechtes Gewissen oder führen etwas im Schilde.
Hasard nickte Carberry zu und sagte in der englischen Sprache: „Durchsuch ihn, Ed. Und wenn du etwas findest, dann kannst du mit ihm Schlitten fahren. Ich wette, daß er mich belogen hat.“
„Mal sehen“, knurrte der Profos, trat auf den Teniente zu und begann ihn von oben abzutasten.
Plötzlich fuhr seine Hand in den Koller. Als er sie zurückzog, hatte er eine kleine Pistole in der Hand. Er warf die Waffe hinter sich, geradezu lässig und gleichgültig.
„Einer, der Befehle zu befolgen pflegt, eh?“ sagte er verächtlich. „Ein Sprücheklopfer und ein Lügenmaul, wie?“
Der Teniente schwoll rot an. „Wie sprechen Sie denn mit mir, Sie – Sie ungehobelter Flegel? Ich bin Offizier!“
„Ach ja? Ist das was Besonderes oder wie?“ höhnte Carberry.
„Wenn ich meinen Degen hätte, würden Sie tanzen, Kerl!“ schnarrte der Teniente.
„Wie wär’s denn mit den Fäusten – Offizier Lügenmaul?“ Carberry trat etwas zurück. „Komm her, zeig’s mir mal, damit deine Leute sehen, was du für ein tapferes Kerlchen bist. Schau mal, sie grinsen schon! Sie lachen über ihren aufgeblasenen Offiziersgockel!“
Der Teniente, blind vor Wut, sprang vor und landete Vierkant im berühmten „Profos-Hammer“, der von unten gegen sein Kinn krachte, so daß er vom Boden abhob, die Flugbahn einer trägen Rakete beschrieb und wieder zur Landung auf dem Pflaster der Plaza ansetzte.
Der Aufprall schüttelte den Teniente durch und war recht unsanft. Carberry beachtete ihn nicht weiter. Er hatte die Fäuste in die Hüften gestemmt, stand breitbeinig da und musterte aus schmalen Augen die Soldaten. Denen verging das Grinsen ziemlich schnell.
„Freut euch nicht zu früh, ihr Rübenschweine“, warnte er. „Ihr seid auch noch dran!“
Da und dort zwischen den Reihen klirrte plötzlich etwas zu Boden.
„Halt!“ zischte Carberry scharf.
Die Soldaten erstarrten.
Hasard musterte aus eisigen Augen den Stadtkommandanten, der zusehends einschrumpfte, und fragte: „Ist es bei Ihren Offizieren üblich, die Befehle des Gouverneurs zu umgehen oder zu mißachten, Don Alfonso?“
„Der – der Teniente Gomez war – war bestimmt eine Ausnahme“, stotterte der Stadtkommandant bleich, und die Spitzen seines Knebelbarts zitterten wie Espenlaub im Wind. „Ich – ich werde den Teniente für seine Insubordination bestrafen.“
„Eine Ausnahme, wie?“ fragte Hasard spöttisch. „Wollen Sie mich für dumm verkaufen?“ Er zog die Pistole und richtete sie auf den Stadtkommandanten. Sein eisiger Blick flog über die Soldaten. „Vortreten, wer noch eine Waffe hat! Oder es knallt, und Sie können Ihren Stadtkommandanten zu Grabe tragen!“
Es waren zwanzig Soldaten, die mit bleichen Gesichtern vortraten.
„Waffen heraus und fallen lassen!“ befahl Hasard.
Sie gehorchten. Wieder klirrte es. Zum größten Teil waren es Messer, darunter aber auch drei Pistolen.
Der Teniente hatte sich aufgerappelt und irrte quer über die Plaza, als habe er die Richtung verloren. Carberry sah, daß er schielte. Er holte ihn sich, packte ihn hinten am Kragen und schleppte ihn zum Brunnen. Dort nahm der Teniente ein Bad. Carberry tunkte ihn kräftig hinein, bis der Teniente nicht mehr schielte, dafür aber zitterte und schlotterte.
„Wollen wir noch ein bißchen boxen, Offizier?“ fragte Carberry grimmig.
„N-n-n-nein!“ schnatterte der Teniente.
„Dann steig aus und marsch zur Truppe – dorthin, wo die anderen Betrüger vor der Front stehen!“
„J-j-jawohl!“
Der Teniente war das, was man einen begossenen Pudel nennt. Das Wasser war eiskalt. Sein Kinn schwoll trotzdem mächtig an. Bibbernd baute er sich am rechten Flügel der „Betrüger“ auf und ließ die Zähne klappern.
„Die Kerle und der Teniente bleiben hier“, entschied Hasard. „Wegen Mißachtung eines Befehls des Gouverneurs werden sie sich vor einem Kriegsgericht zu verantworten haben.“ Er drehte sich zu der Residenztreppe um, wo inzwischen der Polizeipräfekt erschienen war und Meldung erstattet hatte, daß er den Befehl des Gouverneurs ausgeführt hätte. „Der Präfekt zu mir!“ rief Hasard – und auf englisch: „Karl, du bitte auch! Bring den Señor Jimeno mit!“
Karl von Hutten zeigte klar und dirigierte die beiden Männer auf die Plaza zu Hasard.
Hasard wandte sich an den Präfekten: „Das Gefängnis, Señor?“
„Dort drüben, Señor Großadmiral!“ rasselte der Polizeipräfekt und zeigte quer über die Plaza.
„Sehr gut“, sagte Hasard. „Sie haben die Ehre, die zwanzig Mann, den Teniente und den Señor Jimeno dort einzusperren, Señor Polizeipräfekt.“
„Ihr gehorsamster Diener, Señor Großadmiral!“ schnarrte der Präfekt.
Hasard seufzte. „Leider kann ich es Ihnen nicht ersparen, dort auch Aufenthalt zu nehmen, aber es wird nicht allzu lange dauern. Sie waren ein guter Mitarbeiter.“
„Befehle“, schnarrte der Polizeipräfekt, „sind dazu da, daß man ihnen gehorcht – äh – Pflichterfüllung!“
„So ist es“, sagte Hasard und salutierte eckig und mit ernstem Gesicht. Innerlich sah’s bei ihm anders aus. Es war die größte Komödie, die er je erlebt hatte. Er hätte vor Lachen bersten können.
Der Nußknacker salutierte ebenfalls. Weiß Gott, er konnte es noch besser als Philipp Hasard Killigrew, aber der war ja auch keine Marionette in diesem Theater merkwürdiger Figuren.
„Mir nach!“ befahl der Nußknacker, setzte sich an die Spitze und marschierte zum Gefängnis. Carberry und Karl von Hutten begleiteten den Trupp.
Hasard nickte dem Stadtkommandanten zu. „Sie können sich in Marsch setzen, Don Alfonso. Aber ich warne Sie, die Straße nach Sucre zu verlassen. Sie wissen ja, meine Leute haben Befehl, in einem solchen Fall sofort zu schießen. Trotzdem möchte ich unnötiges Blutvergießen vermeiden. Warten Sie in Sucre die weiteren Befehle des Gouverneurs ab. Verstanden?“