Seewölfe Paket 23

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Nein, es ging nicht. Er durfte das andere Schiff nicht vergessen, die „San Lorenzo“. Wenn die Kerle drüben verrückt spielten und die „Estrella“ mit Beschuß belegten, hatte er verspielt. Er wußte ja nicht, ob sie bereit waren, für ihre Kameraden alles zu opfern. Außerdem waren es immer noch zu viele – eine Übermacht von Gegnern. Die Wolfshündin, die ihm jederzeit an die Gurgel springen konnte, durfte er auch nicht unterschätzen.
Der ursprüngliche Plan war richtig. Er mußte fliehen. Erst mal an Land und in die Felsen, wo er sich besser auskannte als dieses Piratenpack. Alles andere ergab sich von selbst, denn er würde in Arica alles mobilisieren, um diese Galgenstricke zu fassen.
Schnarchlaute ertönten aus dem Logis. Carrero schob sich daran vorbei und grinste wieder. Gern hätte er sie mit dem Entermesser durchbohrt oder in Stücke gehackt. Aber auch hier war die Gefahr zu groß, es mit einem Gegner aufzunehmen und dann von den anderen überrumpelt zu werden.
Und wenn er Feuer legte? Ein Brand an Bord – das lenkte sie ab. Oder es weckte sie erst richtig, und sie nahmen an Land die Verfolgung auf. Nein, das alles nutzte nichts, es waren Ideen, die er sich aus dem Kopf schlagen konnte.
Einen Augenblick verharrte er im Dunkel des Vorschiffs. Was war, wenn er die Galionsplattform betrat und sich von dort ins Wasser gleiten ließ? Kein Wachtposten würde ihn hören oder sehen. Völlig unbemerkt würde sein Verschwinden von Bord der „Estrella de Málaga“ vonstatten gehen. Aber er mußte schwimmen, und die Waffen, auf die er nicht verzichten wollte, würden ihn erheblich behindern.
Vorsichtig, nach allen Seiten spähend und unter Einhaltung seiner instinktiven Alarmbereitschaft, bewegte sich Carrero auf das Vordecksschott der Steuerbordseite zu. Er brauchte die Jolle, sein Weg führte deshalb zwangsläufig über die Kuhl.
Er gelangte an das Schott, duckte sich und lauschte. Waren draußen Stimmen zu vernehmen? Nein. Alles war ruhig, und auch aus dem Schiffsinneren ertönten außer, dem verhaltenen Schnarchen der Schläfer keine Laute. Aber die Tatsache, daß an Oberdeck nicht gesprochen wurde, war noch lange kein Beweis dafür, daß sich nur ein Posten dort befand. Es konnten auch mehrere sein, die sich entweder gegenseitig anödeten oder umschichtig schliefen. Möglich war alles.
Carrero wagte es, das Schott einen Spaltbreit zu öffnen. Erfreulicherweise waren die Angeln gut geölt, so daß es nicht das leiseste Quietschen erzeugte. Jedes noch so feine Geräusch wurde in der Nacht verstärkt und hörte sich doppelt so laut an. Eine falsche Bewegung, ein winziges Scharren oder Schaben, und Carrero war geliefert und befand sich wie auf einem Präsentierteller für ihre Pistolen und Musketen.
Fahles Mondlicht erhellte die Nacht. Carrero sah durch den Spalt die Gestalt eines hochgewachsenen, schlanken Mannes. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, um welchen von den „Bastarden“ es sich handelte, aber auch das spielte keine Rolle. Viel wichtiger war, daß sich dieser Mann praktisch auf ihn zu bewegte. Er schien seine Runde über Deck zu gehen – und in der näheren Umgebung war kein anderer Posten zu entdecken.
Allerdings war Carreros Sichtbereich begrenzt. Aber er vertraute auf sein Glück, das ihm in den letzten Stunden wieder hold zu sein schien, während es ihn in den vergangenen Tagen verlassen hatte.
