Seewölfe Paket 28

- -
- 100%
- +
Hasard peilte nach dem Pegelstand in der Flasche. Es stimmte. Die Hälfte war noch drin. Da mußte sich der Profos mächtig am Riemen gerissen haben.
„Die war geschenkt, Ed“, sagte er, „für außergewöhnliche Verdienste um das Wohl der ‚Santa Barbara‘ und ihrer Crew, auch wenn du auf beiden Ohren schwerhörig warst und somit meine Befehle überhörtest.“
„Doch-doch, Sir“, versicherte der Profos, „deine Befehle hörte ich, aber die Umstände waren nicht so, sie sofort befolgen zu können. Ich bedanke mich – äh – submissest für die großzügige Schenkung, Sir.“
Hasard runzelte die Stirn. „Submissest? Wo hast du denn das her, Ed?“
„Ich nehme beim Kutscher Unterricht in der lateinischen Sprache, Sir“, erklärte der Profos unverfroren. „Um meine Bildung zu erweitern. Submissest heißt …“
„Ergebenst“, sagte Hasard, „ich habe auch mal ein bißchen Latein gelernt.“
Der Profos war enttäuscht.
Hasard grinste ihn an. „Frag mal den Kutscher, ob er weiß, was Anus Simiae heißt, Ed.“
„Was heißt es denn?“
„Affenarsch! Ganz wörtlich: der After des Affen. Anus ist After und Simiae der Affe. Simiae ist die Genitivform von Simia, also der Wesfall, der zweite Fall, wenn man das Wort Affe beugt oder dekliniert. Alles klar?“
Der Profos schluckte, murmelte dann andächtig: „Anus Simiae“, bedankte sich wieder „submissest“ und ging auf Kombüsenkurs.
„Ed!“ rief Hasard hinter ihm her. „In einer halben Stunde ist Alle-Mann-Manöver am Gangspill. Halt, warte mal, mir ist eben etwas eingefallen!“ Und schon fegte er auf die Kuhl hinunter, überquerte sie und enterte auf die Back.
Carberry folgte ihm. Ben Brighton schaute überrascht drein.
Hasard beugte sich vorn an Backbord über das Schanzkleid und schaute auf die Ankertrosse. Für einen Moment erschien ein grimmiger Ausdruck in seinen Augen. Dann trat er zurück und sagte zu Carberry: „Laß die Trosse einholen, Ed.“
„Trosse einholen?“ fragte Carberry irritiert. „Das geht doch nicht, Sir.“
„Wetten, daß es geht? Um die halbe Buddel Rum?“
„Nee! Wenn du so sicher bist, wette ich lieber nicht, Sir“, sagte der Profos, schob sich ans Schanzkleid und starrte ebenfalls hinunter auf die Trosse. „Wie steht sie denn?“ murmelte er verblüfft. „Überhaupt kein Zug mehr drauf.“
„Kann auch nicht“, sagte Hasard, „weil die Kerle sie heute nacht gekappt haben. Und warum haben sie die Trosse gekappt, mein lieber Ed?“
Der Profos fluchte. „Um uns hier festzunageln, Sir.“
„So ist es. Hätte dir auch früher einfallen können. Aber wenigstens hast du deine halbe Buddel Rum gerettet. Ich könnte jetzt einen Schluck vertragen. Wie sagt man? Morgenstunde hat Gold im Munde.“
Carberry fand, daß sein Kapitän trotz dieser beschissenen Situation immer noch einen prächtigen Humor hatte. Und dann gluckerten sie einen, der Kapitän und sein Profos.
Ben Brighton kreuzte auch auf, von der Neugier geplagt.
„Kann man nach dem Grund dieser Sauforgie fragen?“ erkundigte er sich.
„Kann man“, sagte Hasard. „Die Kerle haben heute nacht unsere Ankertrosse gekappt.“
„Du meine Güte“, sagte Ben Brighton. „Das heißt, daß wir …“
„… jetzt endgültig festsitzen“, ergänzte Hasard, „das hat Ed auch sehr richtig erkannt. Er nannte es festnageln. Gib Ben auch einen Schluck, Ed. Er sieht so verdrossen aus.“
Der Profos grinste und reichte Ben die Flasche. Der verschluckte sich beinahe.
