Seewölfe Paket 23

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„Los geht’s“, sagte Big Old Shane, aber er wandte sich noch einmal Ben und den anderen zu, die bei dem ohnmächtigen Jack Finnegan knieten. „Ben, du bleibst am besten hier.“
Ben tauschte einen Blick mit ihm und nickte. „Einverstanden. Aber denk daran: Ihr müßt Carrero erwischen.“
„Ich denke an nichts anderes.“
„Du weißt, welche Konsequenzen sich ergeben, wenn er es bis nach Arica schafft.“
„Ja. Dann sind Hasard und die Männer des Trupps verloren.“
„Schießt den Spanier von mir aus nieder wie einen tollen Hund“, sagte Ben. „Sonst sehen wir Hasard und unsere Männer nie wieder.“
Al Conroy, Batuti, Blacky und die Zwillinge enterten in die Jolle ab. Batuti hatte sich Plymmie über die Schulter gepackt und hangelte mit ihr nach unten. Shane folgte ihnen und rutschte fast an der Jakobsleiter nach unten, so eilig hatte er es.
„Kommst du mit?“ fragte er Jan Ranse. „Oder sollen wir dich zum Schiff übersetzen?“
„Um noch mehr Zeit zu verlieren?“ Jan schüttelte den Kopf. „Ich bleibe hier. Mal sehen, ob ich irgendwie was für euren Jack Finnegan tun kann. Und für Luke Morgan.“ Mit diesen Worten schwang er sich bereits auf die Sprossen der Jakobsleiter.
Die Jolle legte ab, und die Männer pullten, als säßen ihnen sämtliche Teufel der Hölle im Nacken.
Das Bild, das sich Jan Ranse an Bord der „Estrella de Málaga“ bot, war schockierend. Luke Morgan taumelte blutüberströmt herum, Jack Finnegan lag – ebenfalls blutend – mit halb geöffnetem Mund wie tot auf den Planken der Kuhl. Ben, Mac und Paddy knieten bei Jack, und auch die anderen Männer näherten sich jetzt und bildeten einen Kreis um sie.
Jan kratzte sich am Kinn. Er wußte nicht, was er tun sollte. Ben war selbst ratlos. Er wünschte sich den Kutscher herbei, aber der war oben im Tacna-Tal und damit für ihn unerreichbar. Was konnten sie unternehmen, um Jack zu retten?
Wo war Araua? Jan Ranse blickte sich nach ihr um, konnte sie aber nirgends entdecken. Plötzlich erschien sie im offenen Schott des Achterkastells. Sie hielt etwas in den Händen – nasse Tücher. Damit eilte sie zu den Männern und verlangte mit leiser Stimme danach, durchgelassen zu werden.
Sie traten zur Seite, und Araua kniete sich neben Ben, Mac und Paddy.
Mac sah die Tücher und sagte: „Nutzt das was? Ich hab’ ihm doch schon ein paarmal das Blut abgewischt und Kampferpulver auf die Wunde gestreut. Was soll ich sonst noch tun?“
Araua antwortete nicht. Sie legte Jack ein nasses Tuch auf die Stirn und schob ihm ein zweites unter den Nacken.
„Nur abwarten“, sagte sie dann mit gedämpfter Stimme. „Und er darf nicht bewegt werden.“
Mac fühlte immer wieder den Puls des bewußtlosen Mannes. „Schwach, aber normal“, sagte er.
„Also stirbt er nicht, oder?“ fragte Paddy.
„Halt den Mund“, sagte Ben ungewohnt grob. „Das wissen wir noch nicht. Klar?“
„Aye, Sir“, murmelte Paddy betroffen.
Jan war nähergetreten. „Wie wär’s, wenn wir ihm was zu trinken geben würden? Brandy zum Beispiel.“
Araua sah nicht zu ihm auf, sagte aber: „Das wäre völlig falsch. Wir müssen nur warten.“ Ihre Lippen bewegten sich auch weiterhin, aber keiner verstand, was sie murmelte. Es waren Wörter ihrer Muttersprache, ein leises Gebet, an den Schlangengott gerichtet.
Jan Ranse mußte etwas unternehmen, er konnte nicht einfach nur so dastehen. Er packte Luke Morgan beim Arm und führte ihn zum Backbordniedergang, der die Kuhl mit der Back verband.
