Seewölfe Paket 23

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Das Echo der Schüsse war verhallt, wieder trat Ruhe ein. Gomez blickte in die Felsspalte, in der die beiden Soldaten aufgestiegen waren. Sollte er denselben Weg nehmen und mit mehreren Musketen auf die Widersacher feuern? Welchen Erfolg brachte es ihm? Daß er ebenfalls mit durchschossener Stirn abstürzte?
„Teniente“, sagte der Sargento.
Jetzt habe ich nur noch zehn Soldaten, dachte Gomez. Wenn das so weitergeht …
„Teniente“, sagte der Sargento. „Wie lauten Ihre Befehle?“
„Weiter“, sagte Gomez. Er stieg über den Toten und schritt voran, hart an der Felswand, die Muskete schußbereit in den Fäusten. Sollte er sich des Helms entledigen? Nein, der Helm bot ihm Schutz. Und den Brustpanzer, der ebenfalls matt im Mondlicht schimmerte, konnte er auch nicht ablegen. Unmöglich, ein Soldat brauchte seine Montur, er war damit verwachsen.
Noch boten die Felsen Schutz, die auf dem Pfad lagen. Ein riesiger Quader, an die vierzig Yards von der Brustwehr entfernt, blockierte den Pfad völlig. Der Teniente verharrte und spähte vorsichtig darüber hinweg.
Er konnte nichts erkennen, keinen Gegner in der Dunkelheit. Diese Kerle waren wie Gespenster, mal tauchten sie wie ein Spuk auf, und mal verschwanden sie wieder. Sie schienen sich in Luft aufgelöst zu haben. Aber sie waren da, nicht weit entfernt. Hob er den Kopf zu sehr an, schossen sie.
Der Sargento, der alte Soldat und die anderen trafen bei ihm ein.
„Hier geht’s nicht mehr weiter“, sagte der Sargento.
„Der Brocken muß weg“, sagte Gomez.
„Aber auf dem Weg können allenfalls drei Mann nebeneinander stehen“, gab der alte Soldat zu bedenken. „Das wird ein schweres Stück Arbeit. Ich schätze, das schaffen wir kaum.“
Der Teniente sah ihn an, sein Blick war flackernd und unstet. „Der Brocken muß weg, habe ich gesagt!“
Drei Soldaten stemmten sich gegen den Quader. Sie drückten mit den Händen und Schultern dagegen, doch es war, wie der alte Mann prophezeit hatte: Der Block rührte sich nicht vom Fleck. Die anderen Soldaten versuchten mitzuhelfen, aber der Sargento geriet dabei in bedrohliche Nähe des Abgrunds. Fast glitt er aus und kippte hinunter.
„Aufhören!“ keuchte er entsetzt, dann wandte er sich an Gomez. „So hat das keinen Sinn, Teniente.“
„Wie denn?“ fragte Gomez. „Wie hat es Sinn?“
„Wir müssen aufgeben“, sagte der alte Soldat.
Gomez’ Gesicht begann sich in eine teuflische Fratze zu verwandeln.
„Man kann über den Brocken hinwegklettern“, sagte er mit seltsam gequetscht klingender Stimme.
„Ja“, sagte der Sargento. „Und wir werden abgeknallt wie auf dem Präsentierteller.“
„Und angenommen, wir rollen den Klotz wirklich in die Tiefe“, sagte der Alte, „dann stehen wir hier ebenfalls im Freien, ungeschützt und zum Sterben bereit.“
„Es sei denn, wir haben noch genügend Zeit, eine Deckung zu finden“, sagte ein anderer Soldat.
„Schlag dir das aus dem Kopf“, brummte der Alte. „Die Kerle sind zu schlau. Du kannst es drehen und wenden, wie du willst, so oder so ist es ein Glücksspiel mit dem Tod.“
Gomez stieß einen heiseren Laut aus. „Jetzt habe ich aber genug! Überklettert den Brocken! Stürmt vor! Das ist ein Befehl! Wir rennen und schießen diese Hurensöhne nieder!“
„Wahnsinn“, sagte der Sargento.
„Wie? Ich habe mich wohl verhört!“
„Das ist Wahnsinn“, sagte der Sargento ruhig und mit fester Stimme. „Ohne Deckungsfeuer ist das, was Sie vorhaben, Selbstmord, Teniente.“
„Über den Felsen hinweg!“ schrie Gomez ihn an.