„Nicht so hastig“, warnte Carberry, „auch wenn Morgenstunde Rum im Munde hat.“
„Gold“, verbesserte Hasard.
„Rum ist Gold“, erklärte der Profos.
„Da hast du auch wieder recht“, meinte Hasard, dachte nach, kratzte sich hinter dem Ohr und setzte hinzu: „Diese schlauen Hunde! Kappen die Trosse und wissen genau, daß wir das erst heute morgen bei Tageslicht entdecken. Jetzt – beim Hochwasserstand. Aber wir können nichts tun, solange die Verbindung zwischen Anker und Schiff unterbrochen ist. Und um diese Verbindung wiederherzustellen, müssen wir erst mal nach dem Anker suchen – was bei Niedrigwasserstand kein Problem ist. Aber den haben wir erst heute abend. Das heißt, daß diese Halunken bis zum Abend Zeit haben, uns ans Leder zu gehen – so sie das beabsichtigen.“
Fast alle Mann hatten sich auf und an der Back versammelt und hörten aufmerksam zu.
„Und uns“, fuhr Hasard fort, „bleibt jetzt nur eine ganz knappe Zeit, nach dem anderen Ende der Ankertrosse zu fischen, die Enden wieder zu verbinden und erneut zu versuchen, die ‚Santa Barbara‘ von der Sandbank zu ziehen. Oder wir lassen den gekappten Anker sausen und bringen sofort den Reserveanker aus. Was geht schneller? Alte Trosse suchen und verbinden oder neuen Anker ausbringen?“
„Reserveanker ausbringen“, sagte Ben Brigthon entschlossen. „Die Fummelei, das andere Ende zu fischen, braucht zuviel Zeit.“
„Glaube ich auch“, sagte Hasard, und die Männer nickten zustimmend.
Sie verloren keine Zeit. Der Reserveanker wurde an Deck gewuchtet, während gleichzeitig ein paar andere Mannen die Jolle an Steuerbord zu Wasser ließen. Carberry besetzte sie mit sechs Arwenacks, verholte nach vorn und übernahm den Reserveanker, dessen Trosse durch die Steuerbordklüse ins Vorschiff und über die Beting zum Gangspill verlaufen würde.
Der Anker wurde außenbords am Heck der Jolle beigefangen. Dort ragten die Enden von zwei Spülspaken über den Spiegel hinaus. Die Spillspaken lagen in Längsschiffsrichtung und waren an den Duchten festgelascht, so daß sie nicht hochkippen konnten, wenn sie das Gewicht des Ankers aufnahmen. Der Anker wurde von der Back aus so abgefiert, daß er auf und nieder zwischen den beiden Spillhaken schwebte, bis der Ankerstock quer auf den beiden Spülspaken auflag. Jetzt ruhte der Anker auf und nieder zwischen den beiden Spaken, abgefangen von dem Ankerstock. Der Ankerschaft wurde an Augbolzen am Heck beigebändselt, so daß ein Verrutschen nicht möglich war. Die Ankertrosse, oben am Roring bereits angeschlagen, lag in Buchten aufgeschossen in der Plicht, klar zum Auslaufen.
„Laßt den Anker etwa dort fallen, wo der andere liegt, Ed!“ rief Hasard von der Back hinunter.
Carberry zeigte klar und gab den Befehl, anzupullen.
Der Profos und seine sechs Mannen hatten die ungefähre Ankerstelle noch nicht erreicht, als Bills Alarmruf aus dem Hauptmars ertönte.
„Segler! Backbords bei den Inseln!“
Hasard fuhr herum, sah die Ein- und Zweimaster auf den Prielen und zwischen den Inseln und brüllte: „Klar Schiff zum Gefecht! Sofort Feuer frei! Ed – zurück!“
Die Männer spritzten auseinander und fegten zu den Kanonen und Drehbassen. Carberrys Jolle drehte auf der Stelle mit Anrudern und Streichen der Riemen, Carberry selbst bückte sich und nahm eine Muskete auf. Ein Blick nach Backbord hatte ihm genügt: Das würde verdammt knapp werden, denn zwei Einmaster versuchten bereits, der Jolle den Weg zurück abzuschneiden.
