Seewölfe Paket 30

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So war Olivaros kleiner Verband, der aus einer Karavelle und drei Einmast-Schaluppen bestand, allmählich gewachsen. Die Piraten kannten weder Skrupel noch Gnade. Wer ihnen in die Hände fiel, war zum Tode verdammt.
Natürlich hätten die Schnapphähne auch die Fischer einen nach dem anderen niedermetzeln können, als sie eines Tages beschlossen hatten, das Dorf zu besetzen und zu ihrem festen Stützpunkt zu wählen. Doch Olivaro hatte es sich anders überlegt.
Die Fischer und ihre Familien wurden noch gebraucht. Hin und wieder durften einige von ihnen zum Fang auslaufen – selbstverständlich unter Bewachung. So war die Verpflegung der Meute gesichert.
Die Frauen und Mädchen kochten, putzten und wuschen für die Piraten – und sie dienten der Bande zum Vergnügen. Olivaro hatte zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Er hatte einen hervorragenden Schlupfwinkel gefunden, und er verfügte über Sklaven, die jede Arbeit für ihn und seine Kumpane erledigten.
Was wollte er noch mehr?
Gold, Silber, Geld und Juwelen – das wollte Olivaro. Er wartete auf den Beutezug seines Lebens, auf den großen Coup. Irgendwann mußte er glücken. Dann brauchte Olivaro nie mehr zu „arbeiten“. Er konnte sich irgendwohin zurückziehen und ausruhen. Huren, saufen und fressen – das würden dann seine einzigen Aktivitäten sein.
Von dieser Zukunft träumten auch seine Spießgesellen. Sie hatten großes Vertrauen in Olivaro. Er war nicht nur ein erstklassiger Kämpfer, er hatte auch Grips. Die Pläne für die Raids, die sie durchführten, stammten immer von ihm.
Er war ein Meister im Tüfteln und wußte stets die richtige Strategie und Taktik in Anwendung zu bringen. Er würde die Bande zum Erfolg und zum Reichtum führen.
Im Nachlassen des Tageslichtes pfiff und heulte der Sturmwind über die Küste. Die schwarzen Wolken verdunkelten den Himmel vollends – es wurde stockfinster. Donner grollte in der Ferne. Blitze zuckten wie gespenstische Irrlichter. Die See schwoll an, das Rauschen der Brandung verwandelte sich in ein dumpfes Dröhnen.
„Wenn die Hunde heute nacht das Dorf verlassen, nutzen wir die Chance“, sagte Rodrigo. „Sie werden nur wenige Wachtposten zurücklassen.“
„Du willst es mit den Kerlen aufnehmen?“ fragte sein Vater.
„Du etwa nicht?“
„Wir haben keine Waffen“, sagte Domingo.
„Ein Messer, das ich vergraben habe“, erwiderte sein Sohn.
„Das reicht nicht.“
„Vater“, sagte Rodrigo. „Ich lasse nicht zu, daß sie uns weiterhin demütigen und schinden. Die Sturmnacht ist unsere große Gelegenheit. Wir dürfen nichts unversucht lassen.“
„Da hast du recht“, murmelte der Fischer.
„Wollt ihr euch umbringen?“ fragte Asuncion. Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen.
„Nein“, entgegnete Rodrigo. „Wir wollen retten, was noch zu retten ist. Wir müssen nur zusammenhalten. Gemeinsam sind wir eine kleine Streitmacht. Ein einzelner schafft es nicht.“
„Ich verstehe“, sagte Pamela. Sie kroch zu ihrem Bruder. Stolz und Entschlossenheit funkelten plötzlich in ihren Augen. „Jetzt ist mir alles klar. Ich bin mit dabei und helfe euch, wo ich kann.“
Asuncion Calafuria keuchte erschrocken. „Ist das dein Ernst, Pamela? Ich begreife nicht, was …“
„Ich will es dir erklären“, sagte ihr Mann. „Setz dich hier zu uns und laß uns beraten. Ich habe eine Idee. Wir wollen den Plan besprechen und alles zurechtlegen. Noch haben wir Zeit genug.“
Das Tosen des Sturmes nahm immer mehr zu. Bald war das Lachen und Johlen der Piraten nur noch wie aus weiter Ferne zu vernehmen. Olivaro und dessen Kumpane hörten nicht einen Bruchteil dessen, was unter ihnen die Gefangenen in ihrem Verlies beratschlagten.