„So, setz dich da erst mal hin“, sagte er. „Du bist wohl verrückt, hier so rumzulaufen.“
„Ich bin verrückt, Jan.“
„Du verschlimmerst deinen Zustand nur noch, wenn du …“
„Es ist alles meine Schuld, kapierst du das?“ Lukes Gesicht hatte die Farbe alten, abgestandenen Talges. „Ich habe mich auf die ganz blöde Tour von diesem Hund ’reinlegen lassen.“
„Das kann jedem passieren.“
„Nein.“
„Wie hat er denn seine Fesseln überhaupt aufgekriegt?“ fragte Jan.
„Das weiß ich nicht.“
„Und womit hat er zugeschlagen?“
„Mit ’nem Koffeynagel, glaube ich“, entgegnete Luke. „Der Teufel weiß, woher er sich den besorgt hat.“
Jan blickte im matten Schein der Öllampen zur Nagelbank des Großmastes.
„Da fehlt einer“, sagte er ganz sachlich. „Siehst du das?“
„Ja!“ entfuhr es Luke. „Und – Mann, daß das keiner bemerkt hat.“
„Du hast also nicht allein die Schuld.“
„Du willst es mir ausreden.“
„Ich will nur, daß du wieder Vernunft annimmst“, sagte Jan.
„Wenn Jack tot ist, schieß’ ich mir eine Kugel in den Kopf.“
„Weißt du, was ich glaube? Du hast wirklich einen Dachschaden.“
„Denk, was du willst“, sagte Luke finster.
Unterdessen hatte sich Jack Finnegan wieder ein bißchen bewegt. Er brummelte irgend etwas, was keiner verstand, dann schlug er plötzlich die Augen auf.
„Kreuzdonnerwetternochmal“, murmelte er. „Wo bin ich hier?“
„An Bord der ‚Estrella de Málaga‘, Sir“, antwortete Mac mit dem Versuch eines Grinsens. Leider wirkte es so, als wolle er jeden Augenblick losheulen.
„Und wieso glotzt ihr mich so an?“
„Ach, nur so“, erwiderte Will Thorne. „Wir hatten gerade nichts Besseres zu tun, da dachten wir, na, schauen wir uns den Jack mal an.“
Jack hob die Hand und tippte sich mit dem Finger gegen die Stirn. „Total verrückt. Habt ihr den Don schon wieder eingefangen?“
„Nein“, antwortete Ben. „Aber Shane und ein Trupp sind mit der Jolle unterwegs.“
„Ich will mit“, sagte Jack und traf Anstalten, sich von den Planken zu erheben.
Ben drückte ihn sanft, aber bestimmt, zurück. „Du bleibst liegen, mein Freund. Weißt du eigentlich, daß du ein Loch im Kopf hast?“
„Klar, tut auch lausig weh.“
„Ist dir schlecht?“ fragte Araua.
„Nein. Ich habe nur Durst. Auf einen Brandy. Von mir aus kann’s auch Whisky sein.“
„He, sieh mal einer an“, sagte Mac überrascht. „Das Blut sickert nicht mehr so schnell raus.“
„Sicher“, sagte Jack mit dünnem Grinsen. „Denkst du vielleicht, ich laß mein ganzes Blut aus meinem feinen Kopf ’rauslaufen? Ich bin doch nicht bescheuert.“
Araua nickte Ben zu. Er entnahm ihrer Gebärde, daß keine Lebensgefahr für Jack bestand. Bald konnte er wieder auf den Beinen sein.
„Paß auf“, sagte Ben. „Du legst dich jetzt vorsichtig in deine Koje. Will und Bob, ihr begleitet ihn nach unten. Ganz langsam, klar?“
„Aye, Sir“, murmelten sie und hoben Jack, von Mac und Araua unterstützt, behutsam von den Planken auf.