„Holt durch, Kerls“, sagte er zwischen zusammengebissenen Zähnen, „oder wir versammeln uns in Bälde bei unseren Ahnen!“
In Bälde! Das hieß soviel wie: demnächst, in sehr absehbarer Zeit, die rapide kürzer wurde.
Carberry verfluchte seine Nachlässigkeit, keine Flaschenbomben mitgenommen zu haben. Aber die Jolle war eh vollgepackt. Für einen kurzen Moment erwog er, den Anker von den Spillspaken rutschen zu lassen, um das Boot zu leichtern. Aber dann überwog der Geiz! So viele Anker hatten sie nun auch wieder nicht, um sie in diesem verdammten Gewässer verplempern zu können.
Als er die Bogenschützen an Bord der beiden Einmaster sah, zog er instinktiv den Kopf ein.
Da krachte auf der Back eine Drehbasse.
Ah! Meister Conroy war am Werk – wie immer schnell und kaltblütig und treffsicher.
Jawohl! Die gehackte Ladung jaulte mit Höllenmusik übers Wasser und fegte wie eine Sense die Kerle von dem vordersten Einmaster über Bord.
Und schon feuerte die andere Drehbasse auf der Back. Smoky, der Glatzkopf, bediente sie. Braver Smoky. Hatte er auch mit gehackter Ladung geschossen? Nein, Kugel.
Treffer Wasserlinie. Ein prächtiges Loch – und weg war die Kugel. Das Wasser gurgelte hinter ihr her in den Rumpf.
Carberry atmete auf. Das „in Bälde“ verlängerte sich wieder. Wenn es einen seidenen Faden ausdrückte, an dem das Leben hing, dann verstärkte sich der Faden zum kräftigen Tau und bot gute Chancen zur Dauerhaftigkeit.
Denn auch Batuti und Big Old Shane traten in Aktion. Die Prozedur des Ladens entfiel bei ihnen. Pfeil auflegen, den Langbogen spannen, zielen, schießen.
Ihre Pfeile zischten hinüber zu dem ersten Einmaster, dessen Mannschaft von der gehackten Ladung dezimiert worden war, aber eben nur das, und sie hatte vor allem die aufrechtstehenden Bogenschützen erwischt. Doch der Rest der Crew hatte noch nicht genug – oder sah immer noch eine Chance, über die Jolle herzufallen.
Diese Chance schwand, als die Pfeile einschlugen – Brand- und Pulverpfeile. Das schöne trapezförmige Lateinersegel fing Feuer, als ein paar Brandpfeile mit ihren Haken im Tuch hängenblieben und nicht schnell genug entfernt werden konnten.
Das Segel – knochentrocken offenbar – lohte auf wie Zunder und entwickelte sich zur Riesenfackel. Es war beruhigend, das Gebrüll der Kerle zu hören, ein Gebrüll, das sich noch verstärkte, als das Flammentuch samt der Rahrute an Deck krachte, als die Funken nur so stoben und das Feuer mit rasender Wut um sich griff.
Sie sprangen über Bord. Und da waren plötzlich die anderen Mörder zur Stelle, und bestimmt war auch jener dabei, der am Vortag einen Blinker samt Haken und Barsch verschluckt hatte, so ihm der Blinkerhaken im Schlund oder im Magen nicht sauer aufstieß. Aber das konnte ihn andererseits vielleicht auch besonders wütend stimmen. Bei Haien weiß man das nie so genau, man weiß eben nur, daß sie völlig unberechenbar sind.
Carberry schaute lieber weg. Außerdem hatten sie es geschafft. Die Jolle glitt an Steuerbord längsseits, Vor- und Achterleine flogen hoch, wurden oben vertäut, und die Mannen enterten im Blitztempo auf. Die Jolle blieb längsseits. Jetzt war keine Zeit, sie aufzuhieven.
Hasard fiel ein Stein von der Seele, als die Mannen unbeschadet auf die Kuhl sprangen und sich sofort an den Waffen verteilten. Ja, das war schon klar, es würde wieder eine Rundumverteidigung werden, aber zunächst auf Distanz – zum Nachteil der Piraten, die nicht ahnten, auf was sie sich einließen.