„Sie können nicht von uns verlangen, daß wir uns freiwillig niederschießen lassen!“ rief der Sargento.
Gomez brüllte: „Das ist Feigheit vorm Feind! Ungehorsam! Sie haben meine Befehle auszuführen!“
Hasard und seine Männer kauerten hinter der Brustwehr und lauschten diesem Dialog.
„Hört euch das an“, sagte Hasard. „Es sieht wirklich so aus, als wolle er sie alle verheizen. Verdammt noch mal, das geht mir gegen den Strich.“
„Wir können sie nicht abknallen wie die Hasen“, sagte Carberry. „Wenn ich diesem Scheiß-Teniente gleich in Potosi den Schädel eingeschlagen hätte, wär’s besser gewesen.“
„Ich glaube, die Soldaten spielen nicht mehr mit“, sagte Stenmark. „Das hört sich verdammt nach Meuterei an.“
„Vorwärts!“ brüllte der Teniente Alvaro Gomez.
Aber es war der alte Soldat, der ihm Paroli bot.
„Señor Teniente!“ rief er höhnisch. „Warum gehen Sie nicht selbst voran und beweisen Ihren Mut? Wir folgen Ihnen gern, vorausgesetzt, es geschieht nichts Bedenkliches!“
Hasard rief zu ihnen hinüber: „Sehr richtig, Señor! Lassen Sie Ihrem Teniente den Vortritt, wir werden uns dann um ihn kümmern!“
„Da haben Sie’s“, sagte der Sargento. „Sie sind nur einen Steinwurf von uns entfernt.“
Alvaro Gomez war außer sich vor Haß. Jetzt verspottete ihn auch der Feind, und seine eigenen Leute fielen ihm in den Rücken. Er war versucht, dem Alten und dem Sargento die Faust ins Gesicht zu schmettern, bezwang sich aber doch im letzten Moment.
„Zum letzten Mal!“ brüllte er. „Vorwärts!“
„Nach Ihnen, Señor Teniente!“ schrie der Alte.
Da zog Gomez die Pistole.
7.
Er hatte jetzt vollends die Beherrschung verloren und war kaum noch Herr seiner Sinne. Er sprang zurück, riß die Pistole hoch und schwang sie hin und her.
„Ihr Bastarde!“ brüllte er. „Ich werde euch standrechtlich erschießen!“
„Überlegen Sie sich, was Sie tun, Señor“, sagte der Sargento. „Nehmen Sie doch endlich Vernunft an.“
„Er verliert den Verstand“, sagte der Alte.
„Ihr Feiglinge!“ stieß Gomez hervor. „Ihr Ratten! Euch mache ich fertig, wenn ihr nicht gehorcht! Ihr kehrt nicht nach Potosi zurück!“
„Das tun wir auch nicht, wenn wir Ihre Befehle befolgen, Teniente“, sagte der alte Soldat. „Jedes Ding hat seine Grenze. Wir wären bereit gewesen, über den Stein zu klettern und die Brustwehr da oben zu stürmen, wenn wir wenigstens ein Deckungsfeuer gehabt hätten. Aber doch nicht so!“
Sie standen empört und in lauernder Haltung vor ihm, den Rücken dem Felsquader zugewandt. Zwei oder drei von ihnen schienen auch verwirrt zu sein, aber die Mehrheit war eindeutig gegen ihn.
Dummerweise hatte Gomez seine Muskete gegen den Quader gelehnt, so daß er sie jetzt nicht zur Verfügung hatte. Sie war nicht mehr erreichbar für ihn. Der Sargento brauchte nur die Hand auszustrecken, dann hatte er sie.
Gomez richtete die Pistole langsam auf den Sargento.
„Wenn ihr feiges Pack euch einbildet, ihr könnt mich reinlegen, dann habt ihr euch getäuscht!“ zischte er.
Hasard hatte Ribault und Carberry unterdessen ein Zeichen gegeben.
„Wir müssen da eingreifen“, sagte er gedämpft. Den anderen Männern warf er noch einen raschen Blick zu. „Ihr wißt ja, was ihr zu tun habt.“ Dann verließ er die Brustwehr und huschte über den Pfad, gefolgt vom Profos und dem Franzosen.