Ben stand auf und blickte zu Jan Ranse und Luke Morgan. „Mac, komm her“, sagte er. „Kümmre dich jetzt um Luke.“
„Ich bin schon wieder in Ordnung“, sagte Luke rauh. „Ich brauche keine Hilfe.“
Ben trat auf ihn zu. „Du sollst keinen Quatsch reden, das habe ich dir eben schon mal gesagt. Das ist ein Befehl, Mister Morgan. Hast du das vergessen?“
„Nein, Sir. Ich nehme auch die Konsequenzen auf mich. Meinetwegen kannst du mich auspeitschen lassen. Oder kielholen, das wäre noch besser.“
„Ich glaube, er hat so eine Art temporären Gedächtnisschwund, oder wie das heißt“, sagte Mac.
„Sein Gedächtnis ist in Ordnung“, sagte Ben. „Luke, erzählt mal genau, wie sich das zugetragen hat. Wie konnte sich Carrero von den Handfesseln befreien? Ihr habt sie doch um Mitternacht überprüft.“
„Es ist mir ein Rätsel“, entgegnete Luke. „Vielleicht sollten wir die Vorpiek noch mal untersuchen.“
Das taten sie etwas später – und fanden den Nagel, der aus dem Spant ragte. So klärte sich das Rätsel auf. Luis Carrero hatte sie alle überrumpelt, nicht nur Luke und Jack.
Die Jolle hatte in der Zwischenzeit das westliche Ufer der Bucht erreicht. Plymmie sprang als erste an Land, blieb stehen, duckte sich und knurrte, daß es ihnen fast eine Gänsehaut über den Rücken jagte.
Die Zwillinge stiegen aus, sie hatten beide je einen Stiefel des Spaniers in der Hand. Wieder schnupperte Plymmie daran, und ihre weißen Zähne blinkten im Mondlicht. Wie ein richtiger Wolf sah sie jetzt aus, furchterregend und wild.
„Sie hat schon immer einen Pik auf den Kerl gehabt“, sagte Shane, der zu ihnen trat. „Am liebsten hätte sie ihn ja gleich zerfetzt, als er an Bord kam.“
Das traf zu. Hasard hatte Carreros Bluthund Philipp nicht an Bord gelassen, als dieser in der Bucht des Indio-Dorfes zu ihnen übergesetzt war. Carrero hatte vor Wut fast geschäumt, sich aber fügen müssen. Dann hatte er Plymmie gesehen – und er hatte dem Seewolf vorgeschlagen, Philipp und Plymmie zu einem Kampf antreten zu lassen. Er hatte eine großartige Wette abschließen wollen, aber als er Plymmies haßfunkelnde Lichter und ihre gefletschten Zähne gesehen hatte, war ihm doch eine Gänsehaut über den Rücken gelaufen.
Plymmie nahm am Ufer sofort die Spur des Spaniers auf. Die Männer und die Jungen – allesamt schwer bewaffnet – folgten ihr und kletterten in die Felsen.
Die beschädigte Jolle der „Estrella de Málaga“ ließen sie am Ufer neben dem Boot der „San Lorenzo“ zurück. Sie würden sie später reparieren. Das lief ihnen nicht weg. Carrero hingegen entfernte sich immer weiter von ihnen, und mit jedem Schritt, den er zurücklegte, sank die Chance, ihn wieder zu erwischen – trotz Plymmie.
7.
Sven Nyberg, der um Mitternacht den Seeausguck an der Küste bezogen hatte, richtete sich gegen zwei Uhr plötzlich kerzengerade auf. Er vernahm deutlich die beiden Musketenschüsse, die in relativ kurzen Zeitabständen abgegeben wurden. Die kamen von der Bucht, daran gab es keinen Zweifel. Auf welchem Schiff waren sie abgefeuert worden? Egal. Tatsache war, daß es Verdruß gab.
Die See war leer, soweit er sie überblicken konnte. Die ganze Zeit über hatte er sie aufmerksam beobachtet. Es war ausgeschlossen, daß sich jemand mit einem Schiff oder auch nur mit einem Boot in die Bucht gepirscht hatte. Er hätte es bemerken müssen.
Folglich mußten diese beiden Schüsse mit Luis Carrero zusammenhängen. Einen anderen Grund konnte Sven sich nicht vorstellen. Hatte Carrero einen Fluchtversuch unternommen? Kaum vorstellbar, aber der Kerl war gerissen und gefährlich wie ein Sack voll Schlangen. Theoretisch konnte er aus der Vorpiek der Karavelle nicht entweichen. Aber vielleicht hatte er es fertiggebracht, den Posten zu überrumpeln.