Ihre Taktik war einfach. Sie verteilten sich und griffen von allen Seiten an, doch nicht mit schwerem Geschütz, und zwar deswegen nicht, weil sie etwas von ihrer Beute haben wollten. Und von der hatten sie nichts, wenn sie die Galeone versenkten. Nein, sie wollten entern, und darum setzten sie beim Heransegeln nur Pfeile und Musketenkugeln ein, aber mehr Pfeile als Kugeln.
Sie wollten es mit der Masse schaffen. Hasard zählte acht Zweimaster und zwölf Einmaster – alle vom Dhau-Typ. Auffallend war ein größerer Zweimaster, der allerdings Drehbassen auf dem Schanzkleid zeigte, sich jedoch zurückhielt. Er war auf die Steuerbordseite der „Santa Barbara“ gesegelt. Offenbar handelte es sich bei dieser Dhau um das „Flaggschiff“ der Kerle.
Durch den Kieker erspähte Hasard dort einen Mann in hellem Gewand und Pluderhose, umgürtet mit einer glitzernden Schärpe, an der ein Prunksäbel hing. Die Kerle auf dem Achterdeck kuschten vor ihm. In der rechten Hand hatte er eine Peitsche, deren Griff silbern schimmerte.
Der Einmaster, der von Smokys Drehbassenkugel getroffen worden war, zog sich mit schwerer Schlagseite in einen der Priele zurück.
In diesen Moment krachten die ersten Culverinen der „Santa Barbara“, und der Schußdonner rollte über die See. An Backbord bäumten sich zwei Zweimaster und ein Einmaster auf, an Steuerbord drei Zweimaster – sechs Schüsse, sechs Treffer, und das bei schmaler Silhouette der angreifenden Segler.
Auf zwei Zweimastern der Angreifer an Steuerbord kippten die vorderen Masten um und schlugen an Deck. Dem dritten Zweimaster wurde der halbe Vorsteven weggerissen, dabei brach das Vorstag, und der Vormast wurde nur noch von den Wanten gehalten, neigte sich aber bereits bedenklich nach achtern.
Auf der Backbordseite wurde ein Zweimaster auf Anhieb total entmastet, gewiß ein Glückstreffer, aber das konnte passieren, wenn die Wanten der Luvseite brachen. Die Culverinenkugel zerfetzte die Backbordwanten von Vormast und Hauptmast, und beide Masten knickten unter dem Winddruck nach Steuerbord weg. Dort schlugen sie in die See und wirkten samt der langen Rahruten und Segel als Treibanker.
Damit nicht genug – der Zweimaster schwang mitten aus der Fahrt heraus nach Lee und damit genau in den Kurs eines folgenden Einmasters, der nicht mehr ausweichen konnte. Er krachte mittschiffs in den Zweimaster, durchbrach dessen Steuerbordseite und keilte sich dort fest.
Diese beiden Schiffe bildeten eine perfekte Wuhling. Das Geschrei und Gebrüll der Kerle war dementsprechend.
Bei den beiden anderen Treffern auf dem Zweimaster und dem Einmaster zerschmetterten die Kugeln Planken in Höhe der Wasserlinien, und zwar in Nähe der Vorsteven. Die würden zumindest Leckagen haben, wo das Wasser hineinsuppte.
Aber schon feuerten die je drei anderen Culverinen an Backbord und Steuerbord, während die sechs anderen nachgeladen wurden. Hinzu gesellten sich die blaffenden Schüsse der Drehbassen und das Explodieren der Pulverpfeile von Big Old Shane im Hauptmars und Batuti im Vormars. Und Ferris Tucker schoß seine Flaschenbomben aus dem Katapultgerät ab.
Die „Santa Barbara“ verwandelte sich in ein nach allen Seiten feuerspuckendes Ungeheuer. Die Arwenacks entfesselten die Hölle – sie konnten es, denn die Galeone lag fest, kein Mann wurde für Segelmanöver an Schoten oder Brassen gebraucht, jeder stand für die Waffen zur Verfügung. Sie ließen die Kuh fliegen, wie einer ihrer Ausdrücke lautete, und sie brüllten den Kerlen ihren Schlachtruf entgegen.