Langsam zog er den Belegnagel aus dem Hosenbund. Sollte der Wachtposten unmittelbar vor das Schott treten, würde er ihn zu fällen versuchen wie den anderen Hundesohn. Natürlich hätte er sich gern des erbeuteten Entermessers bedient, aber er wollte nicht riskieren, dadurch doch noch alles zum Platzen zu bringen. Traf er mit der Blankwaffe nur um Haaresbreite daneben, ging die Aktion nicht mehr geräuschlos ab. Der Kerl würde zu brüllen beginnen wie am Spieß. Da war der Schmetterschlag mit dem Belegnagel eben doch sicherer.
Was die Wucht des Schlages betraf, da übte Luis Carrero auch dieses Mal keine Zurückhaltung. Er umklammerte den Belegnagel mit beiden Händen, kauerte sich so dicht an das Schott, daß er es mit der Schulter berührte, und harrte aus. Aus schmalen Augen verfolgte er, wie der Mann sich näherte und an dem Schott vorbeiging – ahnungslos.
Carreros Lippen verzogen sich zu einem breiten, triumphierenden Grinsen. Jetzt, dachte er.
Jack Finnegan versah den Dienst der Ankerwache und unternahm seine gewohnte Kontrollrunde. Alles war ruhig, nur das Plätschern des Seewassers an den Bordwänden und das leise Knarren der Rahen waren zu vernehmen. Hin und wieder glaubte Jack das Schnarchen der Männer im Logis zu hören.
Auch die „San Lorenzo“ bot ein Bild des Friedens, und von der Küste gab es auch nichts Neues zu vermelden, sonst wäre der Posten längst aufgetaucht Sven Nyberg war es, der zur Zeit dort drüben stand und die Augen offenhielt. Sicherlich langweilte er sich genauso wie Luke und Montbars, der an Bord der Galeone die Ankerwache hatte.
So jedenfalls dachte Jack Finnegan, während er sich mit bedächtigen Schritten dem Steuerbordschott des Vordecks näherte.
In dem Moment, in dem er an dem Schott vorbeiging und sich der Backbordseite des Schiffes zuwandte, waren seine Gedanken bei Ferris und dem Tacna-Trupp. Wie weit mochten sie inzwischen mit den Arbeiten sein? Kamen sie gut voran? Nun, bald würde man es erfahren, und Jack hoffte, bei dem nächsten Trupp, der in das Tal aufstieg, mit dabeizusein.
Er nahm nicht wahr, wie sich hinter seinem Rücken das Schott ganz öffnete. Er glaubte aber plötzlich, eine Regung hinter sich zu bemerken. Verdutzt wollte er sich umdrehen, aber es war bereits zu spät. Der Koffeynagel sauste auf seinen Kopf und traf ihn mit voller Wucht. Jack stöhnte, krümmte sich, preßte noch beide Hände an den Schädel und sank dann zusammen.
Nummer zwei – erledigt, dachte Carrero. Er bückte sich, tastete den Bewußtlosen rasch ab und nahm auch seine Waffen an sich: Pistole, Muskete und Entermesser.
Er steckte sie sich zu, dann huschte er geduckt über die Kuhl und hielt auf die Jakobsleiter zu, die, wie er mühelos erkennen konnte, an der der „San Lorenzo“ abgewandten Schiffsseite ausgebracht war.
Und dort unten, direkt an der Jakobsleiter, lag auch die Jolle vertäut, wie er mit einem schnellen Blick übers Schanzkleid feststellte.
Er grinste gleichsam diabolisch. Besser hätte es gar nicht sein können. Der einzige Wachtposten der „Estrella“ war außer Gefecht gesetzt. Der Kerl, der drüben auf der Galeone Wache schob, würde ihn überhaupt nicht bemerken. Ausgezeichnet, dachte Carrero.
Er war jetzt wirklich froh, daß er sich seiner Langschäfter noch in der Vorpiek entledigt hatte. Das war eine gute Idee gewesen. Anderenfalls hätte er sich nicht derart leise bewegen können, ohne ein einziges Geräusch zu verursachen.
Daß es dennoch ein Fehler war, die Stiefel an Bord zurückzulassen, leuchtete ihm nicht ein. Er vergaß sie und enterte an der Jakobsleiter in die Jolle ab. Er grinste immer noch. Fast gelassen stand er im Boot und stieß es sachte von der Bordwand ab. Er legte die Riemen ein und begann zu pullen. Leise tauchten die Blätter ein und hoben sich wieder aus dem Wasser.
