Seewölfe Paket 28

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„Wir werden ihn fangen“, entgegnete der Sultan. „Vielleicht sogar schon heute nacht. Dann werde ich furchtbare Rache an ihm nehmen. Er wird büßen, das schwöre ich dir.“
„Nabila“, wandte sich der Seewolf noch einmal an die Frau. „Haben Sie einen Verdacht, wer der Mörder sein könnte?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Wirklich nicht.“
„Das reicht jetzt“, sagte der Kutscher. „Sie braucht nichts dringender als Ruhe.“
Kurz darauf, als die Männer wieder im Park des Palastes standen, tauchte der Leibarzt auf. Er schlich um sie herum und schien nach Worten zu suchen. Schließlich war es der Sultan, der ihn zu sich rief.
„Du solltest mit glühenden Zangen gezwickt werden“, sagte er. „Aber ich will Gnade vor Recht ergehen lassen. Du bist ein Narr, und du hast noch viel hinzuzulernen. Laß dir von dem englischen Arzt erklären, was er getan hat. Lerne von ihm. Höre auf ihn. Tust du es nicht, schneide ich dir die Ohren und die Nase ab.“
„Ja, Herr, ja, Herr“, stammelte der Leibarzt.
Dem Kutscher tat der Mann nun doch leid. Er gab sich die größte Mühe, ihm mit Mustafas Unterstützung einige Methoden der Behandlung, wie sie in der Alten Welt üblich waren, beizubringen. Es wurde ein langes Gespräch – und allmählich wurde es darüber dunkel. Sehr schnell waren die Stunden verstrichen.
„Bevor ich wieder in den Schacht steige, muß ich mich mit meinen Männern absprechen“, sagte Hasard. „Sie brennen sicherlich schon darauf, den letzten Stand der Dinge zu erfahren.
„Ich gebe dir mein bestes Pferd“, sagte der Sultan.
Wenige Minuten später ritt Hasard zum Hafen hinunter. Er kletterte ins Boot. Jack Finnegan und Paddy Rogers hatten die Wache am Boot übernommen. Sie pullten ihren Kapitän zur „Santa Barbara“.
Der Seewolf trank eine Muck Rum mit seinen Männern und berichtete ihnen, was sich zugetragen hatte. Einige stießen leise Pfiffe aus.
Carberry sagte: „Das gibt Zunder, schätze ich. Brauchst du Verstärkung bei der Jagd auf den Mörder? Wie wär’s, wenn wir ein paar Flaschenbomben mitnehmen würden?“
„Davon halte ich nichts“, erwiderte Hasard. „Außerdem haben wir die Palastwachen, die sind schwer genug bewaffnet. Im übrigen will ich, daß ihr vollzählig an Bord bleibt. Wir dürfen nicht vergessen, daß nach wie vor mit einem Gegenschlag der Portugiesen zu rechnen ist.“
„Die sollen ruhig aufkreuzen“, sagte Shane.
„Ja, in der Nacht sind bekanntlich alle Katzen grau“, meinte Ferris Tucker grinsend.
„Und wir hatten schon lange nichts mehr zu tun“, meinte der Profos. „Das ewige Rumsitzen hängt mir zum Halse heraus.“
„Du bist unverbesserlich, Ed“, erklärte Ben Brighton. „Aber was Hasard sagt, leuchtet mir ein. Es hat keinen Sinn, wenn wir mit zehn Mann oder mehr diesen geheimen Brunnenschacht belagern. Viel wichtiger ist, daß die ‚Santa Barbara‘ jetzt voll gefechtsbereit bleibt. Sollte Moravia mit einem größeren Aufgebot anrücken, sind wir wenigstens darauf eingestellt.“
„Spitz deine Pfeile“, sagte Carberry zu dem grinsenden Batuti. „Nachher hast du keine Zeit mehr dazu.“
„Reitest du allein zum Palast zurück?“ fragte Ben seinen Kapitän.
„Ja.
„Ist das nicht zu gefährlich – im Dunkeln, meine ich?“
„Ich kann auf mich aufpassen“, entgegnete Hasard.
„Man könnte einen heimtückischen Anschlag auf dich verüben“, gab Ben zu bedenken.