Zwei Dhauen – Zweimaster – schafften es, den Abwehrgürtel zu durchbrechen. Und da setzte Hasard die chinesischen Brandsätze gegen sie ein – im Direktbeschuß. Das spielte sich an Steuerbord ab.
Heulend, jaulend und pfeifend rasten die Raketen in flacher Bahn gegen die beiden Segler, zerplatzten dort in grellen Explosionen, aus denen neue Blitze knatterten und nach allen Seiten buntfarbene Kometen ausspuckten, die über die Decks hüpften und – wo sie auf Widerstand trafen – in einem neuen Feuerregen zerbarsten.
Die Hölle tat sich auf. Ja, es mußte Höllenfeuer sein, denn es war nicht zu löschen. Es brannte sogar auf dem Wasser. Die beiden Dhauen wurden zu flammenden Fanalen.
Die Kerle auf den beiden Dhauen packte das nackte Entsetzen. Sie waren nicht mehr in der Lage, klar zu denken. Vor die Tatsache gestellt, den Flammentod zu sterben, entschieden sie sich für den Sprung ins Wasser. Dort jedoch wurden sie von den Mördern erwartet. Vielleicht dachte der eine oder andere, dem Massaker dennoch entgehen zu können. Doch die Haie waren von einer Raserei gepackt. Sie waren entfesselt.
Dort, wo sich dieses mörderische Geschehen abspielte, wurde die See zu einem kochenden, schäumenden Kessel von in rasender Gier vorschnellenden schlanken Fischleibern und sich in Todesangst aufbäumenden Menschenkörpern.
Der Tod hielt Ernte.
Der Angriff brach zusammen.
Die mehr oder weniger angeschlagenen Ein- oder Zweimaster an Backbord flüchteten landwärts oder verschwanden zwischen den Inseln. Sie waren fern der Befehlsgewalt Hassan al-Karabs und außerhalb der Reichweite seiner Peitsche. Auch wenn er beides eingesetzt hätte – sie wären geflohen. Diese Galeone der Giaurs war verhext. Dort hausten Teufel, die Höllenfeuer spuckten.
Bei den Angreifern an Steuerbord brachte es Hassan al-Karab immerhin zustande, sie von der Flucht zurückzuhalten. Es waren mit seinem „Flaggschiff“ noch zwei Zweimaster und vier Einmaster. Er ließ sie außerhalb der Reichweite der Kanonen von der „Santa Barbara“ von Nordwest über Ost nach Südwest vor Anker gehen, so daß die Galeone eingekesselt war.
Für Hasard war die Maßnahme eindeutig. Der Piratenhäuptling wollte verhindern, daß sie den Reserveanker ausbrachten. Wenn sie es taten, würden sie mit einem schnellen Angriff auf die Jolle rechnen müssen. Das konnte riskant werden. Also ließ er das lieber sein. Bisher hatten sie sich gut geschlagen – und so sollte es bleiben: kein Risiko bei fragwürdigem Einsatz.
Die Kerle waren jetzt vorsichtig geworden, und sie hatten erhebliche Verluste hinnehmen müssen, auch an Schiffen. Der Zweimaster und der Einmaster, die sich ineinander verkeilt hatten, waren gesunken. Die Kerle waren in die Beiboote gestiegen und hatten sich empfohlen.
Und weiter? Na ja, sobald der Niedrigwasserstand einsetzte – heute abend –, würden sie wieder ans „Abspecken“ gehen. Und sie würden natürlich die Enden der gekappten Ankertrosse wieder zusammenstecken. Das war dann kein Problem mehr. Da brauchte nicht gefischt zu werden. Allerdings würden sie dann die Nacht über die Trosse bewachen müssen.
Nächste Frage: Würden sich die sechs Bewacher trockenfallen lassen oder bei zunehmendem Niedrigwasser ihre Positionen räumen? Das blieb abzuwarten. Wenn sie verschwanden, so konnte das bedeuten, daß der Piratenhäuptling seine ganzen Kräfte noch einmal zusammenraffte, um erneut einen nächtlichen Überfall zu unternehmen. Das konnte er allerdings auch von den trockengefallenen Schiffen aus tun, aber mit verminderter Mannschaft.
Abwarten, Nerven behalten.
