Seewölfe Paket 23

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„Es könnte auch sein, daß Hasard Don Ramón irgendwo auf dem Altiplano zurückläßt“, sagte Dan.
„Und die beiden anderen?“
„Es wäre wohl das beste, wenn sie auch in den Bergen bleiben würden.“ Dan sann darüber nach. Welche Probleme brachte das mit sich? Würden dieser Delon und dieser Ventura nicht versuchen, ihnen trotzdem zu folgen? Oder eilten sie geradewegs nach Arica, um Alarm zu schlagen? Gewiß – das würde ihre Rache sein. Und diesmal erreichten sie Arica, zumal Hasard und sein Trupp ja nicht nach Arica, sondern nach Tacna gingen. Don Ramón de Cubillo hingegen stellte keine Gefahr dar, wenn er ausgesetzt wurde, denn er bewegte sich ja mit der Geschwindigkeit einer Schnecke.
Während Dan und der Pater über diesen Punkt nachdachten, war es Delon gelungen, seine Handfesseln zu lockern. Wie wild wetzte er sie an dem scharfen Felsen. Die Hände und die Gelenke brannten wie Feuer, aber jetzt, endlich, sprangen die Stricke auf.
Er ließ sich mit dem Rücken gegen die Wand sinken und hob langsam die Hände. Sie waren völlig gefühllos, er hatte Schwierigkeiten, sie zu bewegen. Aber schließlich gelang es ihm, sich den Knebel aus dem Mund zu zerren. Er atmete auf. Wieder war er ein Stück weiter. Jetzt kamen die Fußfesseln an die Reihe. Aber zuerst mußte er seine Finger massieren, damit er sie wieder richtig bewegen konnte.
Jede Regung tat weh. Er biß die Zähne zusammen. Die Gelenke bluteten immer noch, doch er hatte keine Zeit, sie zu verbinden. Das würde er später tun. Jetzt kam es darauf an, so schnell wie möglich zu verschwinden, bevor die Kerle aufwachten oder auf den Gedanken verfielen, ihre beiden Gefangenen zu kontrollieren.
Allmählich spürte Delon die Finger wieder, und er begann, die Knoten der Fußfesseln zu lösen. Zunächst hatte es den Anschein, als würde es nicht gelingen, dann aber dröselte er den einen Knoten auf, und die Stricke lockerten sich. Der Rest war ein Kinderspiel.
Endlich war er frei, die Fesseln und der Knebel lagen auf dem Höhlenboden. Er kroch zu Ventura und gab diesem durch ein Zeichen zu verstehen, er solle sich auf den Boden setzen. Ventura sank herunter. Er hatte wieder versucht, die Handstricke aufzuwetzen, aber für ihn war es ein viel zu langwieriges, unmögliches Unterfangen. Erleichtert verfolgte er mit seinem Blick, wie sich Delon vor ihn hinkniete, ihn von den Handfesseln befreite und ihm den Knebel aus dem Mund nahm.
„Danke, Amigo“, raunte er ihm zu. „Hölle, ich dachte schon, ich werde verrückt.“
„Sei still“, flüsterte Delon. „Sie dürfen uns nicht hören.“
Wenige Augenblicke später war Ventura auch von seinen Fußfesseln befreit. Über die weitere Verfahrensweise brauchten sie sich nicht abzusprechen. Sie mußten ungesehen entkommen, natürlich mit zwei Maultieren, die sie schnell davontragen und etwaige Verfolger abhängen würden.
Geduckt verließen sie die Höhle und schlichen hinüber zu den angehobbelten Maultieren. Sie hatten sie fast erreicht, da geschah etwas, mit dem sie absolut nicht gerechnet hatten. Laute, trompetenartige Geräusche ertönten – Diego, das Maultier, hatte sie bemerkt und schlug auf seine Weise Alarm.
Dan O’Flynn und Pater Aloysius, die sich nach wie vor auf ihrem Wachtposten befanden, fuhren herum und entdeckten die beiden Gestalten bei den Maultieren.
„He!“ stieß Dan hervor.
Delon und Ventura waren wie vom Donner gerührt, aber jetzt war es Delon, der als erster reagierte.