Sven ließ seinen Blick erneut über die See wandern. Nichts – keine Bewegung. Es konnte also nicht sein, daß Spanier, Küstenhaie oder Eingeborene in die Bucht eingedrungen waren. Außerdem wären dann wahrscheinlich nicht nur zwei Schüsse gefallen.
Diese Schüsse – was hatten sie zu bedeuten? War Carrero auf der Flucht erschossen worden? Oder war er entwischt. Sven entschloß sich, zur Bucht zurückzukehren, um sich Gewißheit zu verschaffen.
Der Weg über die Felsen und durch das Gestrüpp war beschwerlich genug, aber Sven kümmerte sich nicht um die Kratzer, die er sich wegholte, als er sich ein wenig zu hastig durch ein Dornengesträuch zwängte. Es kam ihm jetzt auf Schnelligkeit an. Er mußte wissen, was da los war. Vielleicht konnte er, wenn Carrero tatsächlich auf der Flucht sein sollte, sogar etwas unternehmen, um den Mann zu stoppen.
Gut eine Viertelstunde mochte verstrichen sein, vielleicht auch eine halbe Stunde – da registrierte Sven rechts vor sich eine Bewegung. Sofort duckte er sich.
Das Gelände, das sich vor ihm erstreckte, war ziemlich unübersichtlich – wegen der vielen zerklüfteten und bizarren Gesteinsformationen und auch wegen des Gestrüpps, das allen Regeln der Natur zum Trotz direkt aus dem Fels zu wachsen schien. Dennoch: Sven erkannte im fahlen Mondlicht die Gestalt eines Mannes, die südwärts auf die Küste zuhastete. Der Mann schien Waffen bei sich zu tragen, eine Muskete war in seinen Fäusten zu sehen.
Sven erkannte, daß es sich um Luis Carrero handelte, und die Gewißheit durchzuckte und alarmierte ihn. Also doch – der Hund hatte es geschafft!
Sven legte mit der Muskete auf ihn an und schrie: „Carrero!“
Luis Carrero zuckte zusammen, als habe man mit einer Peitsche auf ihn eingeschlagen. Er wirbelte herum, riß die Muskete hoch und schoß, dann warf er sich in Deckung.
Irgendwie rechnete Sven nicht damit, daß Carrero ihn in der Dunkelheit wirklich treffen würde. Er hatte sich aufgerichtet, um richtig auf den Kerl zielen zu können, und dabei gab er sich zwangsläufig eine Blöße. Er wollte ebenfalls abdrücken, sah den Mündungsblitz von Carreros Waffe und dachte: Schieß genau hinein!
Aber etwas sprang ihn aus dem Dunkel an und grub sich siedendheiß in seine linke Schulter. Die Kugel! dachte er entsetzt – dann wurde er von der Wucht des Anpralls umgestoßen. Er stöhnte auf und biß die Zähne zusammen. Der Schmerz fraß sich von der Schulter durch seinen Oberkörper und schien ihn zu lähmen.
Carrero grinste triumphierend. Der Kerl, der ihn angerufen hatte, war zwischen den Felsen zusammengebrochen. War er tot – oder nur verletzt? Carrero rappelte sich wieder auf. Es spielte keine Rolle. Wichtig war nur, daß ihm der Mann nicht mehr gefährlich werden konnte.
Nichts rührte sich. Gut so, dachte Carrero. Er hatte keine Zeit, sich um den Gegner zu kümmern, sonst hätte er ihn mit einem zweiten Schuß in den Kopf endgültig niedergestreckt. Er durfte sich jetzt nicht aufhalten lassen. Wenn das Engländer-Pack ihm auf den Fersen war, dann hatte es den Schuß natürlich gehört und wußte, in welche Richtung es sich zu wenden hatte.
Carrero lief weiter. Die Muskete lud er nicht nach. Keine Zeit, dachte er, das erledige ich später. Er rannte durch die Dunkelheit und dachte an das, was er unternehmen würde, wenn er Arica erreichte. Boten mußten unverzüglich nach Potosi aufbrechen, damit der Provinzgouverneur Don Ramón de Cubillo gewarnt wurde.