Carrero steuerte auf den Ausgang der Bucht zu. Aber ganz bis dorthin schaffte er es doch nicht. Dafür sorgte Luke Morgan, der inzwischen allmählich ins Bewußtsein zurückkehrte.
Durch kräftige Hiebe auf den Kopf eines Mannes, womöglich mit einem brettharten Gegenstand geführt, konnte man diesen in extremen Fällen durchaus töten. Im allgemeinen gab es Platzwunden und eine Menge Blut, und nicht selten wurde so ein Kopf angeknackst. Auf jeden Fall war ein Mann, der mit einem Belegnagel gefällt wurde, eine halbe Stunde bewußtlos – wenn nicht länger.
Luke mußte einen besonders harten Schädel haben – Männer wie Carberry hätten dies mit Überzeugung bestätigt. Die Rübe dieses Luke Morgan sei so hart – hatte der Profos einmal erklärt –, daß man damit eine Schiffswand einrammen könne. Daher könne man Mister Morgan ruhig hin und wieder als Rammklotz benutzen.
Es konnte aber auch daran liegen, daß Carrero doch nicht ganz so hart zugeschlagen hatte, wie er gemeint hatte. Möglicherweise wäre er besser beraten gewesen, wenn er noch ein zweites Mal zugehauen hätte. Aber er hatte nicht ahnen können, daß ein Kerl wie Luke gleich wieder auf die Beine kam.
Natürlich verspürte Luke rasende Kopfschmerzen, als er das Bewußtsein wiedererlangte. Aber seine Wut war größer. Sofort war ihm wieder klar, was geschehen war. Er richtete sich auf, trat gegen Carreros Langschäfter, daß sie quer durch die Vorpiek flogen, und brüllte: „Verdammte Scheiße!“
Dann stellte er fest, daß er keine Waffen mehr hatte, und begann noch wilder zu fluchen. Am liebsten hätte er alles kurz und klein geschlagen, aus Zorn darüber, daß er sich von diesem Spanier hatte übertölpeln lassen. Wo steckte der Kerl?
„Du Schwein!“ brüllte Luke. „Wenn ich dich erwische!“
Im Logis wachte Al Conroy als erster auf und stieß sich um ein Haar den Kopf.
„He“, sagte er. „Wer brüllt da wie ein Irrer? Bist du das, Batuti?“
„Ich doch nicht“, brummte der schwarze Herkules. „Seh’ ich vielleicht so aus?“
„Das kommt aus der Vorpiek“, sagte Bob Grey.
„Da ist was passiert!“ stieß Blacky aus und rutschte von der Koje. „Hölle und Teufel, es ist was mit Carrero!“
Lukes Gebrüll erreichte auch das Achterkastell der „Estrella de Málaga“ und somit die Ohren von Ben Brighton, Shane und Araua, die in den Kammern schliefen. Aber es drang auch bis zur „San Lorenzo“ hinüber und ließ Montbars, den Korsen, hellhörig werden.
Mit wenigen Sätzen war Montbars am Schanzkleid und versuchte, zu erkennen, was auf der „Estrella“ los war. Nichts rührte sich. Nach wie vor schien alles ruhig und friedlich zu sein. Aber da waren das Geschrei und das Toben. Es klang, als wolle jemand das komplette Schiff auseinandernehmen.
Plötzlich sah Montbars die Jolle. Sie schob sich hinter dem Bug der „Estrella de Málaga“ hervor – nein, sie schoß hervor! Der Kerl, der auf der Ducht saß, pullte wie ein Verrückter. Segeln konnte er nicht, denn der vorherrschende Südwestwind war in dem Felsenkessel nur schwach.
Montbars’ Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Der Kerl in der Jolle – das konnte nur der verdammte Schönling und Sklavenschinder von Potosi sein. Irgendwie mußte es ihm gelungen sein, die Männer der „Estrella“ zu überlisten. Wie? Egal. Luke Morgans Gebrüll reichte aus – der Hund hatte den Arwenacks offenbar übel mitgespielt.