Der Sturm setzte die Schebecke gefangen. Er zerrte an ihr, beutelte sie durch und stieß sie in immer tiefere Wellenschluchten. Der Wind heulte wie tausend Wölfe, und die Brecher donnerten gegen die Bordwände. Wasser und Gischt schlugen über das Oberdeck, als leerten Giganten ihre riesigen Kübel über dem Dreimaster aus.
Philip Hasard Killigrew und seine Mannen hatten das Schlechterwerden des Wetters rechtzeitig genug registriert. Aber der Seewolf hatte sich in den Kopf gesetzt, wenigstens noch Mallorca zu erreichen, dort eine geschützte Bucht zu suchen und vor Anker zu gehen.
Die Männer hatten Sardinien hinter sich gelassen. Der Kurs lag auf West-Süd-West an, Richtung Meerenge von Gibraltar. Hasard wollte das Mittelmeer jetzt so schnell wie möglich verlassen, dann die Iberische Halbinsel runden und durch den Golf von Biskaya nordwärts heim nach England segeln.
Es war ein Ziel, mit dem er der Crew aus dem Herzen sprach. Auch sie konnten jetzt kaum erwarten, nach England zurückzukehren und – unter anderem – mal wieder bei dem dicken Nathaniel Plymson in der „Bloody Mary“ von Plymouth tüchtig die Mäuse auf dem Tisch tanzen zu lassen.
Doch der Weg nach Hause war ein Kurs mit Hindernissen. Überall, wo die Männer landeten, gab es Ärger und Verdruß. In der Türkei und in Griechenland wären sie um ein Haar vor die Hunde gegangen. In Venedig war der Teufel losgewesen.
Nicht besser hatte es in Süditalien und auf Sizilien ausgesehen. Auf Sardinien waren die Arwenacks ohne ihr Zutun in eine Blutrache-Affäre verwickelt worden. Kein Wunder, daß sie nicht das geringste Interesse hatten, noch länger im Mittelmeer zu verweilen.
Jetzt aber, im Toben und Wüten des Sturmes, stellte sich Hasard die Frage, ob er nicht doch eine Fehlentscheidung getroffen hatte. Wäre es nicht klüger gewesen, die Insel Menorca anzulaufen?
Routinemäßig hatten die Mannen alle erforderlichen Vorkehrungen getroffen, um sich und das Schiff gegen Sturm und Unwetter abzusichern. Sie hatten die Luken und Schotten verschalkt, die Kanonen festgezurrt und die Manntaue gespannt.
Vorsichtshalber hatte der Seewolf beim Heraufziehen des Orkans auch die Sturmsegel setzen lassen – was sich jetzt als kluge Entscheidung erwies. Die Böen rissen und rucksten wie verrückt an dem Tuch. Die Masten bebten und knarrten. Um die normale Besegelung wäre es zu diesem Zeitpunkt längst geschehen gewesen. Der Sturm hätte sie in Fetzen gerissen.
Ben Brighton, Hasards Erster Offizier und Bootsmann, hatte sich unter Deck noch einmal mit dem vorhandenen Kartenmaterial befaßt. Jetzt erschien er wieder an Oberdeck und hangelte in den Manntauen auf seinen Kapitän zu.
„Sir!“ schrie er.
Der Seewolf wandte sich ihm zu.
„Wie sieht es aus?“ brüllte er. „Ist Mallorca noch weit entfernt?“
„Etwa zwanzig Meilen!“
„Und Menorca?“
„Die Insel liegt viel weiter nördlich!“ erwiderte Ben im Jaulen und Orgeln des Sturmes. „Mindestens fünfzig Meilen!“
Hasard atmete auf – trotz der bedenklichen Lage. Seine Berechnungen stellten sich nun doch als richtig heraus.
Der Kurs der Schebecke lag viel zu weit südlich versetzt, um Menorca als Nothafen in Betracht zu ziehen. Mallorca war weitaus näher. Und die größte Insel der Balearen bot sicherlich auch weitaus mehr Schutzmöglichkeiten als ihre kleineren Schwestern.