Ein Landtrupp Soldaten sollte sich zu der Felsenbucht in Bewegung setzen, und alle verfügbaren Schiffe mußten auslaufen und Kurs auf den Rio Tacna nehmen. So wurde den Bastarden jede Fluchtmöglichkeit abgeschnitten. In einer kurzen Schlacht würde er, Carrero, sie vernichten.
Sven Nyberg gab sich keinen Illusionen hin. Er hatte zuviel Erfahrung und wußte genau, daß ihn die Kugel aus Carreros Muskete nicht nur gestreift hatte. Sie hatte, wie er vermutete, seine Schulter glatt durchschlagen. Wenn es so war, konnte er noch von Glück reden, daß keiner der Knochen verletzt war oder die Kugel im Fleisch steckte.
Aber die Schmerzen waren höllisch. Unendlich langsam richtete er sich halb wieder auf. Es flirrte vor seinen Augen. Eine Welle von Übelkeit stieg in ihm auf und setzte ihm zu. Er mußte sich übergeben. Ihm war hundeelend zumute. Alles drehte sich um ihn herum, und das zunehmende Schwindelgefühl drohte ihn umzureißen und erneut zu Boden zu werfen.
Aber er kämpfte dagegen an. Er bezwang die Übelkeit und biß die Zähne zusammen, daß sie knirschten. Er hob die Muskete, die ihm aus den Fingern zu gleiten drohte, drückte den Kolben gegen die Schulter und zielte noch einmal auf den Spanier, der sich über die Felsen entfernte.
Sven brach der kalte Schweiß aus. Du mußt es schaffen, hämmerte er sich ein, gib nicht auf. Wankend stand er auf den Beinen. Aber er vermochte sich zu halten.
Sein rechter Zeigefinger schien gelähmt zu sein. Warum gelang es ihm nicht, ihn zu krümmen? Schließlich klappte es doch. Aber Luis Carrero war schon weit entfernt, seine Gestalt schrumpfte im Licht des Mondes allmählich zusammen. Er drohte zwischen den Felsen zu verschwinden.
Sven taumelte, seine Hände und Arme zitterten. Er bebte am ganzen Körper, und die Kälte legte sich wie ein eisiger Panzer um ihn. Schwindelgefühle, Schmerzen, Schwäche und Übelkeit drohten ihn zu übermannen. Er stieß einen leisen Fluch aus und betätigte den Abzug der Muskete.
Es krachte dumpf, eine weiße Wolke Pulverqualm puffte hoch. Der Rückstoß fuhr hart in Svens Schulter. Er torkelte zurück, konnte sich aber doch noch fangen.
Carreros Lachen drang an seine Ohren. Wirkungslos war die Musketenkugel in der Nacht verpufft. Fehlschuß, dachte Sven, und er war sich seiner Ohnmacht bewußt.
Der Bastard lief weiter und tauchte unter. Die Nacht war sein Verbündeter. Gleich war er ganz weg – keine Aussicht mehr, ihn zu stellen.
Sven dachte an Hasard und die Kameraden, die nach Potosi unterwegs waren. Nein – ihr Unternehmen durfte nicht scheitern! Nicht durch Carrero. Carrero wollte nach Arica, das lag auf der Hand. Dort fand er alle Hilfe und Unterstützung, die er brauchte. Von dort aus organisierte er einen Gegenschlag – der sich vernichtend auswirken würde, denn damit saßen der Seewolf und sein Trupp in einer höllischen Falle.
Diese Gedanken trieben Sven voran. Wie durch ein Wunder hielt er sich noch auf den Beinen. Er stolperte, drohte in den Knien einzuknicken, raffte sich wieder auf und wankte weiter.
Die leergeschossene Muskete ließ er einfach fallen. Sie war ihm eine Last, und er konnte sie im Laufen nicht nachladen. Er griff zur Pistole. Die Pistole hatte nicht die Reichweite der Muskete, er mußte näher an Carrero heran, um ihn zu erwischen. Dieser Schuß durfte nicht fehlgehen!
Carrero warf einen Blick über die Schulter zurück und fragte sich, ob er dem Verfolger zwischen den Felsen auflauern sollte. Aber nein – der Hund torkelte wie ein Betrunkener. Er war angeschossen und konnte sich nicht mehr lange auf den Beinen halten.