Sie schlichen am Rand des Plateaus entlang, gelangten an die Felsen und arbeiteten sich vorsichtig darin vorwärts. Immer noch waren die Stimmen der Spanier zu vernehmen und rückten allmählich etwas näher.
Der Sargento sagte genau in diesem Moment: „Sie haben nur eine Kugel, Teniente, vergessen Sie das nicht.“
Gomez wollte lachen, aber es wurde nur ein Krächzen daraus. „Ich denke daran. Und ich denke auch, wie es aussehen wird, wenn du Hund ein häßliches Loch in deinem Schädel hast.“
„Wen von uns Sie auch erschießen“, fuhr der Sargento fort, „gegen die neun anderen haben Sie nicht die geringste Chance.“
„Ich lege dich um!“ zischte Gomez.
Der alte Soldat versuchte, sich vor den Sargento zu stellen. „Das ist noch nicht gesagt.“
„Aus dem Weg!“ brüllte Gomez ihm zu.
„Was Sie von uns verlangen, ist gegen jede Vernunft, Teniente“, sagte der Alte. „Wir sind Soldaten, und wir wollen nicht rebellieren, aber verheizen lassen wir uns auch nicht.“
„Weg! Oder ich erschieße dich!“ schrie Gomez.
Der Sargento sorgte selbst dafür, daß der alte Mann nicht gefährdet wurde. Trotz seines Protestes packte er ihn am Arm und zerrte ihn zur Seite. Der Alte stolperte und prallte mit einem der anderen Soldaten zusammen, der mit völlig entgeisterter Miene auf Gomez blickte.
„Teufel“, murmelte der Soldat. „Der tut’s wirklich.“
Gomez hielt die Pistole mit beiden Händen und war in seiner grenzenlosen Wut im Begriff, auf den Sargento abzudrücken. Doch genau in diesem Augenblick tauchte Hasard oben auf dem Felsquader auf.
Von den Steilfelsen aus hatten Hasard, Ribault und der Profos einen bisher unentdeckten Abstieg entdeckt, der sie auf den Pfad hinunterführte. Sie waren fast steckengeblieben, doch die Mühe hatte sich gelohnt – unbemerkt waren sie bis an den Felsklotz herangelangt, während sich auf der anderen Seite die Lage zuspitzte.
Jetzt war Gomez völlig überrascht, als der „schwarzhaarige Bastard“ seine Pistole auf ihn richtete und den Hahn spannte. Deutlich war das Knacken zu vernehmen.
„Lassen Sie die Pistole fallen, Teniente, oder ich schieße“, sagte Hasard.
„Der Bastard!“ brüllte Gomez wie von Sinnen.
Vergessen war der Sargento. Er richtete die Pistole auf den Seewolf und zog durch. Im selben Moment feuerte auch Hasard. Gleichzeitig wich er zur rechten Seite aus.
Gomez’ Kugel pfiff haarscharf an ihm vorbei. Hasard vermutete im ersten Hinsehen, daß auch seine Kugel fehlgegangen war. Aber er irrte sich. Gomez war getroffen.
Gomez wurde zurückgestoßen. Er taumelte quer über den Pfad und verlor die leergeschossene Pistole aus der Hand. Seine Hände griffen ins Leere und schienen irgendwo nach einem Halt zu suchen. Er röchelte und faßte sich an die Brust. Jetzt war auch der dunkle Fleck an seinem ungeschützten Hals zu sehen, der sich allmählich vergrößerte.
Nur noch einen einzigen Schritt tat Alvaro Gomez, dann hatte er – unter den Blicken seiner Männer – den Rand des Pfades erreicht. Keiner traf Anstalten, ihn festzuhalten. Er kippte über den Rand und verschwand in der Finsternis. Sein gellender Schrei tönte durch die Nacht und verebbte, dann war nichts mehr zu vernehmen, nicht einmal ein Aufprall.
In der Zwischenzeit war auch Jean Ribault neben Hasard aufgetaucht. Hasard wandte sich halb um. Carberry warf ihm einen Blunderbuss zu, Hasard fing ihn geschickt auf, spannte den Hahn und richtete ihn auf die Soldaten.