„Moravia oder der Frauenmörder“, sagte Don Juan de Alcazar.
„Es geht nicht mit rechten Dingen zu“, brummte der alte O’Flynn.
„Keine Sorge“, sagte der Seewolf. „Ich brauche keinen Geleitschutz. Und zu viele Leute wirken zu auffällig. Wir halten weiterhin Kontakt. Sollte sich hier etwas ereignen, Ben, schickst du mir einen Melder zum Palast hoch.“
„Aye, Sir, geht klar.“
„Der Mörder ist ein Araber“, sagte Old Donegal Daniel O’Flynn.
Hasard sah ihn an. „Bist du sicher?“
„Das sagt mir mein Holzbein.“
„Ich halte es auch für wahrscheinlich“, erwiderte der Seewolf. „Aber vor Überraschungen sind wir natürlich nicht sicher.“
„Hier nicht und in diesem ganzen verfluchten arabischen Land nicht“, schimpfte der Alte. „Ich bin froh, wenn wir endlich mal wieder in Cornwall an Land gehen und ein wenig vertraute Luft schnuppern.“
„Heimweh“, sagte Shane spöttisch. „Mann, das gibt’s doch nicht, Donegal.“
„Du kannst mich mal.“
„Auf Cornwall mußt du noch ’ne Weile warten, Dad“, sagte Dan O’Flynn. „Und was mich betrifft, ich bin nicht sonderlich scharf auf England. Du hast wohl schon vergessen, daß da auch nicht alles eitel Zuckerschlecken ist, was?“
„Ich vergesse gar nichts“, brummte der Alte. „Doch diese Gegend ist mir absolut nicht geheuer. So meine ich das, kapiert?“
„Ja, kapiert“, erwiderte der Seewolf. „Aber bisher haben wir unsere Haut immer noch retten können. Das soll auch weiterhin so bleiben. Haltet Augen und Ohren offen.“
„Aye, Sir“, sagten die Männer.
Der Seewolf verließ sein Schiff und kehrte zum Palast zurück. Während des Rittes ereignete sich nichts Unvorhergesehenes. Alles blieb ruhig. Erstaunlich ruhig. Fast konnte man zu dem Eindruck gelangen, Masquat sei ein friedliches Plätzchen Erde. Doch im Dunkel lauerte das Grauen.
Silvestro Moravia brauchte nur seine Beule zu befingern, und schon stieg eine glühende Welle des Hasses in ihm hoch. Als er zu sich gekommen war, hatte er im ersten Sturm seiner Wutgefühle den „Bastarden“ nachstürmen wollen, die ihm und seinen Mannen zu dieser Niederlage verholfen hatten. Dann aber hatte er sich anders besonnen.
Es hatte keinen Zweck. Die Engländer konnten zuschlagen, das hatten sie bewiesen. Und sie waren nicht allein. Sie waren eine ganze Crew von Hundesöhnen. Ein Spitzel hatte Moravia inzwischen mitgeteilt, wie groß das Schiff war, das auf der Reede ankerte, und wie viele Kerle es waren.
Noch etwas anderes spielte in Moravias Überlegungen mit hinein. Es hatte wenig Sinn, am hellichten Tag einen Angriff zu unternehmen. Das erregte zuviel Aufsehen. Nein, man mußte es anders anpacken. Nachts die Galeone überfallen – das war der beste Plan.
Ehe irgendwelche Hafenwächter auftauchten und eingriffen, waren die Kerle längst abgemurkst. Und ihr Schiff sank angebohrt auf den Grund der See.
Eingedenk dieser Erkenntnis leckten Moravia und seine Kerle ihre Wunden, dann tranken sie aus einer großen Flasche starken Rum. Jetzt sah die Welt schon wieder etwas besser aus. Sie räumten in ihrem unterirdischen Warenlager auf. Die Stunden vergingen, es wurde Mittag, bald Abend.
Moravia ging bei der Ursache für den Zwischenfall im Gewölbe von der Annahme aus, daß die Engländer von selbst Verdacht geschöpft hatten, etwas könne nicht astrein sein. Dumm waren sie ja schließlich nicht. Allzu viel Freundlichkeit war ihnen sozusagen „spanisch“ vorgekommen, und da hatten sie eben versucht, sich wieder zurückzuziehen.