„Weg!“ zischte er.
Sie ergriffen die Flucht und jagten über das Plateau westwärts, dorthin, wo der Pfad in Richtung Arica verlief.
„Halt!“ brüllte Dan. „Oder ich schieße!“
Aber Delon und Ventura dachten nicht daran, stehenzubleiben. Sie hetzten weiter. Die Distanz zwischen ihnen und dem Gegner wuchs. Im Dunkeln hatten sie die Chance, zu entkommen, gleich konnte man sie nicht mehr sehen.
Wir schaffen es, dachte Delon triumphierend, sie erwischen uns nicht mehr, diese Hunde!
Frei! schrie es in Ventura. Ab zwischen die Felsen, da kriegen sie uns nicht!
Carberry fuhr von seinem Lager hoch und stieß sofort Jean Ribault mit dem Ellenbogen an, der neben ihm lag. Ribault fluchte, richtete sich aber ebenfalls auf und vernahm die Rufe, die von der Barriere aus ertönten.
„Was ist da los?“ fragte er.
„Diego hat offenbar im richtigen Moment Blähungen gehabt“, sagte der Profos. „Holle, wenn mich nicht alles täuscht, reißen unsere Gefangenen gerade aus!“
Hasard war bereits auf den Beinen und wollte ins Freie stürmen, stoppte aber ab, als er sah, wie Dan und Pater Aloysius die Musketen hoben. Er durfte ihnen nicht in die Schußlinie geraten.
Dan und der Pater feuerten. Die Musketen krachten fast gleichzeitig. Im Aufzucken der Mündungsblitze konnte Hasard die beiden flüchtenden Gestalten deutlich erkennen. Sie hatten den Pfad fast erreicht, aber Dan und auch der Pater waren hervorragende Schützen.
Delon wurde ein Stück nach vorn geschleudert und brach zusammen. Er blieb auf dem Bauch liegen. Ventura krümmte sich, humpelte noch ein paar Schritte weiter und fiel dann ebenfalls hin. Er wälzte sich auf den Rücken und stöhnte auf.
Pater Aloysius hatte keinerlei Hemmungen gehabt, auf Ventura, den er aufs Korn genommen hatte, abzudrücken. Bei ihm galt das biblische Auge um Auge, Zahn um Zahn.
„Recht so“, sagte er grimmig und ließ die Muskete wieder sinken. „Das ist die Strafe des Herrn. Warum haben sie sich bloß eingebildet, sie könnten fliehen, ohne daß wir es merken?“
„Ich weiß es nicht“, sagte Dan. „Aber die haben wohl gedacht, wir würden sie so oder so töten.“
„Das beweist, wes Geistes Kind sie sind“, sagte Pater Aloysius. „In ihrer Vorstellungswelt gibt es nur Galgenstricke und Schlagetots, wie sie es sind.“
Delon vernahm noch diese Worte, und er spuckte einen Fluch aus. Er wollte sich auf den Rücken drehen, irgend etwas unternehmen, davonkriechen, aber ein glühender Hammer schien in seinen Rücken zu schlagen, und von einem Moment auf den anderen erlosch sein Lebenslicht. Er sackte ganz auf den Boden und hörte nicht mehr, wie sich die Männer näherten und über ihn beugten.
Hasard war als erster bei ihm.
„Tot“, sagte er, dann wandte er sich Ventura zu.
Ventura war noch am Leben. Voll Haß blickte er zu dem Riesen hoch und würgte ein paar Worte hervor: „Fahr – zur – Hölle …“
„Bestimmt nach euch“, sagte Hasard grimmig.
„Du – Bastard …“
Pater David war ebenfalls zur Stelle und beugte sich über Ventura.
„Willst du dein Gewissen nicht wenigstens jetzt erleichtern?“ fragte er. „Bereue deine Sünden. Bitte um Vergebung.“
Ventura hustete. Er wollte noch eine üble, lästerliche Verwünschung ausstoßen, doch seine Zunge gehorchte ihm nicht mehr. Er bäumte sich noch einmal auf, dann war es auch mit ihm aus. Schlaff sank er zusammen und blieb reglos liegen.