Grinsend lief der Spanier weiter. Nicht mehr lange, und der andere würde zusammenbrechen. Wieder hatte er es einem von ihnen gegeben und etwas von dem heimgezahlt, was sie ihm angetan hatten. Vielleicht konnte er noch ein paar von ihnen abschießen. Sie würden auch den Verletzten finden und durch ihn aufgehalten werden.
Sein Vorsprung wuchs, dessen war er sicher. Seine Füße taten ein bißchen weh, aber das nahm er in Kauf. In Arica würde er sich neue Stiefel besorgen – handgearbeitete, weiche Langschäfter. Das war kein Problem. Er mußte nur den Hafen erreichen, dann fand alles seine Lösung.
Hart und scharf waren die Felsen, und jeder Schritt begann zur Plage zu werden. Aber das war ein Preis, den Carrero gern zahlte. Er hätte auch noch mehr Opfer gebracht. Nur fort – fort aus der Gefangenschaft, die den sicheren Tod für ihn bedeutete. Sie warteten nur darauf, ihn an der Rah hochzuziehen, sie bereiteten sich einen Spaß daraus, ihn zu quälen. Aber jetzt hatte er ihnen alles verdorben!
Sven tat noch ein paar Schritte, dann blieb er stehen.
„O mein Gott“, murmelte er.
Die Pistole entglitt seinen schlaff werdenden Fingern. Alles drehte sich, schneller als vorher. Die Schmerzen waren glühende Zangen, die in seine linke Schulter bissen.
Er tat noch einen einzigen Schritt, dann wurde es ihm schwarz vor Augen. Er stürzte auf die Felsen, aber den Aufprall spürte er schon nicht mehr, denn er war bewußtlos, als sein Körper den Boden berührte.
8.
Big Old Shane blieb wie vom Donner gerührt stehen, als die beiden Musketenschüsse durch die Nacht peitschten.
„Hölle und Teufel“, sagte er. „Das kommt vom Wasser.“
„Sven“, sagte Blacky. „Er hat natürlich die Schüsse gehört, die Montbars abgegeben hat. Er hat sich auf den Weg zu uns gemacht, schätze ich, und dabei ist er Carrero begegnet.“
„Hoffentlich hat er ihn erwischt“, sagte Baxter. „Damit wäre der Fall erledigt.“
Shane setzte sich wieder in Bewegung und begann zu rennen.
„Glaub bloß nicht an Wunder!“ stieß er hervor. „Los, Beeilung!“
Hasard junior, der Plymmie an der Leine festhielt, war dicht hinter ihm. Die Hündin zerrte wie verrückt daran und legte jetzt ein geradezu unwahrscheinliches Tempo vor.
Die anderen Männer und Philip junior hasteten hinter ihnen her. Hatte Sven wirklich geschossen? Diese Frage beschäftigte sie, bis sie mitten zwischen den Felsen auf eine reglose Gestalt stießen.
„Sven!“ sagte Shane wild. Er stoppte und beugte sich über ihn.
Sven Nyberg rührte sich nicht. Er gab auch keinen Laut von sich. Er lag in etwa so da wie Jack Finnegan, der mehr tot als lebendig gewirkt hatte. Die klaffende Wunde in seiner linken Schulter konnten sie im Mondlicht deutlich genug erkennen.
„Dieses Schwein hat ihn angeschossen“, sagte Blacky. „Das wird er uns büßen.“
„Sei still!“ zischte Shane. „Nicht so laut! Vielleicht lauert er hier irgendwo in der Nähe und wartet nur darauf, uns der Reihe nach abzuknallen!“
„So viele Kugeln hat er nicht“, raunte Montbars.
„Kugeln vielleicht“, stellte Al richtig. „Aber er kann nicht schnell genug nachladen. Er hat eine Muskete und zwei Pistolen, das ist alles. Die Muskete ist bereits leergeschossen.“
Shane hatte Svens Muskete untersucht.
„Sven hat auch gefeuert“, sagte er. „So erklären sich die beiden Schüsse.“
„Carrero kann die Muskete auf seiner Flucht nicht nachladen“, sagte Baxter. „Er hat also nur noch die beiden Pistolen.“ Er blickte sich sichernd nach allen Seiten um. „Shane, du irrst dich. Hier ist er nicht. Sonst hätte er sich längst bemerkbar gemacht.“
Plymmie zerrte wieder wie von Sinnen an der Leine und schien davonrasen zu wollen.