Montbars stieß einen wüsten Fluch aus, nicht auf französisch, sondern in seiner Muttersprache, dem korsischen Dialekt. Dann hob er die Muskete, preßte den Kolben an die Schulter, spannte den Hahn des Steinschlosses und zielte auf den Mann auf der Bootsducht.
Er zögerte nicht lange. Das silbrige Licht des Mondes reichte zum Zielen aus. Montbars hielt ein wenig tiefer – vielleicht war es besser, den Kerl nicht zu töten. Er drückte ab, und es krachte. Der Kolben stieß im Rückstoß gegen eine Schulter, und fauchend fuhr die Ladung aus dem Lauf.
Die Kugel traf das Boot und schlug ein Loch in die Wasserlinie. Luis Carrero fluchte lauthals.
„Ihr verdammten Bastarde!“ zischte er. Er pullte weiter wie besessen, spürte aber, wie ihn Panik ergriff.
Das Wasser drang in die Jolle ein. Er konnte es sprudeln und rauschen hören. Er pullte und pullte, und ihm brach der Schweiß aus. Er spürte die Angst wie eine Faust im Nacken, denn er rechnete sich aus, daß die nächste Kugel ihn treffen würde. Aber er durfte nicht aufhören, sonst war er ihnen völlig ausgeliefert. Jeden Augenblick konnten die Kerle an den Schanzkleidern beider Schiffe auftauchen und ein Salvenfeuer auf ihn eröffnen.
Der nächste Schuß krachte, wieder von Montbars abgegeben. Wieder schlug die Kugel in die Wasserlinie des Bootes, und das Wasser schoß noch schneller herein.
Montbars grinste wölfisch. Er stand an einer Stelle des Schanzkleides der Kuhl, wo neben einem der Geschütze ein halbes Dutzend Musketen schußbereit lagen. Auch dies gehörte zu den allgemeinen Schutz- und Vorsichtsmaßnahmen, die die Männer für den Fall ergriffen hatten, daß ein Gegner unvermittelt vor der Bucht auftauchte und möglicherweise sogar bis in den Felsenkessel vordrang.
Mit raschem Griff packte der Korse die nächste geladene Muskete. Er hob sie, zögerte aber, den Zeigefinger um den Abzug zu krümmen.
Carrero zerrte und ruckste an den Riemen, der Schweiß lief ihm in Bächen über das Gesicht und den Körper. Die Jolle war schwer wie ein Stein geworden und schien sich kaum noch vom Fleck zu rühren. Das Wasser gurgelte durch die Schußlöcher in der Bordwand, es reichte ihm bereits bis über die Fußknöchel und näßte seine Waden.
Montbars konnte das erkennen – die Jolle ging mehr und mehr auf Tiefe. Wie zu erwarten war, sank sie innerhalb der nächsten Minuten ganz, und der Hundesohn von einem Spanier hatte keine Chance mehr, das Ufer zu erreichen. Schwimmend würde er es nicht schaffen. Sie fischten ihn aus dem Wasser, brachten ihn zurück an Bord der „Estrella“ und urteilten ihn ab. Denn das blühte ihm jetzt, das hatte er verdient: Keine Gnade mehr für einen Don, der mit Gewalt aus der Vorpiek ausgebrochen war.
Eben deshalb gab der Korse keinen dritten Schuß mehr ab. Er hätte Carrero töten können, wenn er es gewollt hätte. Aber er wollte ihn lebend, und er wollte ihn an der Rah zappeln sehen, an die er gehörte.
An Bord der „Estrella“ wurde es zunehmend lebendig. Luke Morgan fluchte immer noch und rannte durch den engen Schiffsgang zum Niedergang, stürmte ihn hoch und hastete weiter. Er prallte mit Al Conroy zusammen, und sie stießen gemeinsam die übelsten Verwünschungen aus. Die anderen Männer hatten nun auch das Oberdeck erreicht und stürzten zum Schanzkleid, wo auch Ben, Shane und Araua erschienen.
„Bist du verrückt?“ brüllte Luke Al an.
„He, ich wollte doch nur sehen, was mit dir los ist!“
„Nichts ist los!“
„Wo ist Carrero?“
„Abgehauen!“ brüllte Luke, und zusammen rasten sie zum Niedergang.