Pater David und Pater Aloysius bekreuzigten sich und murmelten ein Gebet. Hasard richtete sich auf und drehte sich zu den Kameraden um. Er sprach es zwar nicht aus, aber er war für diese Lösung beinahe dankbar. Denn diese beiden Kerle vom Typ des Luis Carrero wären für sie eine ständige Belastung und Bedrohung gewesen.
Daß Luis Carrero inzwischen nicht mehr lebte, wußten weder Hasard noch die Kameraden. Der Oberaufseher von Potosi hatte versucht, von der „Estrella de Málaga“ zu fliehen. Es war ihm auch gelungen, aber unweit der Ankerbucht der „Estrella“ und der „San Lorenzo“ hatte Plymmie, die Wolfshündin, ihn eingeholt und ihm die Kehle zerfetzt. So hatte auch Carrero sein verdientes Ende gefunden, doch Hasard und die Männer des Potosi-Trupps würden es erst erfahren, wenn sie wieder an Bord ihrer Schiffe waren.
So zerbrach sich der Seewolf auch über Luis Carrero den Kopf. Wie sollte er mit ihm verfahren? Carrero hatte einen hundertfachen Tod verdient. Aber er, Hasard, war nicht sein Richter. Höchstwahrscheinlich würde er den Kerl auf einer einsamen Insel aussetzen. So dachte er, während er zu den Höhlen zurückkehrte.
Und was sollte mit Don Ramón de Cubillo geschehen? Er war eine Last für sie, ein Klotz am Bein, wie Carberry richtig gesagt hatte. Welchen Sinn hatte es überhaupt, ihn bis nach Tacna mitzuschleppen? Er war als Geisel wertlos.
Hasard nahm sich vor, den Dicken auf dem Altiplano auszusetzen – mit genügend Proviant und einer Waffe. Sollte er zusehen, wo er blieb oder wohin er sich wandte – falls er es überhaupt jemals schaffte, sich selbst durchzuschlagen.
Toparca, Chupa und Atitla traten vor Hasard hin. Toparca begann zu sprechen. Hasard winkte Karl von Hutten zu, und dieser näherte sich, um die Worte des Indios zu übersetzen.
„Ihr habt uns eine Arbeit abgenommen“, sagte Toparca. „Wir hätten sonst diesen Hunden die Kehlen durchgeschnitten.“
„Ohne meine Genehmigung?“ fragte der Seewolf.
„Ich hätte es getan“, erwiderte Chupa. „Auch auf die Gefahr hin, mir deinen Zorn zuzuziehen, weißer Bruder.“
„Ihr müßt uns verstehen“, sagte Atitla. „Wir können nicht dulden, daß diese Bestien in Menschengestalt weiterleben. Darum verlangen wir auch, daß du den Dicken herausgibst.“
„Das kann ich nicht tun“, entgegnete Hasard. „Begreift ihr das nicht? Ich habe schon versucht, es euch auseinanderzusetzen. Wenn sie sich wie die Tiere benehmen, dürfen wir es ihnen nicht gleichtun. Im übrigen hatte er uns geholfen, den Stadtrat von Potosi auszuschalten und es uns dadurch ermöglicht, euch zu befreien. Dafür versprach ich ihm eine Chance zum Überleben.“
Pater Aloysius war zu ihnen getreten und schaltete sich jetzt ein.
„Wir haben die Kerle auf der Flucht erschossen, aber nicht vorsätzlich getötet“, erklärte er den drei Indios. „Da besteht ein Unterschied. Habt also Geduld und haltet euch zurück. Der Herr wird über jene richten, die euch gequält haben. Und wenn ihr etwas gegen den Willen meines Freundes Hasard unternehmt, kriegt ihr es mit mir zu tun.“
Betreten blickten sie zu Boden. „So haben wir es auch nicht gemeint“, sagte Toparca schließlich. „Es ist nur – der Haß, der in uns ist.“
„Ich kann euch sehr gut verstehen“, sagte Hasard. „Aber keiner von uns wird seine Gegner mutwillig umbringen. So verhält es sich auch mit den Soldaten. Wenn sie nicht versucht hätten, unsere Stellung zu stürmen, wären sie alle noch am Leben.“
„Dieser Narr von einem Teniente“, sagte Karl von Hutten. „Es hat ihn einen Dreck gekümmert, was mit seinen Soldaten geschah. Ein Glück, daß du ihn erschossen und die Überlebenden hast laufenlassen.“
„Schon gut“, sagte der Seewolf einsilbig.