Hätte Moravia geahnt, daß Osman der Verräter war, dann hätte Osman längst nicht mehr gelebt, und seine sterblichen Überreste wären den Haien als Leckerbissen vorgeworfen worden. Aber Silvestro Moravia schöpfte keinen diesbezüglichen Verdacht.
Osman rieb sich im stillen schadenfroh die Hände. Er war froh, dem Portugiesen eins ausgewischt zu haben. Er haßte ihn wegen seiner Überheblichkeit und Gemeinheit. Osman wünschte sich nur das eine: daß Moravia eines Tages die Lektion erhielt, die ihm gebührte.
Moravia schickte seine Helfer – unter anderem Halef und Osman – in die Kasbah. Sie sollten Verstärkung holen. Überall gab es Portugiesen, die zu Moravias Meute gehörten. Wenn es darum ging, nachts auf Kapertour zu gehen und den „Alis“ Waren abzunehmen, waren sie stets mit von der Partie.
Die Araber waren ihrer Ansicht nach eine Kategorie von Läusen, die es auszurotten galt. Und gegen einen Kampf mit einer Horde von Engländern hatten sie nichts einzuwenden.
Am späten Nachmittag erhielt Moravia in seinem Gewölbe Besuch – von dem Mufti, den er bestochen hatte. Der Mann war sehr mager und hatte ein vogelartiges Gesicht. Er trug ein altes Gewand, in dem ihn keiner als das erkannte, was er in Wirklichkeit war.
„Hassan, du altes Schlitzohr“, sagte der vollbärtige Hüne. „Wie siehst du denn heute wieder aus?“
Der Mufti grinste. „Keiner weiß, wer ich bin, wenn ich so durch die Altstadt gehe.“
„Na gut. Aber ich finde, du übertreibst ein bißchen. Was gibt es neues?“
„Das frage ich dich.“
„Ach, wir haben uns mit einem üblen Pack herumschlagen müssen. Engländer. Ihr Schiff liegt im Hafen vor Anker. Heute nacht schnappen wir sie uns.“
„Paßt auf“, sagte der Mufti.
„Wir hauen den Kerlen die Schädel ein, verlaß dich drauf.“
„Das meine ich nicht“, sagte Hassan. „Wenn es herauskommt, was ihr tut, kann ich für nichts garantieren.“
Moravias Augen wurden schmal. „So? Und was ist mit dem Bakschisch, den ich dir regelmäßig zahle?“
Der Mufti preßte den Zeigefinger gegen die Lippen. „Sei still.“
„Keine Angst, die Wände haben hier keine Ohren.“
„Ich halte dir den Rücken frei“, erwiderte Hassan leise. „Und der Kadi hört auf mich. Aber wenn er erfährt, daß ihr andere Leute verprügelt, kann er auch nichts anderes tun, als es den anderen Kadis vorzutragen und dem Sultan zu melden.“
„Der Sultan sitzt auf seinem Hügel. Weit genug weg.“
„Und was ist mit den portugiesischen Kapitänen in Masquat?“
„Diese Narren“, entgegnete Moravia verächtlich. „Die sind doch blind und taub.“
„Du solltest den Bogen nicht überspannen“, warnte Hassan.
Moravia griff nach seinem Arm und zog ihn zu sich heran. „Was ist los mit dir, du alter Kameltreiber? Hast du plötzlich die Hosen voll?“
„Nein. Aber ich habe gehört, daß der Sultan zur Zeit sehr nervös und ungehalten ist“, antwortete der Mufti so ruhig wie möglich, obwohl er Moravia am liebsten die Faust mitten ins Gesicht geschmettert hätte.
Der Portugiese ließ den Araber wieder los. „Wer hat dir das erzählt?“
„Ich habe es von einem der Bediensteten, der vorhin in der Stadt war.“
„Du meinst, der Sultan hat wegen unseres schwunghaften Handels Lunte gerochen?“ fragte Moravia gepreßt.