Rum für alle. Dann Gefechtsstationen aufklaren und Boot wieder aufhieven. Die übliche Bordroutine. Aber alles blieb gefechtsklar. Die Trosse, von Carberry und ein paar Mannen eingeholt, zeigte an ihrem Ende einen glatten Schnitt – und brachte noch eine Erkenntnis. Sie war nahezu in ihrer vollen Länge vorhanden, weil man sie dicht beim Roring gekappt hatte, also vermutlich während des nächtlichen Überfalls, als Anker und Trossen noch trockenlagen.
Da hätte das Ankerkommando lange nach dem anderen Ende fischen können!
7.
Kurz vor dem mittäglichen Backen und Banken meldete Jeff Bowie, Ausguck im Hauptmars: „Flaggschiff setzt Boot aus!“
Sofort wurden die Mannen mobil. Wer gedöst hatte, stand plötzlich an den Kanonen oder Drehbassen.
Hasard spähte durch den Kieker zum Flaggschiff, ebenso Ben und Don Juan de Alcazar. Sechs Mann besetzten das Boot. Dann folgten der Bootssteurer und der Mann mit der glitzernden Schärpe. Aber seine Peitsche hatte er nicht dabei, und auch der Prunksäbel fehlte. Das Boot nahm Kurs auf die „Santa Barbara“.
„Der will was von uns“, sagte Ben Brighton.
„Ach ja?“ Hasard grinste. „Woran hast du das gemerkt?“
Ben ersparte sich eine Antwort. Er wußte selbst, daß er eben nicht sehr geistreich gewesen war.
Dafür sagte jetzt Don Juan: „Der will verhandeln.“
„Ach ja?“ sagte Hasard ein zweites Mal und grinste wiederum infam. „Aber vielleicht will er bei uns zu Mittag essen, eh? Oder uns zum Würfelspiel einladen. Oder einfach nur plaudern. Vielleicht hat er Langeweile, der Gute. Aber eins glaube ich ganz sicher: daß er verhandeln will!“
„Sagte ich doch!“
„Eben. Du und Ben, ihr seid heute mittag so scharfsinnig. Da wird ein Boot auf uns zugepullt, und der eine sagt: Der will was von uns. Und der andere sagt: Der will verhandeln. Das sind so ausgesprochen kluge Bemerkungen wie etwa jene: Wenn’s regnet, wird’s naß!“
„Aha“, sagte Don Juan.
„Aha“, sagte auch Ben Brighton.
Und dann lachten sie alle drei.
Hassan al-Karab sah es und wunderte sich. Ihm war längst klar, wer dieses Schiff führte, denn auch er hatte durch ein Spektiv gespäht: der schwarzhaarige Riese mit den angegrauten Schläfen, ein Mann, mit den Bewegungen einer Raubkatze. Ein Spanier?
Als er sah, daß eine Drehbasse geschwenkt und auf das Boot gerichtet wurde, stand er auf und hob beide Arme, um anzudeuten, daß er friedliche Absichten habe. Darauf wurde der Lauf wieder angekippt. Aber eine Jakobsleiter brachten sie nicht aus.
Als das Boot auf Rufweite heran war, rief Hasard in der spanischen Sprache: „Halt! Ich lasse sonst schießen!“
„Sie Spanier?“ fragte Hassan al-Karab.
Hasard ignorierte die Frage. „Was wollen Sie?“
„Ich Scheich Hassan al-Karab! Ich an Bord kommen, um Besprechung halten.“
„Abgelehnt. Sagen Sie, was Sie wollen, sonst können Sie wieder zurückpullen!“
„Warum nicht an Bord?“
„Ich habe etwas gegen Schnüffler!“
Hassan al-Karab knirschte mit den Zähnen. Dieser Giaur hatte eine scharfe Zunge und führte sich auf, als sei er hier der Scheich.
„Ich gewähre Schiff freien Abzug!“ rief er. „Wenn eingehen auf Handel!“
Hasard lachte schallend, und die Mannen stimmten ein. Am lautesten lachte Carberry. Bei Hassan al-Karab schwollen die Stirnadern an.
„Sie nicht lachen!“ schrie er. „Sonst Krieger alle töten!“
„Bisher war’s umgekehrt!“ rief Hasard.