Sie suchten wieder ihre Schlafplätze auf. Dan setzte die unterbrochene Wache an der Barriere fort. Pater David und Pater Aloysius bestatteten die beiden Toten unter Steinen. Erste graue Schleier im Osten kündigten das Heraufziehen des neuen Tages an – und der Trupp konnte sich bald wieder auf den Marsch begeben.
Am Morgen dieses 2. Januar war Hasard wieder früh auf den Beinen und unternahm einen Rundgang über das Plateau. Er blieb stehen und betrachtete jene Stelle, wo der Pfad von Potosi her auf das Plateau führte und sie ihre Barriere errichtet hatten.
„Die Brustwehr wird nicht ausreichen, weitere Verfolger abzuhalten“, sagte er zu Stenmark und Matt Davies, die die Wache übernommen hatten. „Wir sollten gründlich Vorsorgen, damit es keinen Ärger mehr gibt.“
„Wie?“ fragte Stenmark. „Willst du wieder für eine Lawine sorgen?“
„Das halte ich für das beste“, erwiderte der Seewolf. Er ging zu Ribault, der jetzt auch auf den Beinen war.
„Komm mit“, sagte er. „Wir müssen noch mal in die Steilfelsen hinauf.“
„Was hast du, vor?“
„Ich will ein bißchen Zauber veranstalten“, sagte Hasard. „Damit wir auf jeden Fall den Rücken frei haben und vor weiteren unliebsamen Überraschungen sicher sind.“
„Ich kann mir schon denken, was das wird“, sagte Ribault grinsend.
Kurz darauf stiegen sie in die Felsen auf – vom Plateau aus gesehen links des Pfades, wo sie sich bereits in der Nacht bewegt hatten. Hasard begann, mit kleinen Steinen die Stellen zu markieren, wo er Pulverladungen anbringen lassen wollte.
„Wir haben genug Fässer dabei“, sagte er. „Einige von ihnen können wir ruhig opfern – für unsere Sicherheit.“
„Eben“, sagte Ribault. „Man soll nie an der falschen Stelle sparen.“
„Was hältst du davon, wenn wir hier die stärkste. Ladung anbringen?“ fragte Hasard. Sie befanden sich unmittelbar über dem Pfad, an einem dicken Felsbrocken, der sich fast von allein auf den Pfad zu senken schien.
„Eine gute Idee“, sagte Ribault. „Wenn die Ladung kräftig genug ist, löst sich der ganze Klotz und kracht auf den Pfad ’runter.“
Wieder markierte Hasard die Stelle, dann krochen sie weiter. Wenig später hatte er insgesamt zehn Plätze für die Pulverfässer ausgesucht. Dann richtete er sich hoch auf und gab Carberry, Dan und den anderen, die inzwischen alle aufgestanden waren, durch Zeichen zu verstehen, daß sie die Pulverfässer bringen sollten.
Don Ramón de Cubillo war seines Knebels wieder entledigt worden. Aus geweiteten Augen blickte er zu den Männern und verfolgte, wie sie die Pulverfässer in die Felsen trugen.
„Was geht da vor?“ fragte er mit bebender Stimme Pater David.
„Ach, meine Freunde bereiten nur ein kleines Erdbeben vor“, erwiderte Pater David.