Der Sturm gewann die Oberhand gegen die Schebecke und zerfetzte ihre Segel. So trieb das Schiff in der schwarzen, kochenden See, praktisch vor Topp und Takel lenzend. Der Dreimaster raste in abenteuerlicher Fahrt rauschende Wasserhänge hinab, drohte in tosenden Abgründen zu versinken, taumelte wie betrunken zu neuen Wogenkämmen hoch und setzte seine wankende Reise fort, bis sich wieder eine Schlucht öffnete.
Die Mienen der Männer waren verbissen und besorgt. Selbst Carberry, dem Profos, war das Fluchen vergangen. Sie alle wußten, was es hieß, wenn die Schebecke dem Wetter nicht standhielt. Sie würden untergehen mit Mann und Maus. England würden sie nicht wiedersehen.
Doch Mallorca war nah. Die Arwenacks setzten ihre ganze Hoffnung in die Chance, die Südküste zu erreichen und dort eine einigermaßen geschützte Bucht zu finden. Sie taten alles, den Kurs zu halten. Es war dunkel wie in der finstersten, mondlosen Nacht.
Nur zu leicht konnte man die Orientierung verlieren. Die Kompaßnadel zitterte, als wolle sie jeden Augenblick zerbrechen. Andere Hilfsmittel gab es nicht. So blieb den Männern nur ihr Instinkt – und der war ausgezeichnet. Sie hatten zuviel Erfahrung und zu viele Jahre auf See verbracht, um sich jetzt von der Richtung abbringen zu lassen.
Keiner wußte genau, wie spät es war, als der Sturm sie gegen die Südküste der großen Insel warf. Mitternacht oder noch später? Vielleicht war es auch schon zwei Uhr morgens – egal! Wie ein Pfeil schoß der Dreimaster an gefährlichen Felsen vorbei.
Dan erkannte sie im buchstäblich letzten Moment. Pete Ballie, der Rudergänger, konnte nur noch ganz knapp den Kurs korrigieren. Um ein Haar entging die Schebecke dem drohenden Schicksal, aufzubrummen und zu zerbersten.
Die Mannen sahen sich untereinander an.
„Das war knapp!“ schrie Ferris Tucker.
„Höllisch knapp!“ fügte Old Donegal Daniel O’Flynn hinzu.
„Kreuzdonnerwetter, aber wir haben die Küste vor uns!“ brüllte der Profos.
Richtig, die tückischen Riffe kündeten von der Nähe der Küste. Wie eine Barriere waren die Felsen an dieser Stelle dem Land vorgelagert. Sie wirkten als Wellenbrecher. Hinter der Unterwasserfalle wurde das Wasser zusehends ruhiger. Die Fahrt der Schebecke normalisierte sich. Pete Ballie war wieder Herr über das Ruder. Sicher steuerte er den Dreimaster jetzt zwischen den Felsen hindurch, die Dan ihm anzeigte.
Über dem Zentrum der Insel tobte sich ein Gewitter aus. Blitze zuckten, Donner grollte. So sichteten die Männer der Schebecke die Südküste von Mallorca – ein graues, unförmiges Gebilde, das alles andere als einladend wirkte.
„Wir haben es geschafft!“ stieß Carberry grollend hervor. „Hölle, wir haben dem Teufel wieder mal ein Ohr abgesegelt!“
„Ich an deiner Stelle würde nicht zu früh triumphieren!“ rief Old O’Flynn.
„Ach, hör doch mit deinem Scheiß auf!“ schrie Big Old Shane. „Wenn’s nach deinen Orakeln ginge, wären wir längst abgesoffen – schon im Chinesischen Meer!“
„Viel hätte ja auch nicht gefehlt“, versetzte der Alte bissig.
„Beim Henker, halt das Maul, Donegal!“ brüllte der Profos. „Sonst stopfe ich es dir mit zwei Pfund Kabelgarn!“
Die Männer mußten unwillkürlich lachen. Die Gefahr war gebannt, die Ordnung und das Gleichgewicht waren an Bord wiederhergestellt.
Der Profos fluchte, Old Donegal lästerte, und auch Mac Pellew hatte wieder die übliche miesgrämige Miene aufgesetzt. Alles in Ordnung – sie brauchten jetzt nur noch eine „passende“ Bucht zu suchen.