„Weg mit den Waffen!“ befahl er ihnen.
Der Sargento gehorchte als erster. Die anderen folgten seinem Beispiel.
Der Alte grinste sogar und sagte: „Na also. Jetzt sind wir Gefangene, aber wenigstens ist es Gomez nicht gelungen, dich abzuknallen, Sargento.“
„Damit wäre auch ich nicht einverstanden gewesen“, sagte Ribault mit ernster Miene.
„In Ordnung, Señores“, sagte Hasard. „Sie marschieren jetzt nach Potosi zurück.“
„Sie wollen uns – wirklich laufen lassen?“ fragte der Sargento erstaunt.
„Ja, das habe ich vor. Haben Sie etwas dagegen?“
„Natürlich nicht. Aber ich …“
„Señor“, sagte Ribault. „Sie können auch bleiben, wenn Sie wollen. Vielleicht ziehen Sie es vor, Don Ramón de Cubillo Gesellschaft zu leisten?“
„Auf keinen Fall!“
„Sargento“, sagte der alte Soldat. „Ich glaube, es wird Zeit, daß wir verschwinden.“
„Die Maultiere bleiben natürlich hier“, sagte Hasard. „Sie müssen es schon auf sich nehmen, den Rückweg zu Fuß anzutreten. Ich glaube aber, daß es Ihnen keine allzu große Mühe bereiten wird.“
„Danke“, sagte der Sargento, der jetzt seine Fassung wiedererlangte. „Sie haben mir das Leben gerettet, Señor. Und meinen Kameraden auch.“
„Dafür brauchen Sie sich nicht zu bedanken“, sagte der Seewolf kühl. „Ich habe etwas dagegen, wenn man guten Männern keine Chance läßt. Und zu den guten Männern zähle ich vor allem jene, die in den Minen von Potosi für Ihren König von Spanien krepieren müssen.“
Der Sargento senkte unwillkürlich den Blick.
„Ich verstehe“, murmelte er.
„Vielleicht denken Sie darüber einmal nach“, sagte Hasard. „Mein Gott – kein Vizekönig, kein Provinzgouverneur und kein Luis Carrero hat das Recht, unschuldige Menschen zu versklaven, auszurotten, zu schinden oder zu demütigen. Und auch Indios sind Menschen, Señores. Sie haben dieselben Rechte wie wir. Man hat sie ihres Landes beraubt, und jetzt sollen sie ausgerottet werden. Kann man einem Volk etwas Schlimmeres antun?“
„Wer sind Sie, Señor?“ fragte der Sargento.
„Ein Feind Ihres Königs“, erwiderte Hasard.
„Das merkt man“, sagte der alte Soldat. Hölle, er konnte es einfach nicht verbergen: Dieser schwarzhaarige Riese imponierte ihm!
„Und ein Feind aller derer, die sich anmaßen, über andersfarbige Menschen zu herrschen und die Peitsche zu schwingen“, fuhr der Seewolf fort.
Der Sargento blickte zu ihm auf und versuchte, mehr aus den Zügen dieses Mannes zu lesen. Was für ein sonderbarer Mann, dachte er, aber er hat doch recht, dieser Fremde. Wer sind wir eigentlich? Gott auf Erden? Eines Tages gibt es einen gewaltigen Knall, und das spanische Königreich existiert nicht mehr.
Auch der Sargento mußte sich eingestehen, daß er eine ungeheure Achtung vor dem schwarzhaarigen Riesen hatte. Unglaublich: Dieser Mann hatte das Unmögliche fertiggebracht und Potosi mit einem Schlag aus den Angeln gehoben – mit nur elf Männern! Das bewies einerseits, wie verletzlich Spanien doch war, und andererseits, daß auch Städte wie Potosi vor dem Zugriff eines Feindes nicht sicher waren. Ein starker Gegner – er war nicht zu überwältigen. Wenn man ihm fünfzig Soldaten nachgesandt hätte, wäre er auch mit diesen fünfzig fertig geworden.
„Noch etwas“, sagte Hasard. „Nehmen Sie Ihren Kameraden mit. Ich habe nicht das geringste Interesse daran, ihn hierzubehalten.“
Carberry verschwand auf sein Zeichen hin und kehrte über den Pfad zu der Brustwehr zurück, wo die anderen mit gespannten Mienen warteten.