„Es könnte sein. Aber sein Zustand ist auf die Vorfälle im Palast zurückzuführen. Eine seiner Lieblingsfrauen und ein Eunuch sind umgebracht worden.“
Moravia stieß einen Pfiff aus, dann erkundigte er sich: „Von wem?“
„Das weiß keiner. Eine andere Frau ist verletzt worden.“
„Nicht zu fassen.“
„Und die Engländer sollen im Palast sein – einige von ihnen“, erklärte Hassan, der Mufti.
„Um uns zu verraten?“ zischte Moravia. „Das würde diesen verdammten Burschen ähnlich sehen. Mistkerle! Aber ich kaufe sie mir noch, verlaß dich drauf. Wenn einige von ihnen im Palast sind, ist das um so besser für uns. Wir finden also auf dem Schiff weniger von den Bastarden vor.“
„Seid vorsichtig“, warnte Hassan noch einmal.
„Ach, halt deinen Mund. Erzähl mir lieber, was hinter diesen Palastmorden steckt“, sagte der Portugiese.
„Ich habe keine Ahnung.“
„Aber ich. Jemand will Quabus bin Said stürzen.“
„Nein!“
„Wie findest du das?“
„Wer sollte sein Nachfolger werden?“ fragte der Mufti.
„Ich vielleicht“, erwiderte Moravia lachend. „Wer weiß, vielleicht bin ich selbst der Mörder? Denk mal nach.“
„Du willst mich verhöhnen“, sagte der Mufti leise.
Silvestro Moravia überhörte den drohenden Unterton in der Stimme des anderen. „Ach, Quatsch. Aber ich sage dir, das dient dem Zweck, den Sultan zu verunsichern. Und zum Schluß wird auf ihn – ein Attentat verübt. Wollen wir wetten?“
„Ein Sohn Allahs wettet nicht.“
„Das habe ich ganz vergessen.“ Moravia lachte hart. „Aber Bestechungsgelder nimmt er gern an, oder? Na, ihr seid mir vielleicht Kerle, ihr Alis. Keine Lust zum Arbeiten. Nur faulenzen und Kinder in die Welt setzen.“
„Hör endlich auf“, sagte Hassan.
Moravia hieb mit der Faust auf den Tisch. „Ja, ich höre auf. Hau ab und laß dich erst morgen wieder blicken, verstanden? Ich habe genug zu tun! Morgen will ich ausschlafen! Halte aber Augen und Ohren offen und berichte mir weiterhin aus dem Palast!“
„Ja.“
„Was da vorgeht, interessiert mich ganz besonders.“
„Ja.“ Hassan, der Mufti, deutete eine Verbeugung an, dann verließ er das Gewölbe. Sein Gesicht war verzerrt, als er durch die Gassen schritt. Obwohl er ihre Sprache beherrschte, haßte er die Portugiesen. Er haßte alle weißen Menschen. Und genauso haßte er die eigenen Landsleute, die eine höhere Stellung hatten als er und ständig auf ihm herumhackten. Aber was sollte er tun? Er konnte sich nur den Dingen anpassen. Das mußte schließlich jeder.
Silvestro Moravia empfing in seinem unterirdischen Domizil die „Verstärkung“ – fast dreißig Kerle, die allesamt entschlossene Mienen aufgesetzt hatten.
Einer von ihnen, ein gewisser Furio Ingrao, ein Kerl mit Glatze, galt als besonders brutal. Er war ein Kerl wie ein Klotz, und seine Fäuste konnten mit der Wucht eiserner Hämmer zuschlagen. Moravia hatte ihm nur ein wenig mehr Verstand voraus, sonst wäre Ingrao der Anführer gewesen und nicht er.
„Geht’s los?“ fragte Ingrao. Er griff sich die Flasche Rum, die noch zu einem Viertel gefüllt war, hob sie an die Lippen und leerte sie. Mit einem satten, zufriedenen Laut setzte er sie wieder ab und grinste. „Knüppel oder Säbel?“ wollte er wissen.
„Schiffshauer und Entermesser“, antwortete Moravia.
„Ganz hart also.“
„Wir werden aus diesen englischen Bastarden Haifutter machen“, erklärte Moravia. „Wenn’s nötig sein sollte, setzen wir auch die Schießeisen ein.“
„Zu laut“, sagte Ingrao, der ein sehr einsilbiger Mensch war.