Gegen ein Uhr morgens entdeckten sie eine kleine, von schützenden Hügeln umgebene Bucht. Ohne zu zögern, ließ der Seewolf hier vor Anker gehen. Die Schebecke lag einigermaßen ruhig und schwoite an der Ankertrosse. Der Sturm heulte und jaulte wie ein Heer von Dämonen über die Masten hinweg.
Hasard zog Bilanz. Verletzt war keiner der Männer. Sie waren erschöpft, aber unversehrt. Jetzt galt es, das Schiff zu untersuchen. Ferris Tucker und Big Old Shane übernahmen diese Aufgabe. Nach einer ausgiebigen Inspektion des Rumpfes kehrten sie auf das Achterdeck zurück, und der rothaarige Riese meldete: „Wir haben drei Lecks, Sir.“
„Unter der Wasserlinie?“ wollte der Seewolf wissen.
„Zwei davon.“
„Kannst du sie abdichten?“
„Nur notdürftig.“
„Dann tu das“, sagte Hasard. „Blacky, Pete, Jack, Paddy, Matt und Higgy – ihr geht Ferris zur Hand. Sten und Sam, ihr lenzt das Leckwasser. Morgen früh sehen wir dann weiter. Wenn alles nichts hilft, müssen wir den Kahn aufslippen.“
„Das wird nicht unbedingt erforderlich sein“, erwiderte Ferris. „Aber wir haben nicht genug Ersatzplanken an Bord. Ich schätze, wir müssen an Land und frisches Holz für Planken und Spieren schlagen.“
„Das werden wir morgen in aller Ruhe erledigen“, sagte der Seewolf.
Old O’Flynn beäugte mit wachsendem Mißtrauen die Küste. „Da müssen wir uns aber höllisch vorsehen. Hier gibt es sicherlich Schnapphähne. Mallorca soll von Piraten geradezu verseucht sein, habe ich mal gehört.“
„Wann? Vor fünfzig Jahren?“ fragte Higgy kichernd, aber der Alte tat so, als hätte er es nicht gehört.
„Es ist klar, daß wir nur schwer bewaffnet an Land gehen“, sagte Hasard. „Und die Schebecke wird klar zum Gefecht sein, wenn unser Trupp loszieht, um Bäume zu schlagen.“
Ben richtete den Blick zum Himmel. „Erst mal kann davon keine Rede sein. Der Sturm hat es in sich. Es ist nicht gesagt, daß er morgen schon vorbei ist. Vielleicht müssen wir uns auf eine längere Wartezeit einrichten.“
„Es bleibt uns nichts anderes übrig“, entgegnete der Seewolf. „Wir haben keine andere Wahl.“
2.
Nur etwa acht Meilen westlich von der Ankerbucht der Seewölfe entfernt ereignete sich zur selben Stunde ein schweres Seeunglück. Eine Zwei-Mast-Karavelle, etwa achtzig Tonnen groß, wurde von den brodelnden Fluten genau auf das Ufer gestoßen.
Wie durch ein Wunder passierte das Schiff unversehrt die Riffe. Einem kranken Tier gleich taumelte der Segler auf den Strand zu. Gellende Schreie ertönten an Bord. Doch das Unheil war nicht mehr zu verhindern. Es krachte und knackte, und die Karavelle lief auf.
Etwa drei Yards weit schob sich das Schiff durch den Sand, dann krängte es nach Backbord und legte sich quer. Wieder schrie die Besatzung in höchster Not. Eine niedersausende Spiere tötete zwei Männer. Eine Kanone, die sich aus ihrer Vertäuung gelöst hatte, riß einen dritten Mann mit und begrub ihn unter sich.
Kapitän Burl Ives wurde vom Achterdeck katapultiert. Er überrollte sich im Sand und blieb unversehrt. Stöhnend und fluchend richtete er sich auf und blickte im fauchenden Sturm zu seinem Schiff.
Die „Samanta“ war nur noch ein Wrack. Die Reise war hier zu Ende. Die Ladung würde nie ihren Bestimmungshafen erreichen.