„Ihr habt es ja gehört“, sagte der Profos. „Wir lassen die Dons verduften. Es ist aber auch richtig so. Was sollen wir mit so vielen Gefangenen?“
Pater David hatte den Gefangenen bereits aus der Höhle geholt. Er nahm ihm den Knebel ab, und der Mann stammelte: „Was habt ihr vor? Was wollt ihr mit mir machen?“
„Du kehrst nach Potosi zurück“, entgegnete der Gottesmann.
„Ich … Wer hat mich niedergeschlagen?“
„Ich.“
„Dafür wird der Teniente Gomez mich zu Tode peitschen.“
„Der Teniente Gomez lebt nicht mehr“, sagte Pater David. „Er wird keinen Menschen mehr mißhandeln, Soldat. Wie heißt du?“
„Hernan Tores.“
„Gut, Hernan Tores. Geh hin, bete zu Gott und danke ihm dafür, daß du mit einem blauen Auge davongekommen bist.“
„Ihr seid – Spanier, Padre?“
„Ja. Einen schönen Gruß auch an Potosi, und man soll es aufgeben, gute Soldaten für sinnlose Unternehmen zu verheizen.“
„Ja, ja“, sagte Hernan Tores. „Ich wußte nicht, daß ein Padre so hart zuhauen kann.“
„Ein Padre kann dies und anderes mehr“, erwiderte Pater David mit gütiger Miene. „Aber jetzt geh endlich, mein Sohn, sonst verpaßt du den Anschluß.“
Er übergab Hernan Tores Carberry, und dieser führte ihn bis zu dem Felsbrocken. Hier durfte der Soldat zu seinen Kameraden klettern – vorbei an dem schwarzhaarigen Riesen und dem grinsenden Franzosen, die er in einer Mischung aus Entsetzen und Bewunderung anstarrte.
„Es ist alles meine Schuld“, sagte Tores.
„Nein“, entgegnete der Sargento. „Wir wären so oder so in die Falle gelaufen. Und wenn der Teniente seinen Wahnsinn weiter getrieben hätte, wären wir jetzt alle tot.“
„Wir haben Glück“, sagte Tores.
„Und wir haben Gnade gefunden“, sagte der alte Soldat mit einem neuerlichen Blick zu Hasard. Er nahm seinen Helm ab und deutete eine Verbeugung an. „Danke, Señor. Auch ich werde nicht vergessen, was Sie getan haben.“
Wenig später zogen die Soldaten ab und ließen die fünf Maultiere, die sie noch bei sich gehabt hatten, zurück.
Hasards Männer räumten in mühsamer Arbeit den Felsquader weg. Carberry legte sich mächtig ins Zeug, und er war es schließlich, der dem Klotz den entscheidenden Stoß versetzte. Donnernd rumpelte der Felsen über die Kante und raste in die Tiefe. Als er unten aufprallte, war ein grollender Laut zu vernehmen.
Hasard und seine Männer räumten noch einige kleinere Gesteinsbrocken aus dem Weg, dann begaben sie sich zu den fünf Maultieren.
„Feine Tierchen“, sagte Carberry. „Gesund und munter sehen sie aus. Na, dann haben wir also dreißig Maultiere.“
„Sicher“, sagte der Seewolf. „Aber diese zehn Viecher, die wir heute nacht erbeutet haben, werden wir bei der Indio-Familie lassen, bei der sich Fred befindet.“
„Fred Finley“, sagte Ribault grinsend. „Den hätte ich glatt vergessen, wenn du mich nicht an ihn erinnert hättest. Ob sein Knöchelbruch wohl geheilt ist?“
„Mit Sicherheit“, entgegnete der Seewolf. „Und vielleicht hat er inzwischen geheiratet.“
Ribault mußte lachen. „Ach, du meinst, er ist auch, ein Indio geworden? Warum nicht?“
„Ihr spinnt“, sagte der Profos. „Und ich habe keine Lust, mir das noch länger anzuhören.“ Er packte die Zügel der Maultiere. Sie sträubten sich ein wenig, folgten ihm dann aber brav und friedlich. „Euer Glück“, brummte er, „daß kein so störrisches Biest wie dieser Diego unter euch ist. Das hätte uns noch gefehlt.“
Sie kehrten auf das Plateau zurück. Die Brustwehr wurde beseitigt, die Maultiere konnten passieren und wurden in die Höhlen gebracht. Jetzt war der Weg wieder frei.