„Ach, wenn ein paar Schüsse knallen, ist es nicht so schlimm“, meinte der Anführer der Bande. „Ehe jemand richtig mitkriegt, was eigentlich los ist, sind wir wieder weg, und die Hurensöhne saufen mitsamt ihrem Kahn ab.“
„Hört sich gut an“, sagte Ingrao.
„Was haben die Kerle an Bord?“ wollte einer der anderen wissen.
„Nur Plunder, nehme ich an“, erwiderte Moravia, „was den Inhalt der Laderäume betrifft. Ehe wir sie zu den Haien schicken, sollten wir sie aber ausplündern. Sie haben Geld. Sie haben einen Ali üppig ausgezahlt, als ihr Affe ihm seinen Stand demoliert hat.“
„Ein Affe?“ fragte einer der Kerle verdutzt.
„Ja, sie haben Viehzeug“, erwiderte Moravia grinsend. „Einen Affen, einen Papagei und so. Wohl auch einen Hund. Aber der Köter ist im Palast.“
„Wer hat dir das erzählt?“ erkundigte sich ein anderer Kerl.
„Hassan, der Mufti“, entgegnete Moravia. „Und die Engländer tragen ihre Münzen im Gürtel. Also gilt es, ihnen die Gürtel abzunehmen, ehe wir ihre Kammern durchsuchen.“
„Sehr gut“, sagte Ingrao grunzend. „Los geht’s.“
Wenig später huschten die Gestalten durch die Kasbah zum Hafen. Moravia und seine Spießgesellen hatten Boote, die überall vertäut lagen – im Hauptgebiet des Hafens, aber auch an Nebenpiers. So stiegen die Kerle an Bord der Boote, und von allen Seiten steuerten sie auf die „Santa Barbara“ zu, die vor Anker lag und ein Bild des Friedens bot.
An Bord schien keiner mit Ärger zu rechnen. Welch großem Irrtum Moravia erlag, sollte er schon bald erfahren.
7.
Die Zeit spielte keine sonderlich große Rolle mehr. Hasard kauerte zwischen den Felsen unmittelbar an der Küste und wartete auf den unheimlichen Mörder. Neben ihm lag Plymmie auf dem Untergrund – mucksmäuschenstill.
Unten, im Stollen, unweit des Einganges, hockten die Wächter. Die Zwillinge, Mac und Mustafa leisteten ihnen Gesellschaft. Der Kutscher war beim Sultan Quabus bin Said und dem Leibarzt geblieben, für den Fall, daß Nabila während der Nacht seine Hilfe brauchte.
Natürlich war auch der Palast abgeschirmt. Keine Maus konnte herein oder heraus. Überall lauerten die bewaffneten Wächter.
Langsam verstrichen die Stunden. Der Seewolf war um Geduld bemüht, aber natürlich beschlichen ihn doch einige Zweifel. War der Mörder so verrückt, noch einmal an den Tatort zurückzukehren? Hatte er nicht genug Vernunft, von einem weiteren Anschlag abzusehen? Mußte er nicht direkt wittern, daß man ihm eine Falle stellte?
Aber nein – er konnte nur etwas ahnen, wenn ihm inzwischen bekannt geworden war, daß der englische Kapitän und seine Helfer den geheimen Stollen entdeckt hatten. Dann verging die Nacht, ohne daß sich auch nur der Schatten des Vermummten zeigte. Schöpfte er aber keinen Verdacht, daß sein geheimer Einlaß gefunden worden war, dann pirschte er sich wieder an, um seine nächste Bluttat zu verüben.
Oder hatte er sich möglicherweise doch ganz abgesetzt? Hasard konnte es nicht ausschließen. Aber er glaubte nicht an eine Flucht des Verbrechers.
Welche Motive hatte der Mann, sich wie eine Bestie auf Frauen zu stürzen? Wollte er sie vergewaltigen? Nein, das konnte nicht der Grund sein. Haß steckte dahinter, vielleicht Blutrache, wie sie im Orient üblich war. Der Mörder wollte in Wirklichkeit Quabus bin Said treffen.
Plymmie hob die Ohren.
Hasard wandte vorsichtig den Kopf und sah in die Richtung, in die die Hündin blickte. Er registrierte eine schwache Bewegung zwischen den Felsen. Dann flatterte etwas auf – ein schwarzer Nachtvogel.