Ives rannte zu seinen Männern. Es waren nur noch zehn. Im Sturm waren mehrere außenbords gerissen worden und in den Fluten verschwunden. Jetzt hatte das Auflaufen auch noch Opfer gefordert – insgesamt fünf. Aber Ives wußte, daß er noch froh sein konnte. Um ein Haar wären sie alle erledigt gewesen. Es hatte nicht mehr viel gefehlt, und die „Samanta“ wäre untergegangen.
Die Passagiere, dachte Burl Ives, mein Gott, die Passagiere!
Er kletterte zurück an Bord, stieg mühsam über das schräge Deck und versuchte, das Achterkastell zu erreichen. Seine Männer krochen und wankten verwirrt auf und ab.
Guzman und eine Handvoll Piraten hatten das Geschehen von einem sicheren Platz in den Dünen beobachtet. Grinsend rieben sie sich die Hände. Guzman schickte einen der Kerle zum Dorf. Er sollte Olivaro und die anderen benachrichtigen. Diese gestrandete Karavelle war ein gefundenes Fressen für die Bande von Schnapphähnen.
Olivaro fackelte nicht lange, als der Bote die Nachricht überbrachte. Er stürmte aus der Hütte und rief seine Kumpane zusammen. Fünf teilte er als Wachen ein, sie blieben in der Siedlung zurück. Alle anderen sollten mit zu der Karavelle. Das Schiff war eine sichere Beute, aber die Mannschaft würde sich gewiß nicht kampflos ergeben. Also mußte das Aufgebot entsprechend groß sein.
Bis an die Zähne bewaffnet rückten die Kerle aus und rannten durch die Nacht. Der Sturmwind fetzte ihnen Sand und Gräser um die Ohren. Sie kümmerten sich nicht darum. Sie dachten nur an eins – an die Karavelle und das, was sich in ihrem Rumpf befinden mochte.
Kapitän Burl Ives hatte unterdessen das Achterkastell seines Schiffes erreicht. Unter großen Schwierigkeiten gelang es ihm, das Schott zu öffnen. Er schlüpfte ins Innere und arbeitete sich durch den Mittelgang zu den Kammern. Trotz des Sturmgeheuls vernahm er jetzt ein leises Wimmern.
Die Kammer, in der das Wimmern erklang, war wie eine Gefängniszelle verrammelt. Die Wände hatten sich verzogen, das Schott war wie zugenagelt.
Ives wandte sich seiner Kapitänskammer zu. Hier sah es aus, als hätten Verrückte gehaust – alles drunter und drüber. Dennoch fand Ives nach einiger Suche ein Werkzeug. Er kehrte damit zu der Kammer zurück und brach das Schott auf.
Stockfinster war es im Inneren. Ives tastete sich zu den Kojen vor. Plötzlich berührte er einen weichen, warmen Körper.
„Ich bin’s, der Kapitän“, sagte er. „Erschrecken Sie nicht, Miß Farah.“
Das Mädchen schluchzte auf und klammerte sich an ihm fest. „Allmächtiger, was ist geschehen? Wo sind wir?“
Ives setzte ihr auseinander, was sich zugetragen hatte.
„Wir sind jetzt in Sicherheit“, erklärte er. „Sie brauchen keine Angst mehr zu haben.“
„Dad“, sagte sie mit bebender Stimme. „Wo bist du?“
Ives suchte nach dem Vater des Mädchens und fand den Mann. Harold Acton lag zwischen den Trümmern seiner Koje. Ein Deckenbalken hatte sich gelöst und war auf das Nachtlager gestürzt, in dem der Mann sich festgebunden hatte, um in dem rollenden Schiff nicht ständig hin und her geworfen zu werden.
Ives kehrte zu dem Mädchen zurück.
„Sie müssen jetzt ganz tapfer sein, Miß Farah“, sagte er.
„Er ist tot, nicht wahr?“
„Ja.“
Sie schlug die Hände vors Gesicht und weinte klagend. Dem Kapitän zerriß es fast das Herz. Er wußte nicht, was er tun sollte. Während der Reise hatte er die beiden, Vater und Tochter, schätzen gelernt. Für ihn selbst war es ein harter Schlag, daß Harold Acton tot war. Voll Mitleid zog Ives das Mädchen in seine Arme.