Hasard und die anderen Männer beobachteten noch einige Zeit den Pfad, aber die Soldaten tauchten nicht wieder auf. Sie waren wirklich froh, alles hinter sich zu haben, und sie dachten nicht im entferntesten daran, sich irgendeines Tricks zu bedienen.
Tores schritt neben dem Sargento und dem alten Soldaten.
„Wer ist dieser schwarzhaarige Kerl?“ fragte er, während sie mit raschen Schritten dem Verlauf des abfallenden Pfades folgten.
„Das weiß keiner“, erwiderte der Sargento. „Er Spricht ohne jeden Akzent wie ein Spanier.“
„Aber er ist keiner“, sagte der Alte. „Dafür lasse ich mir notfalls die Hand abhacken.“
„Nicht nötig“, sagte der Sargento. „Ich bin selbst davon überzeugt, daß er ein Fremder ist. Vielleicht ein Italiener.“
„Nein. Ein Engländer.“
„Was?“ Der Sargento glaubte, nicht richtig gehört zu haben. „Ist das dein Ernst?“
„Mein voller Ernst. Aber am besten vergeßt ihr das gleich wieder. Wir sollten es für uns behalten.“
„Engländer in Potosi“, sagte der Sargento. „Das ist wirklich ungeheuerlich.“
„Ich bin froh, daß ich mit heiler Haut davongekommen bin“, sagte Tores. „Damit hätte ich nicht mehr gerechnet. Ich hatte schon mein letztes Gebet gesprochen. Jetzt kann ich mich vom Pfarrer neu taufen lassen.“
„Hast du eigentlich Don Ramón irgendwo gesehen?“ fragte ihn der Alte.
„Nein. Aber in einer Höhle jammerte jemand. Vielleicht war er das.“
„Ich kann ihn nicht bedauern“, sagte der Sargento. „Er ist ein widerlicher Sadist und ein perverser Hund. Wenn sie ihn ein bißchen piesacken, geschieht es ihm ganz recht.“
„Wie gut, daß der Teniente das nicht hören kann“, sagte der Alte. „Nun, er hat sein Fett bekommen. Recht so. Keiner weint ihm eine Träne nach. Oder?“ Er wandte sich um und blickte die anderen an. „Täusche ich mich?“
Sie schüttelten die Köpfe. Gomez hatte auch sie in den Tod treiben wollen. Statt dessen hatte er ins Gras gebissen. Er hatte es selbst so haben wollen, es war seine eigene Schuld. Man konnte ihn wirklich nicht bedauern, beim besten Willen nicht.
8.
Delon und Ventura waren die ganze Zeit über nicht untätig gewesen. Sie hatten den Geräuschen gelauscht. Draußen fand ein Kampf statt – die Soldaten aus Potosi waren da. Das führte zwangsläufig dazu, daß der Feind abgelenkt war und sich um seine Gefangenen nicht kümmern konnte.
Sie waren gefesselt und geknebelt, aber sie konnten auf dem Hosenboden durch die Höhle rutschen. Bis an die Wand. Hier gab es scharfkantige Vorsprünge, an denen sie – mit einigen Verrenkungen – ihre Handfesseln reiben konnten.
Ventura glaubte, die Stricke in kurzer Zeit durchscheuern zu können. Aber er irrte sich. Es war ein mühseliges Werk, das sehr viel Zeit erforderte. Immer wieder hielt er inne. Bald wollte er es aufgeben, denn der ersehnte Erfolg stellte sich nicht ein. Die Fesseln waren immer noch straff wie zuvor, sie hatten sich nicht einmal ein bißchen gelockert.
Delon rieb und scheuerte eifriger und kam schneller voran. Er befand sich auch in einer günstigeren Position. Der scharfkantige Stein, an dem er die Fesseln rieb, ragte nur wenige Zoll über dem Boden aus der Höhlenwand. Er konnte im Sitzen arbeiten, während Ventura sich halb aufrichten mußte – eine verkrampfte Haltung, die ihm viel Energie abverlangte.