Paddy Rogers stolperte derweil über den reglosen Körper seines besten Freundes Jack Finnegan. Wie vom Donner gerührt verharrte er, bückte sich und ließ sich neben dem wie tot daliegenden Jack nieder.
„Mann, mach keinen Scheiß“, sagte er erschüttert. „Jack – he! Komm zu dir!“
Montbars hatte eine schlechte Entscheidung getroffen, wie sich jetzt herausstellte. Zwar drang immer mehr Wasser in die Jolle, aber der Spanier schaffte es doch – wider Erwarten und allen Berechnungen zum Trotz –, sie an das westliche Ufer der Bucht zu pullen, bevor sie auf Tiefe ging.
Knirschend schob sich der Bug auf den schmalen Sandstreifen. Carrero raffte die erbeuteten Waffen zusammen, sprang an Land und begann zu laufen. Er malte sich aus, daß sie wieder mit Musketen auf ihn feuern würden, doch er irrte sich. Kein Schuß peitschte.
Er befand sich außerhalb der Reichweite der Handfeuerwaffen. Zwar war es an Bord der „Estrella de Málaga“ Al Conroy, der mit einem gebrüllten Fluch an eine der Drehbassen sprang, doch bevor er das Schwenkgeschütz justiert hatte und Hasard junior ein Becken mit glühender Holzkohle zum Entfachen der Lunte brachte, war Luis Carrero verschwunden.
Er tauchte zwischen den Steilfelsen unter und war nicht mehr zu sehen. Seine Augen waren zusammengekniffen, er gab sich Mühe, alle Unebenheiten des Geländes zu erkennen, um nicht zu stürzen. Keuchend begann er mit dem Aufstieg.
Er schwitzte immer noch, aber es kümmerte ihn nicht. Seine Atemzüge gingen immer heftiger, die Steigung setzte ihm zu. Aber auch das war nebensächlich. Die Hauptsache war, daß er diesem Pack entgangen war, wie er geplant hatte. Er kletterte höher und blickte sich nicht um. Jede Sekunde war kostbar. Je mehr Distanz er zwischen sich und die Bastarde legte, desto größer wurde auch die Aussicht, etwaigen Verfolgern zu entgehen.
Carrero triumphierte schon jetzt. Er hatte schließlich die Waffen. Wenn es diesen Hunden wirklich einfiel, ihn zu verfolgen, konnte er sie aus dem Hinterhalt niederknallen.
Es würde genügen, ein oder zwei von ihnen abzuservieren, dann zogen die anderen sich zurück. Sie spielten sich auf die Kerle, die vor nichts zurückschreckten, aber wenn es ihnen wirklich an den Kragen ging – so dachte er –, steckten sie sehr schnell zurück und entpuppten sich als Feiglinge.
Diesen einen Punkt überdachte er nicht richtig, und seine Wertung war völlig falsch. Aber in seiner Siegeseuphorie konnte er nicht anders denken. Er arbeitete sich in den Felsen hoch, einem Labyrinth, in dem er schwerlich wiederzufinden war.
6.
An Bord der „Estrella de Málaga“ und der „San Lorenzo“ war inzwischen der Teufel los. Ben Brighton kochte vor Zorn über, trotz seiner sonst so ruhigen und beherrschten Art. Er hatte allen Grund zu toben. Wenn es Luis Carrero gelingen sollte, sich nach Arica durchzuschlagen, dann war Hasards Trupp mit Sicherheit verloren. Die Spanier in Arica würden unverzüglich Potosi alarmieren, durch berittene Boten oder vielleicht auch durch Fuß-Melder, das spielte keine Rolle. Es gab nicht den geringsten Zweifel daran, daß Potosi daraufhin hermetisch abgeriegelt werden würde.
Die zwölf Mann des Trupps, Pater Aloysius mitgerechnet, hatten dann überhaupt keine Chance. Sie ahnten von nichts und liefen in die Falle, die sich für sie öffnete. Man würde sie festnehmen und keine Gnade kennen. Sie konnten noch von Glück sagen, wenn man sie zur Zwangsarbeit in die Minen steckte und in Eisen legte. Aber aller Wahrscheinlichkeit nach würde der Provinzgouverneur sie auf Carreros Drängen hin hängen oder durch ein Peloton erschießen lassen.