„Verdammt!“ stieß Hasard junior hervor. „Ich kann sie nicht mehr halten!“
Philip junior eilte ihm zu Hilfe. Gemeinsam trachteten sie, die Hündin zurückzuhalten. Sie legte sich jedoch knurrend immer stärker ins Zeug und schien sich am eigenen Halsband erwürgen zu wollen.
„Wir müssen weiter“, sagte Shane. „Blacky, du bleibst hier und kümmerst dich um Sven. Versuche wenigstens festzustellen, was die Kugel angerichtet hat.“
„In Ordnung“, sagte Blacky. „Aber wenn ihr mich braucht, ruft ihr, klar?“
„Oder wir geben einen Warnschuß in die Luft ab“, entgegnete Shane. „Daß Plymmie auf der richtigen Spur ist, hat sie uns schon bewiesen. Jetzt legen wir noch einen Zahn zu, und ich schwöre euch, wir kriegen den Bastard.“
Blacky kauerte sich neben Sven. Die anderen hetzten weiter. Binnen weniger Augenblicke hatte die Nacht ihre Gestalten verschluckt. Blacky sah sich um und versuchte, mehr von der Umgebung zu erkennen. Da waren die Felsen, die wie stumme, drohende Wesen in die Dunkelheit aufragten, und da waren die Büsche, struppige, stachlige Gebilde. Versuchte Carrero vielleicht doch, ihnen ein Schnippchen zu schlagen? Lag er in Deckung, während der Trupp weiterlief und ihn suchte? Nein – Plymmie konnte sich nicht irren.
Dennoch beschloß Blacky, sich umzuschauen und sich wenigstens zu vergewissern, daß im Umkreis von fünfzig Yards keine Gefahr lauerte. Er wollte sich erheben und davonhuschen, da erlangte Sven das Bewußtsein wieder.
„He“, flüsterte er. „Blacky, bist du das?“
„Ja. Wie fühlst du dich?“
„Einfach prächtig. Habt ihr ihn?“
„Noch nicht, aber die anderen sind ihm auf den Fersen“, erwiderte Blacky.
„Wer alles?“
„Shane, Al, Batuti, die Zwillinge, Montbars, Piet und Baxter – und Plymmie. Plymmie hat mal kurz an Carreros Stiefeln geschnuppert, die er in der Vorpiek zurückgelassen hat, und jetzt hat sie seine Witterung aufgenommen.“
„Das ist gut. Sie findet ihn.“
„Hör mal“, raunte Blacky. „Was ist, wenn der Don noch hier in der Nähe steckt?“
„Er ist weg“, murmelte Sven. „Ich habe ihn selbst türmen sehen. Dann wurde alles schwarz um mich rum, und ich bin wohl umgekippt.“
„Tut die Schulter sehr weh?“
„Ach wo.“
„Glaubst du, daß die Kugel steckt?“
„Sie ist glatt hindurchgegangen“, erwiderte der Däne. „Wie durch ein Stück Butter. Ist das nicht witzig?“
„Ja, sehr. Urkomisch. Mir kommen gleich die Tränen. Vor Lachen, meine ich.“
„Viel ist da nicht zu machen. Das heilt schon wieder aus.“
„Ich lege dir einen provisorischen Verband an“, sagte Blacky. „Dann wird das Bluten schon aufhören. Du stützt dich auf mich, und wir kehren zur Bucht zurück.“
„Verdammt, ich will Carrero schnappen!“
„Du spinnst wohl! In deinem Zustand?“
„Wie ist das überhaupt passiert?“ erkundigte sich Sven. „Wie konnte der Hund aus der Vorpiek entkommen?“
„Beim Fischen der Anchovetas müssen wir unaufmerksam gewesen sein. Er durfte sich gerade die Füße an Deck vertreten, erinnerst du dich?“
„Ja.“
„Nun, dabei hat er sich einen Koffeynagel aus der Nagelbank des Großmastes geholt – als wir gerade nicht aufgepaßt haben.“