„Wem gilt das?“
„Wem schon? Dir vielleicht, Señor?“
„Ich habe Angst“, gestand Don Ramón. „Gräßliche Angst. Und ich will nicht sterben. Bewahre mich davor, Padre. Leg ein gutes Wort für mich ein. Ich flehe dich an.“
„Bei wem soll ich es einlegen? Bei Gott?“
„Bei dem schwarzhaarigen Ba… bei eurem Anführer.“
Pater David verschränkte die Arme vor der Brust. „Warum hast du nicht früher darüber nachgedacht, Gouverneur?“
„Über was?“
„Darüber, daß man nicht ungestraft morden, andere Menschen quälen und sich auf ungesetzliche Weise bereichern darf?“
„Aber – das tun doch alle.“ Don Ramón benetzte die spröden Lippen mit der Zunge. „Glaubst du, daß der Vizekönig von Lima anders ist als ich?“
„Du mußt nicht den als Vergleich heranziehen, sondern anständige Menschen. Es gibt sie, Señor.“
„Das weiß ich. Und auch ich werde mich bessern.“
Pater David schüttelte den Kopf. „Leere Versprechungen. Du änderst dich nie, Señor. Das sagt mir meine Menschenkenntnis. Du bist so, wie du bist, und auch die härteste Strafe wandelt dich nicht.“
Don Ramón war den Tränen nah. „Gib mir doch wenigstens eine Chance.“
„Das hängt nicht von mir ab“, sagte der Gottesmann, dann wandte er sich ab und ging zu den anderen hinüber.
Mittlerweile waren die Pulverfässer in den Felsen plaziert worden. Hasard wollte genügend Felsen absprengen, die den Pfad endgültig unpassierbar machten. Die zehn Pulverfässer waren gut verdammt und mit Lunten versehen. Hasard, Ribault, Carberry und Dan zogen sich mit einer langen Lunte aus den Felsen und zum Plateau zurück.
„Sehr gut“, sagte Pater Aloysius grinsend. „Jetzt kann es losgehen, nicht wahr?“
„Das ist wohl nach deinem Geschmack“, sagte Pater David.
„Wir Tiroler haben eine enge Beziehung zum Pulver“, entgegnete Pater Aloysius, und in seinen Augen schienen Teufelchen zu tanzen. „Wir sind richtige Rebellen und wehren uns gegen jeden, der uns zu überrumpeln versucht. Uns unterwirft keiner, wir sind unabhängig.“
„Was ist das bloß für ein Land, dieses Tirol?“ wollte Matt Davies wissen.
„Es ist gebirgig“, erwiderte Pater Aloysius.
„Und das Meer? Wo ist das Meer?“
„Bei mir zu Hause gibt es kein Meer, nur Seen“, antwortete der Gottesmann.
„So was“, murmelte Matt Davies enttäuscht. „Ein Land ohne Meer. Das ist ja nun wirklich das Allerletzte. Alles nur Landratten, kein einziger Seemann, was?“
„Trotzdem ist Tirol das schönste Land der Welt“, sagte der Pater bissig.
„Helvetien soll auch sehr schön sein, hab’ ich gehört“, sagte Dan lachend.
„Wo liegt das denn?“ fragte Matt. „Nie gehört.“
„Um so besser“, sagte Pater Aloysius. „Tirol ist viel besser und größer – und mit Helvetien auch überhaupt nicht zu vergleichen.“
„Nun streitet euch nicht“, sagte Hasard. „Zündet lieber die Lunte an.“
Ribault holte ein Stück Feuerstein hervor. Carberry gab ihm einen Flint, und Ribault schlug damit gegen den Feuerstahl. Die sprühenden Funken fielen auf die Lunte und entfachten sie.
Don Ramón hockte auf einem Stein. Er wäre aufgesprungen und fortgelaufen, wenn er nicht gefesselt gewesen wäre. Seine Augen weiteten sich noch mehr, und in seinem teigigen Gesicht zuckte es unaufhörlich. Knisternd brannte die Lunte ab, eine zischende Spur lief über das Plateau und verschwand zwischen den Felsen.
„Jetzt ist es soweit“, sagte Carberry grinsend und rieb sich die Pranken.
Don Ramón begann zu wimmern. Als die erste Explosion grollend ertönte und die Felsen beben ließ, schrie er auf. Bei der zweiten Explosion kreischte er wie von Sinnen. Carberry stieß einen Fluch aus, trat zu ihm und steckte ihm wieder den Knebel in den Mund.
Im Stakkato erfolgten auch die anderen Explosionen, und sie lösten über eine Länge von knapp dreißig Yards fast einen Bergrutsch aus. Es krachte, wackelte und dröhnte, eine gewaltige Staub- und Pulverqualmwolke stieg auf und wälzte sich über die Berge.