Das waren die Aussichten – all die bitteren Aussichten, die sich aus Carreros Flucht ergaben. Ben hatte das Gefühl, das Blut würde ihm in den Adern gefrieren.
Luke Morgan torkelte auf der Kuhl herum. Erst jetzt sahen Al Conroy und die anderen, daß sein Kopf blutüberströmt war.
„O Hölle“, stieß Luke immer wieder hervor. „Wo ist der Kerl? Ich breche ihm sämtliche Knochen, wenn ich ihn erwische!“
Araua eilte zu ihm. „Sei still, Luke. Setz dich erst mal hin“, drängte sie. „Sei vernünftig.“
„Wo ist der Dreckskerl!“
„Zum Ufer entkommen.“
„Wir müssen ihn schnappen, wieder einfangen!“
„Ja, natürlich.“
„Daß dieser Hund mich so ’reingelegt hat! Auf diese Tour!“ Luke stöhnte und hielt sich an einer Kanone fest. „Mann Gottes. Aber das zahle ich ihm heim, verlaß dich drauf.“
Jack Finnegan lag nach wie vor regungslos auf den Planken. Mac Pellew war zur Stelle und kümmerte sich um ihn.
Und Paddy Rogers stammelte immer wieder: „Hölle, was ist denn bloß los? Was ist mit ihm, Mac?“
„Reg dich nicht auf“, brummte Mac. „Er lebt noch.“
„Wie lange noch?“
„Eine Ewigkeit. So schnell stirbt man nicht.“
Das Fatale an der Situation war, daß die Männer der „Estrella“ zur Zeit kein Boot zur Verfügung hatten. Sie konnten also nicht die Verfolgung des Spaniers aufnehmen. Ben ballte die Hände in ohnmächtiger Wut zu Fäusten. Ihm waren die Hände gebunden, er konnte nichts unternehmen. Was nützte es schon, mit den Kanonen zwischen die Felsen zu feuern? Nichts – er vergeudete nur Munition. Und er wußte auch, daß er nicht in Hasards Sinn gehandelt hätte.
Jan Ranse hatte drüben, an Bord der „San Lorenzo“, von Montbars erfahren, was sich zugetragen hatte. Alle Mann waren an Deck versammelt, und der Korse stieß einen saftigen Fluch aus.
„Dreck!“ brüllte er. „Ich dachte, er säuft mit der Jolle ab, verflucht noch mal!“
„Wir müssen sofort an Land!“ schrie Baxter. „Dem Hurensohn nach! Wir können ihn noch erwischen!“
„Abentern!“ rief Jan. „Drei Mann mit mir! Piet, George und Montbars! Los! Wir müssen erst zur ‚Estrella‘ rüber und uns mit Ben abstimmen!“
In Windeseile enterten sie in die Jolle ab, die längsseits lag, und griffen zu den Riemen. Jan stieß das Boot von der Bordwand ab, die Männer begannen wie die Irrsinnigen zu pullen.
Rasch glitt die Jolle zur „Estrella“ hinüber und überbrückte die Distanz in kürzester Zeit. Jan stand breitbeinig vor der achteren Ducht und rief den Männern der Karavelle zu: „Ich stelle euch meine Jolle zur Verfügung, Ben!“
„Ja! Danke! Habt ihr gesehen, an welcher Stelle Carrero zwischen den Felsen verschwunden ist?“
„Montbars hat ihn am Westufer landen sehen!“
„Ich auch!“ schrie Al Conroy. „Aber wo genau?“
„Ich weiß, wo die Stelle ist!“ rief Montbars. „Ich finde sie wieder!“
„Shane!“ stieß Ben hervor. „Du kommst mit! Al, Batuti und Blacky, ihr seid auch mit dabei! Los, Beeilung!“
„Sir“, sagte Hasard junior, der mit seinem Bruder herandrängte. „Wir sollten auch Plymmie mitnehmen. Du weißt doch, was für einen guten Spürsinn sie hat. Sie findet ihn bestimmt – besser als wir.“
„Das ist eine gute Idee“, sagte Ben Brighton sofort. „Los, holt Plymmie!“
„Sie ist schon hier“, meldete Araua. Sie hielt Plymmie an der Leine fest. Die Hündin schien zu spüren, was geschehen war, sie knurrte und zerrte an der Leine.