Fehlmeldung, dachte der Seewolf.
Er rechnete damit, noch einige Stunden zwischen den Felsen verbringen zu müssen. Vielleicht war alles vergebens. Darauf mußte man vorbereitet sein. Und auch eine zweite und dritte Nacht mußten nicht unbedingt zum gewünschten Erfolg führen. Der Mörder konnte sie so lange an der Nase herumführen, wie er wollte.
Von Masquat drangen nur schwache Geräusche herüber. Die Lichter der Stadt zitterten in der Dunkelheit. Im Hafen schien alles ruhig zu sein.
Moravia könnte begriffen haben, daß sich ein Angriff auf die „Santa Barbara“ nicht auszahlt, dachte Hasard. Aber die Nacht war noch nicht vorbei. Noch war alles offen. Die Ruhe im Hafen war trügerisch – bald sollte es damit vorbei sein.
Dan O’Flynn war zwar der Mann mit den schärfsten Augen an Bord der „Santa Barbara“, doch dieses Mal war es Bill, der als erster auf die drohende Gefahr aufmerksam wurde. Er stand im Großmars und versah seinen routinemäßigen Dienst als Ausguck. Plötzlich bemerkte er, daß sich kleine Schemen auf die Galeone zuschoben.
Ben hatte mit der Crew genau abgesprochen, wie man sich im Falle eines Angriffes verhalten sollte. Die Kanonen der „Santa Barbara“ waren geladen, aber nicht ausgerannt. Auch die Handfeuerwaffen waren griffbereit.
Ferris Tucker hatte seine Flaschenbomben gestapelt. Shane und Batuti hatten ihre Langbögen aus englischer Eibe in Reichweite. Die Drehbassen waren ebenfalls feuerbereit. Doch wenn es irgend ging, sollte ein Schußwechsel mit Angreifern vermieden werden.
Bill stieß einen Laut aus, der dem Ruf einer Möwe ähnelte. Unter ihm, auf der Kuhl, waren die Männer mit einem Schlag hellwach. Carberry kniff die Augen zu Schlitzen zusammen und entdeckte die nahenden Boote.
„Hol’s der Henker“, murmelte er. „Da kommen unsere Freunde.“
Higgy verschwand wie der Blitz, um die Kameraden zu wecken, die an diesem Abend Freiwache hatten. Sofort sprangen sie aus ihren Kojen. Sie verließen das Logis und schlichen an Oberdeck – Blacky, Stenmark, Piet Straaten, Jan Ranse und vier andere.
Ben Brighton war unterdessen von seinem Bruder Roger benachrichtigt worden. Er erschien auf dem Hauptdeck und warf einen Blick auf eins der Boote.
„Da sitzen ziemlich viele Kerle drin“, flüsterte er.
„Insgesamt scheinen es drei bis vier Dutzend zu sein“, meldete Dan O’Flynn gedämpft.
„Aufpassen“, raunte der alte O’Flynn. „Das kann ins Auge gehen.“ Er schwang aber bereits einen Koffeynagel und schaute drein, als habe er auch noch vor, sein Holzbein abzuschnallen und auf dem Rücken eines Portugiesen tanzen zu lassen.
Die Arwenacks bezogen ihre Posten. Alles lief in völliger Stille ab. Moravia und die Bande Hafenhaie hatten sich inzwischen weiter genähert. Der Anführer stand aufrecht im Heck seines Bootes.
Er triumphierte bereits. Diese Engländerbastarde schliefen ja! Längst hätten sie den nahenden Verdruß bemerken müssen. Aber es blieb still an Bord des Dreimasters. Nichts regte sich. Moravia glaubte, das Schnarchen der Ankerwache zu hören.
Nun war es soweit. Die Boote glitten bei der „Santa Barbara“ längsseits, an Backbord und an Steuerbord. Zwei Boote schoben sich unter das Heck, eines unter den Bug. Und schon schleuderten die Portugiesen ihre Enterhaken. Wie die Katzen enterten sie an den Bordwänden auf.
Furio Ingrao, der Glatzkopf, wollte einer der ersten sein. Er kletterte am Heck hoch und stieg über das Ruderblatt auf die Heckgalerie. Hier richtete er sich vorsichtig auf und warf einen Blick durch die Bleiglasfenster in die Kapitänskammer.