Als sich die Wolken allmählich verflüchtigten, nahmen die Männer ihr Werk in Augenschein.
„Es hat geklappt“, sagte Dan. „Der Pfad ist weg. Er existiert nicht mehr.“
„Über eine Länge von gut achtzig Yards“, sagte der Seewolf.
„Das wäre also erledigt“, sagte Pater David. Er richtete seinen Blick auf den Hang, der durch die Detonationen verwüstet worden war. Dieser Hang über dem Pfad war zu einem lebensgefährlichen steilen Geröllfeld geworden, dessen Betreten weitere Geröllawinen auslösen würde.
„Das genügt“, sagte Hasard. „Der einzige Pfad zwischen Arica und Potosi ist unterbrochen und gesperrt. Niemand wird uns von Potosi aus verfolgen können.“
„Und keiner weiß, daß wir nach dem Passieren der Cordillera de los Frailes auf dem Altiplano nach Nordwesten abbiegen und den Weg nach Arica verlassen“, sagte Pater Aloysius.
„Wir dürfen also wirklich aufatmen“, murmelte Karl von Hutten.
„Der Marsch wird fortgesetzt“, sagte Hasard.
Die Maultiere wurden von ihren Fußfesseln befreit. Die Männer rafften ihre Habseligkeiten zusammen und beluden die Tiere, dann wurde auch das Feuer gelöscht, über dem sie ihr Frühstück zubereitet hatten. Es konnte weitergehen.
Carberry zog dem Dicken wieder den Knebel aus dem Mund, warnte ihn aber: „Wenn du jammerst, stopf’ ich ihn dir wieder rein!“
„Warum darf ich nicht reiten?“ keuchte Don Ramón.
„Etwa auf einem Maultier?“ fragte Carberry. „Du bist wohl nicht bei Trost.“
„Ich kann nicht mehr. Ich bin am Ende. Mein Herz …“
Der Profos grinste und deutete auf Diego. „Also gut. Wie wäre es, wenn du auf unseren Freund klettern würdest?“
Diego stieß ein zorniges Schnauben aus und schlug mit dem linken Vorderhuf auf das Gestein. Er sah den Dicken derart böse und verschlagen an, daß dieser wieder einen Schrei des Entsetzens ausstieß.
Carberry war drauf und dran, ihm den Knebel in den Mund zu schieben, aber Don Ramón stieß hastig hervor: „Nein, nein! Ich wollte nur sagen – ich laufe lieber!“
Damit setzte er sich zum Rand des Plateaus in Bewegung. Als er an den Steingräbern der beiden toten Aufseher vorbeiwatschelte, überlief ihn eine Gänsehaut. Was sich in der Nacht abgespielt hatte, hatte er von Pater David haarklein erfahren. Gräßlich, dachte er.
„Der läuft erst mal“, sagte Carberry grimmig. „Vielleicht hält es ja eine Weile vor.“
Der Zug setzte sich in Bewegung. Die Lawine des Todes blieb hinter ihnen zurück. Sie vergaßen rasch, was sich abgespielt hatte. Ihre Gedanken waren jetzt bei den Kameraden von der „Estrella de Málaga“ und der „San Lorenzo“.
Wie war es ihnen in der Zwischenzeit ergangen? War alles nach Plan verlaufen oder hatte es Zwischenfälle gegeben? Bald würden Hasard und seine Männer es erfahren …
ENDE

1.
Margarita, die glutäugige, dunkelhaarige Schönheit, stand am späten Vormittag des 15. Dezember 1594 am Fenster ihrer kleinen Kammer und blickte auf die Plaza von Arica hinunter. Sie träumte, wie so oft, von ihrer Heimat Andalusien. Ja, dorthin würde sie zurückkehren, eines Tages. Sie hatte keine Illusionen mehr, denn das war in ihrem Gewerbe nicht möglich, doch sie war ziemlich sicher, daß sie sich ihren Herzenswunsch in nicht allzu ferner Zukunft erfüllen würde.