Draußen erklangen plötzlich Schüsse und Schreie.
„Himmel!“ keuchte das Mädchen. „Was ist jetzt wieder los?“
„Ich sehe nach“, erwiderte Ives. „Sie rühren sich nicht vom Fleck.“
Er kroch ins Freie, bewaffnet mit seiner Pistole. Was da draußen, am Strand, seinen Verlauf nahm, konnte er sich sehr gut ausmalen. Küstenhaie, Wegelagerer, Buschteufel – sie lauerten nur auf Beute und fielen jetzt über die Mannschaft her.
In der Tat, Olivaro und seine Meute hatten die Mannschaft angegriffen. Als erstes brachten die Piraten ihre Musketen und Pistolen zum Einsatz. Einige waren naß geworden und zündeten nicht, aber gut ein Dutzend Waffen krachten und spuckten ihre tödlichen Ladungen aus. Schreiend brachen ein paar Gestalten vor der gestrandeten Karavelle zusammen. Die übrigen griffen zu den Waffen.
Aber nur die wenigsten Männer der Besatzung hatten Schußwaffen dabei. Außerdem war im Sturm das Pulver naß geworden. Sie hatten nur eine Chance: sich im Nahkampf mit den Blankwaffen zu behaupten.
Brüllend stürzten sich die Piraten auf die armen Teufel. Olivaros Horde war klar in der Überzahl. Nur kurz war das Handgemenge. Die Säbel klirrten, die Klingen schepperten – und die Köpfe rollten, wie Olivaro prophezeit hatte.
Burl Ives sprang auf den Strand. Er hob die Pistole und zielte auf Olivaro. Aber die anderen Piraten umzingelten ihn. Guzman war schräg hinter dem Kapitän und hob seinen schweren Schiffshauer, um den Mann zu enthaupten.
Kapitän Burl Ives ließ die Waffe sinken. Olivaro sah es und grinste voll Hohn und Triumph. Er brauchte nur einen Wink zu geben, und Guzman schlug zu. Doch irgend etwas bremste Olivaro. Er wollte den Mann – offensichtlich handelte es sich um den Kapitän – lebend.
Vielleicht ist der noch für eine Überraschung gut, dachte der Piratenführer.
Olivaro blickte zu Guzman.
„Halt“, sagte er. „Das genügt jetzt.“ Er trat dicht vor Ives hin. „Bist du der Kapitän dieses Schiffes?“
Ives verstand die spanische Sprache nur in ihren Ansätzen.
„Ja“, erwiderte er.
„Wer bist du?“ fragte Olivaro. „Ein Engländer?“
„Ja.“
„Gehört dir das Schiff?“
„Ja.“
Olivaro lachte dröhnend. „Es gehörte dir. Jetzt ist es unser. Was hast du geladen, Hund von einem Engländer?“
„Ich verstehe dich nicht“, erwiderte Burl Ives.
Olivaro versetzte ihm einen Stoß vor die Brust. Ives flog gegen die Bordwand seines Schiffes. Olivaro wiederholte seine Frage in gebrochenem Englisch und brüllte: „Hast du mich jetzt verstanden?“
„Allerdings“, entgegnete der Kapitän in seiner Muttersprache. „Nun, die Ladung wird dich interessieren. Wir haben Bier und Whisky an Bord und wollten das Zeug in Genua verkaufen.“
Olivaro war enttäuscht, aber er beherrschte sich. Er hatte sein Mienenspiel bestens in der Gewalt. Gold und Silber hatte er erwartet – aber immerhin, Alkohol war auch nicht schlecht. Zumindest konnte er seine Kerle damit bei Laune halten.
„He, habt ihr das gehört?“ brüllte er der Bande zu. „Bier und Whisky! Der Kahn ist mit Fässern vollgestopft, bis unter die Ladeluken!“
Die Kerle johlten und pfiffen. Sie hatten nichts dagegen einzuwenden, sich heute nacht gehörig vollaufen zu lassen. Bier und Whisky, das war ganz nach ihrem Geschmack.
Burl Ives trat wieder auf den Piratenführer zu. Er hatte einen Entschluß gefaßt. Wenn er nicht sofort handelte, war Farah Acton verraten und verkauft.