Dunkel – kein noch so kleines Licht brannte. Und das Schott war von innen abgeriegelt. Ingrao fluchte leise, dann grinste er aber wieder und hangelte zur Heckreling hinauf, um auf das Achterdeck zu gelangen.
Silvestro Moravia schwang im selben Augenblick sein rechtes Bein über das Schanzkleid der Backbordseite. Nun stand er auf der Kuhl und sah sich siegessicher um. Wo waren die Engländer? Nichts rührte sich. Moravia hob seinen schweren Schiffshauer. Dem ersten Bastard, der sich zeigte, würde er den Kopf vom Rumpf schlagen.
Ein Schatten wuchs vor Moravia hoch – zwei andere huschten von links und rechts heran. Überall erhoben sich Gestalten von den Planken. Sie hatten sich hinter Masten, Nagelbänken und Kanonen versteckt. Jetzt erschienen sie wie Dämonen. Moravia fluchte gurgelnd, holte aus und drosch auf den ersten Schatten ein.
Aber der knallte ihm von unten die Faust gegen den Arm. Mit geweiteten Augen stellte Moravia fest, daß er wieder seinem Erzfeind in die Hände gelaufen war: Carberry!
Moravia wollte immer noch zuschlagen, aber sein Arm war gelähmt. Die Finger hatten keine Kraft mehr. Der schwere Säbel polterte auf die Planken. Der Bärtige ächzte. Seine linke Faust schoß vor – wurde aber vom Profos gestoppt.
„Bastard!“ keuchte der Portugiese.
„Gleichfalls“, sagte Carberry. Er rammte Silvestro Moravia die eine Faust vor die Brust, die andere gegen die Kinnlade, daß es krachte und knackte. Moravia taumelte rückwärts und ruderte mit den Armen. Er prallte gegen einen seiner nachrückenden Kerle. Der Kerl fluchte. Moravia brach zusammen und blieb regungslos auf der Kuhl liegen.
Ingrao wurde unterdessen von einem graubärtigen Riesen gestoppt – Big Old Shane. Der Glatzkopf ließ seinen Cutlass wie eine Sense durch die Luft schwirren. Aber Shane wich aus. Dann stoppte er die gegnerische Klinge mit seinem Säbel.
Es klirrte, als habe ein Schmied seinen Hammer auf Eisen gedonnert – und der Glatzkopf brüllte auf. Die Wucht des Zusammenpralls verprellte ihm das Handgelenk. Er nahm den Cutlass in die andere Hand, verlor jedoch Zeit.
Im selben Moment war Shane ganz heran und knallte Ingrao das Heft seines Säbels auf den Unterarm. Ingrao stöhnte und trat nach Shanes Unterleib. Shane war wieder schneller. Er wich aus und schlug mit der freien Faust zu.
Ingrao schüttelte den Kopf wie ein Stier, der mit dem Schädel gegen eine Mauer gerannt ist. Shane deckte ihm mit einem Wirbel von Hieben ein. Ingrao rutschte aus. Sein Hinterkopf prallte gegen das Rohr einer Drehbasse. Das gab ihm den Rest. Schlaff landete er auf den Planken.
Doch nun waren die übrigen Angreifer an Bord. Ihre Gestalten schoben sich übers Schanzkleid und überfluteten die Decks. Der Tanz begann – und plötzlich war der Teufel los an Bord der „Santa Barbara“:
Säbel, Degen, Entermesser und Schiffshauer klirrten und rasselten. Die beiden gegnerischen Crews prallten auf der Kuhl zusammen, aber auch auf der Back und auf dem Achterdeck tobte der Kampf. Belegnägel und Spillspaken trommelten im Kreuzfeuer auf die Portugiesen ein – und Old O’Flynn schnallte tatsächlich sein Holzbein ab.
Er donnerte es mit Wucht einem anstürmenden Angreifer vor die Brust. Dem Kerl rutschten die Füße buchstäblich unter dem Leib weg. Ihm war, als habe ihn ein Pferd getreten. Mit einem dumpfen Laut streckte er alle viere von sich und blieb auf dem Hauptdeck liegen.