„Herrgott, warum hat sie nicht schon eher was bemerkt?“ fragte Bob Grey. „Dann wäre diese Schweinerei nicht passiert.“
„Sie hat auch geschlafen“, verteidigte Philip Plymmie. „Und sie kann schließlich nicht alles wittern. Carrero hat sich wohl auch sehr leise bewegt.“
„Das stimmt“, sagte Jack Finnegan, der eben wieder zu sich gekommen war und mit verzerrtem Gesicht den Hinterkopf betastete. „Er hatte bestimmt keine Stiefel an.“
„Dann müssen die noch in der Vorpiek sein“, sagte Ben. „Jeff, sieh mal nach!“
„Die Stiefel sind unten“, sagte Luke. „Ich habe sie selbst gesehen, zur Hölle noch mal!“
Jeff Bowie eilte nach unten. Ben gab unterdessen weitere Anweisungen.
„Von deiner Crew nehmen wir Montbars, Piet Straaten und George Baxter mit“, sagte er zu Jan Ranse, der von der Jolle zu ihm aufblickte. „Damit ist der Trupp komplett.“
„Aye, Sir“, sagten die Männer.
„Und jetzt hört gut zu. Wir müssen verhindern, daß Carrero Arica erreicht. Um jeden Preis.“
„Koste es, was es wolle!“ rief Shane. „Und wenn er doch Arica erreicht, schlagen wir ihn dort in den Gassen tot!“
Mac Pellew stieß plötzlich einen dumpfen Laut aus. Paddy Rogers stöhnte entsetzt auf. Jack Finnegan hatte die Augen verdreht und sank wieder in sich zusammen.
„Ben“, sagte Mac. „Beim Henker, was machen wir jetzt?“
„Tu doch was, Mac“, drängte ihn Paddy.
Ben lief zu ihnen und beugte sich ebenfalls über den Besinnungslosen. Jack war von dem Belegnagel mindestens genauso hart getroffen worden wie Luke, vielleicht hatte es ihn noch ein bißchen unglücklicher erwischt. Aber – konnte ein Mann von einem einzigen Knüppelhieb sterben?
Ben wußte, daß es möglich war. „Rück mal das Licht näher ran“, sagte er rauh zu Mac Pellew.
Mac bewegte die Öllampe, die sie auf die Planken gestellt hatten, näher auf Jack zu. Ben untersuchte vorsichtig die Platzwunde, die Jack am Hinterkopf hatte, und betrachtete das viele Blut, das ihm übers Gesicht gelaufen war. Schlimm sah das aus.
Luke Morgan hatte sich ebenfalls zu ihnen gesellt.
„So ein verdammter Mist“, sagte er immer wieder. „Das ist alles meine Schuld. So ein Mist.“
„Sei still“, sagte Ben, „und hör auf, solchen Quatsch daherzureden.“
Jeff Bowie hatte sich unterdessen in der Vorpiek umgesehen und griff nach den Stiefeln. Er eilte zurück zum Niedergang und kehrte mit polternden Schritten an Oberdeck zurück.
„Hier sind die Dinger!“ rief er.
„Aha“, sagte Shane. „Der Kerl ist also gewissermaßen barfuß. Dann können wir noch hoffen. Bei dem scharfen Felsgestein wird er sich die Füße blutig laufen.“
„Das wünsche ich ihm“, sagte Bob grimmig.
Die Zwillinge führten Plymmie heran und ließen sie an den Stiefeln riechen. Die Hündin senkte den Kopf und schnupperte. Sofort sträubten sich ihre Nackenhaare, und sie begann laut zu knurren und fletschte die Zähne.
„Es wirkt“, sagte Philip junior. „Sie hat die Witterung aufgenommen.“
Plymmie zerrte an ihrer Leine und wollte zum Schanzkleid. Sie zog Philip und Hasard, die jetzt beide zupackten, hinter sich her und schien immense Kräfte zu entwickeln. Sie strebte genau auf die Stelle zu, an der die Jakobsleiter hing – und Luis Carrero von Bord verschwunden war.