„Ich möchte dir etwas anvertrauen“, sagte er zu Olivaro.
Olivaro horchte auf. Seine Kerle waren schon dabei, die Karavelle zu entern und die Ladeluken aufzubrechen.
„Was willst du?“ fuhr er den Engländer barsch an.
„Es handelt sich um ein Geheimnis. In meiner Kammer ist eine Geldschatulle versteckt.“
Olivaro stieß einen Pfiff aus. Also doch noch ein Lichtblick!
„Ich gebe dir die Schatulle freiwillig“, sagte Ives.
Olivaro sah ihn verschlagen an. „Ich würde sie sowieso finden, wenn ich den Kahn auseinandernehme.“
„Das bezweifle ich.“
Olivaro kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. „Und was bezweckst du Hundesohn mit dieser edlen Geste?“
„Ich bitte dich um einen Gefallen.“
„Ich bin ganz Ohr.“
„Ich habe einen weiblichen Passagier an Bord“, erklärte der Kapitän. „Es handelt sich um meine Tochter. Sie heißt Farah. Sie teilte sich mit meinem Bruder die Kammer. Mein Bruder ist tot. Ich möchte nicht, daß deine Männer über das Mädchen herfallen. Es ist die einzige Bitte, die ich an dich habe. Töte mich, aber verschone sie.“
Olivaro überlegte. Was hatte dieser Bastard von einem Engländer vor? Wollte er ihn hereinlegen?
Burl Ives hielt es für richtig, Farah als seine Tochter auszugeben. So hatte er vielleicht doch eher die Gewähr, sie zu retten – wenn dieser Piratenhäuptling ein Fünkchen Anstand und Ehre im Leibe hatte.
Daß Olivaro zu allem fähig war, sah Ives ihm an. Der Engländer hoffte aber, daß die Gier nach der Schatulle ein Beweggrund für den Schnapphahn war, das Mädchen wenigstens eine Zeitlang in Ruhe zu lassen.
Olivaro faßte seinen Entschluß. Seine Augen glitzerten in der Nacht.
„Also gut!“ zischte er, so daß nur Burl Ives seine Worte verstehen konnte. „Die Schatulle für das Leben und die Ehre des Frauenzimmers! Aber ich warne dich! Wenn du versuchst, mich übers Ohr zu hauen, lasse ich dich in Stücke reißen und das Mädchen von meinen Kerlen hernehmen.“
„Mein Ehrenwort, daß alles der Wahrheit entspricht“, sagte Ives.
„Meine Kerle brauchen von der Schatulle nichts zu wissen!“ stieß Olivaro hervor.
„Einverstanden“, erwiderte der Kapitän. So hatte er einen Pakt mit dem Piratenhäuptling getroffen.
„Hol das Mädchen“, befahl Olivaro. „Aber paß auf! Ich knalle euch sofort ab, wenn ihr zu fliehen versucht!“
„Wir werden nicht fliehen“, versprach Burl Ives. Dann kletterte er wieder an Bord und kehrte zu Farah Acton zurück. Auf diese Weise hatte er Zeit und Gelegenheit, sie über alles aufzuklären, was vorgefallen war und was er mit Olivaro ausgehandelt hatte.
Flucht war sinnlos, Olivaro hatte längst rund um das Wrack der „Samanta“ seine Wächter postiert. Burl Ives und das Mädchen waren der Bande ausgeliefert, so oder so.
Doch zumindest hatte der Kapitän einen Aufschub herausgeschunden. Einer Laune Olivaros war es zu verdanken, daß Ives und Farah Acton vorerst nicht über die Klinge sprangen.
Die Piraten hatten die Ladeluken aufgebrochen und fielen wie gierige Ratten über die Fässer her. Als erstes stachen sie ein Faß Bier an. Sprudelnd schoß das Naß heraus. Grölend bewaffneten sich die Kerle mit Kübeln, Pützen und Mucks und gossen sich das Bier in den Rachen.
Olivaro grinste. Die sind erst mal abgelenkt, dachte er.
Es war der richtige Zeitpunkt, sich um die Schatulle zu kümmern. Olivaro enterte auf das Schiff. Seine Gestalt war ein furchterregender Schatten in der Sturmnacht.