Als wohlhabende Frau wollte sie nach Andalusien zurückkehren und sich dort eine Hacienda kaufen, mit viel Land, Olivenbäumen, Rebstöcken, Kühen, Ochsen und Schafen und einem prächtigen Haus darauf. Dazu brauchte sie Geld – viel Geld. Einen Teil hatte sie bereits angespart und gut versteckt, den Rest würde sie sich in den nächsten zwei, drei Jahren verdienen.
Der Wirt der Schenke an der Plaza war ein Wucherer und Galgenstrick. Er kassierte für die Kämmerchen, in denen die Mädchen wohnten und ihre Freier empfingen, und er verlangte für jeden „abgefertigten“ Kunden auch noch einen Anteil. Aber Margarita war raffiniert. Viele Gelder unterschlug sie einfach, oder sie gab die Höhe der Tageseinkünfte niedriger an, als sie eigentlich waren. Sie wußte, wie man das anstellte, und es funktionierte seit Jahren.
Sechs Jahre war sie nun schon in Arica. Die Zeit verging wie im Flug. Sie wollte nicht schon dreißig sein, wenn sie in ihre Heimat zurückkehrte. Sie wollte noch Kraft und Energie haben, um sich ihrem Lebensziel, der Hacienda, voll widmen zu können.
Ob sie auch noch heiraten würde? Sie wußte es nicht. Sie würde es dem Zufall überlassen. Wenn der richtige kam, gab sie ihm ihr Jawort. Kam er nicht, war sie selbständig und klug genug, um auch auf eigenen Beinen zu stehen, und es war ihr dabei egal, was in Andalusien ihre Familie, die Nachbarn und die Dörfler, die ihre eigenen verschrobenen Ansichten hatten, dachten.
In Arica florierte das Geschäft. Bald war Weihnachten. Viele Seeleute befanden sich im Hafen, und auch die einflußreichen und wohlhabenden Señores der Stadt hatten ihre Spendierhosen an. Das große Fest nahte, und es würde in eine einzige Orgie ausarten, denn so pflegte man sich in Arica auszutoben.
Auch die Soldaten waren „bei Kasse“. Margarita haßte sie, aber am meisten haßte sie den Bürgermeister Diego de Xamete. Aus schmal werdenden Augen beobachtete sie, wie seine vierspännige Karosse auftauchte und über die Plaza rollte. Da saß er fett und behäbig in den Polstern – ein durchtriebener und korrupter Kerl, der an den Pranger gehörte.
Doch dort standen immer nur die Indios, die Sklaven, armselige Kreaturen, die eingesperrt und mißhandelt wurden. Menschenmaterial für die Minen von Potosi. Sie wurden in den Cerro Rico verschleppt, und von dort kehrten sie nicht mehr zurück, weil sie vor Erschöpfung, Hunger oder Kälte starben. Oder sie wurden krank und siechten elendig dahin.
O ja, Margarita konnte sich dies alles sehr gut vorstellen. Manch einer ihrer Freier, der in Potosi, der Stadt des Prunkes und Überflusses, gewesen war, hatte ihr davon berichtet, wie es dort zuging.
In Potosi regierte ein Kerl, der noch fetter und widerwärtiger als de Xamete war – Don Ramón de Cubillo, der Provinzgouverneur. Wenn er wieder Sklaven brauchte – Männer für die Minen und Mädchen für seine perversen Spiele –, jagte er seine Soldaten los, und die holten sich die Eingeborenen aus den Dörfern der Cordillera. Ein ganz besonders schlimmer Schinder sollte Luis Carrero, der Oberaufseher der Minen sein. Er Verbreitete mit seinen Bluthunden überall Grauen und Panik.
Margarita konnte nicht ahnen, daß dieser Luis Carrero nicht mehr am Leben war und daß schon bald – noch vor Jahresende – in Potosi etwas Ungeheuerliches passieren sollte: Ein Trupp verwegener Männer bewegte sich durch die Cordilleras und über den Altiplano auf die Stadt des Silbers zu, der Anführer war ein schwarzhaariger Riese namens Philip Hasard Killigrew. Sein Plan war, die Sklaven des Cerro Rico zu befreien, die Casa de la Moneda zu zerstören und den Silberabbau lahmzulegen. Genau das sollte ihm in einem tollkühnen Handstreich auch gelingen.