Die Zeit verstrich. Draußen war es ruhig geworden. Vorbei waren die Schüsse und Schreie, vorbei auch das Reden der Männer. Stille war wieder eingetreten. Delon und sein Kumpan vermuteten, daß die Feinde sich schlafen gelegt hatten. Das war auch richtig: Nur Dan O’Flynn und Pater Aloysius gingen bei der Barriere Wache.
Delon schloß die Augen. Ununterbrochen bearbeitete er die Stricke, das harte, scharfe Gestein schnitt ihm auch in die Haut. Blut rann ihm über die Hände. Die Gelenke begannen wie verrückt zu schmerzen. Er kümmerte sich nicht darum. Wie besessen feilte er an dem Tauwerk herum. Seine Finger waren wie abgestorben, die Stricke schienen tief ins Fleisch einzudringen. Delon achtete nicht darauf, er hatte nur sein Ziel vor Augen.
Aus den Nachbarhöhlen drangen Schnarchgeräusche herüber. Irgend jemand schien auch im Schlaf zu wimmern. Don Ramón, diese feige Ratte, dachte Delon verächtlich. Zur Hölle mit ihm!
Wenn das Vorhaben gelang, mußte er Ventura befreien. Gemeinsam würden sie von diesem Plateau der Hölle fliehen, das sie anderenfalls wahrscheinlich nicht mehr lebend verlassen würden.
Delon hatte seine eigenen Vorstellungen von der Art, wie die Bastarde, wie er sie nannte, weiterhin mit ihnen verfahren würden. Denen war nicht daran gelegen, sie auch noch als zusätzlichen Ballast mitzuschleppen.
Und wenn die Kerle sie nicht töteten, dann würden das die drei Indios besorgen. Den ganzen Tag über waren sie herumgeschlichen und hatten Delon und Ventura immer wieder mörderische, haßerfüllte Blicke zugeworfen.
Flucht – das war die einzige Rettung. Eins war dabei jedoch gewiß: Er, Delon, würde für den dicken Don Ramón keinen Finger rühren. Ventura war mit Sicherheit der gleichen Ansicht.
Und wenn der Hund tausendmal der Provinzgouverneur gewesen war – jetzt zählte er keinen Silberling mehr. Sein Leben war nichts wert, und es brachte ihnen nichts ein, wenn sie ihn mitschleiften. Er würde sie durch sein Gejammer ohnehin nur verraten. Außerdem war er zu langsam. Nein, der Dicke würde hierbleiben. Sollten die Indios ihn zerfleischen.
Delon öffnete die Augen wieder und blickte zu Ventura, dessen Gestalt er im Dunkel mehr ahnen als wirklich sehen konnte. Ventura schien Schwierigkeiten zu haben. Er würde es wahrscheinlich nicht schaffen, seine Fesseln vor dem Hellwerden aufzureiben. Nur er, Delon, mußte es fertigbringen. Von ihm hing alles ab.
Dan O’Flynn und Pater Aloysius unterhielten sich leise miteinander. „Wie spät ist es deiner Meinung nach?“ fragte der Gottesmann.
„Gegen drei Uhr, schätze ich.“
„Glaubst du, daß wir heute nacht noch Besuch erhalten?“
„Von weiteren Soldaten?“
„Ja, natürlich“, brummte Pater Aloysius. „Nicht vom Heiligen Geist.“
„In Arica weiß man nichts“, murmelte Dan. „Wir haben die Boten ja abgefangen. Daß von Potosi aus eine Nachhut unterwegs ist, ist ziemlich unwahrscheinlich. Und die zehn, die wir haben laufenlassen, kehren bestimmt nicht zurück.“
„Also bleibt alles ruhig“, sagte der Gottesmann. „Ja, das denke ich auch. Im Morgengrauen können wir wohl wieder aufbrechen. Aber was wird dann aus den Gefangenen?“
„Die nehmen wir mit, soviel mir bekannt ist.“
„Wie weit ist es noch bis zur Küste?“ überlegte Pater Aloysius. „Drei bis vier Wochen werden wir wohl unterwegs sein. Wenn ich daran denke, daß der Profos den Dicken wieder antreiben wird, wird mir anders.“