„Sie mir Frauen übergeben, dann Schiff freier Abzug! Wort ist Ehre!“
Hasard blickte zu Ben. „Hat der Frauen gesagt?“
„Hab’ ich auch verstanden“, erwiderte Ben Brighton. Er war genauso verdutzt wie Hasard und alle anderen.
„Wir haben keine Frauen an Bord!“ rief Hasard.
Hassan al-Karab hob den Arm und deutete auf Smoky. „Doch Frauen an Bord! Dort Eunuch mit Glatzkopf! Soll auf Frauen aufpassen!“
Carberry mußte Smoky festhalten. Der war hochgegangen wie eine Rakete und drauf und dran, übers Schanzkleid zu springen und das Boot zu attackieren.
„Ruhe, Smoky, Ruhe“, besänftigte der Profos, „laß den Kerl doch sabbeln …“
„Der hat mich beleidigt!“ brüllte Smoky. „Das laß ich mir nicht bieten, nicht von diesem Kameltreiber, diesem Hurenbock, diesem verlausten! Dem schneide ich …“
„Bitte um Ruhe, Mister Smoky!“ rief Hasard und zu Hassan al-Karab: „Dieser Mann ist mein Decksältester, wenn Sie wissen, was das ist. Er fühlt sich beleidigt, daß Sie ihn als Eunuchen bezeichnet haben. Dafür nennt er Sie einen Kameltreiber und verlausten Hurenbock. Dem stimme ich voll und ganz zu. Mit Frauen kann ich Ihnen nicht dienen, es sind keine an Bord. Und wenn sie an Bord wären, würde ich sie einem verlausten Hurenbock bestimmt nicht übergeben. Einen freien Abzug brauchen wir nicht – den erkämpfen wir uns, wenn es sein muß. Im übrigen ist Ihr Ehrenwort einen Dreck wert. Sie haben mein Schiff zweimal überfallen lassen. Für mich sind Sie weiter nichts als ein mieser Küstenstrolch, ein Wegelagerer, der in feiger Weise die Situation ausnutzt, daß ein Schiff aufgelaufen ist!“
„Ich euch zerschmettern!“ brüllte der Scheich, nunmehr noch dunkler im dunklen Gesicht. „Alle – krrggs!“ Und er zog die Handkante quer über die Kehle.
Wieder ertönte das Gelächter der Arwenacks, und das war bestimmt keine Musik in den Ohren Hassan al-Karabs. Es war noch beleidigender als alle jene Ausdrücke, mit denen er von diesem Giaur bedacht worden war.
Als es verebbte, rief Hasard: „Dann mal los, du Großmaul! Wir haben nichts dagegen, wenn sich deine Kerle weiter blutige Nasen holen wollen. Leider sind sie bisher immer nur davongelaufen, und vom Zerschmettern haben wir auch nicht viel gemerkt!“
„Buuuhh!“ röhrte Carberry los, und der ganze Chor der Arwenacks fiel ein. Es dröhnte über die See und klang, als stampfe eine brüllende Riesenherde von Stieren heran.
Die sechs Kerle und der Bootssteurer zogen die Köpfe ein. Hassan al-Karab hätte vor Wut am liebsten mit der Nilpferdpeitsche auf sie eingedroschen, um sich Luft zu verschaffen. Aber die hatte er leider an Bord zurückgelassen. Da ihm der Bootssteurer auf der Achterducht am nächsten war, bedachte er ihn mit Fußtritten, worauf das Gebuhe an Bord der Galeone noch lauter wurde.
Hassan al-Karab empfand es als eine Verhöhnung, und genau das sollte es auch sein. Es trieb ihn zur Weißglut.
Um nicht noch mehr Verluste hinnehmen zu müssen, hatte er den Giaurs einen Kuhhandel vorschlagen wollen. Er hatte sich eingeredet, sie würden darauf eingehen. Aber mit einer derartigen Abfuhr hatte er nicht gerechnet.
Dabei mußte er zugeben – obwohl er es nicht wahrhaben wollte –, daß er und seine Krieger ihren Meister gefunden hatten. Der Gegner war unbeschadet geblieben. Er hatte sich mit einer Härte und einem Geschick verteidigt, wie sie es noch nie erlebt hatten.