Seewölfe Paket 30

- -
- 100%
- +
In Olivaros „Hauptquartier“ hielt ein einziger Kerl Wache. Er hieß Juanito und zeichnete sich durch beispiellose Faulheit aus. Sich die Stiefel anzuziehen, war ihm zu anstrengend, deshalb lief er immer barfuß herum. Juanito war zu faul, sich richtig zu waschen, zu träge, beim Gehen seine Füße hochzuheben. Sein Schlurfen war sein Erkennungszeichen.
Nur wenn Olivaro ein Schiff angriff, wurde Juanito hellwach. Dann verwandelte er sich in eine reißende Bestie. Heute nacht allerdings war er froh, daß ihn Olivaro als Posten im Fischerdorf zurückgelassen hatte. Bei diesem höllischen Sturm hatte Juanito keine große Lust, stundenlang draußen herumzulaufen und sich vom Wind umblasen zu lassen.
Hier drinnen war es gemütlicher. Juanito hatte sich hingehockt und seine Beine auf den Tisch gelegt. Grinsend entkorkte er eine Flasche Wein – was auch schon eine Arbeit für ihn war. Als er es geschafft hatte, hob er die Flaschenöffnung an die Lippen und ließ sich den süffigen Wein in die Kehle rinnen.
Feines Leben, dachte er.
Draußen heulte und orgelte der Sturm, als wolle er noch ein paar Jahre so wüten. Egal, sagte sich Juanito, so halte ich es aus. Solange der Weinvorrat reichte, der sich in einem Nebenraum befand, hatte er keinen Grund, sich zu beklagen.
Und wenn die Spießgesellen im Verlaufe der Nacht sogar noch mit Beute anrückten, war das Leben noch schöner. Denn sie mußten auch mit Juanito teilen. Jeder von der Bande, ganz gleich, welche Aufgabe er gerade versah, hatte Anspruch auf sein Stück von dem großen Kuchen, wenn es ans Verteilen ging.
Plötzlich zuckte Juanito zusammen.
Unter ihm ertönte ein gellender Schrei – wie in höchster Todesnot ausgestoßen.
Um ein Haar hätte Juanito etwas von dem kostbaren Wein verschüttet. Er verschluckte sich und hustete. Teufel auch! Was hatte das Geschrei zu bedeuten? Kriegten sich die Bastarde dort unten nun schon gegenseitig in die Haare?
Juanito gab einen grunzenden Laut von sich. Er hustete noch ein bißchen, dann war die Aufregung vorbei. Wieder nahm er einen ordentlichen Schluck von dem Rebensaft. Was kümmerte ihn, was die Fischerfamilie trieb? Von ihm aus konnte das Pack sonst was veranstalten. Sollten sie sich ruhig die Augen auskratzen. Ihn, Juanito, konnte das in seiner wohlverdienten Ruhe nicht stören. Ihn ging das alles nichts an.
Wieder stieg ein spitzer Schrei aus dem Keller auf.
Juanito nahm die Füße vom Tisch und stieß eine üble Verwünschung aus. Dann nahm er die Riesenanstrengung auf sich, sich zu erheben. Er stellte die Flasche weg und wischte sich mit dem Handrücken über den feuchten Mund. Drecksgesindel, dachte er aufgebracht, euch ziehe ich die Hammelbeine lang.
Fluchend bückte er sich und öffnete die Kellerluke. Wohlweislich nahm er die Pistole in die Hand und spannte den Hahn. Die Bastarde sollten nicht glauben, daß sie ihn mit einem billigen, dämlichen Trick hereinlegen konnten.
Trotz des Sturmwindes, der in diesem Moment mit größter Macht brüllte und die Hüttenwände erzittern ließ, konnte Juanito ganz deutlich das Weinen des Mädchens unter sich vernehmen.
„Was ist da los?“ schrie er. „Könnt ihr nicht eure Klappen halten, ihr verdammtes Lausepack?“
Pamela Calafuria heulte und schluchzte zum Steinerweichen. Sie tat genau das, was ihr Bruder Rodrigo ihr eingeschärft hatte. Und Domingo und Asuncion, die Eltern, spielten ebenfalls mit. Jeder hatte seine Aufgabe in dem Unternehmen, das jetzt ablief.
„Wer hat da geschrien?“ stieß Juanito zornig hervor. Er kniff die Augen zusammen und versuchte, unter sich etwas zu erkennen. Aber es war stockfinster.
„Ich war’s“, erwiderte Pamela mit bebender Stimme.
Juanito lachte roh. „Was ist los, kriegst du’n Kind?“
„Eine Ratte hat mich gebissen!“ klagte das Mädchen.
„Pfui Teufel!“ stieß Juanito hervor.
„Muß ich jetzt sterben?“ heulte Pamela.
„Ach, Quatsch, die Ratte hat sich höchstens an dir den Magen verdorben“, sagte Juanito. Glucksend lachte er über seinen großartigen Witz und hieb sich sogar auf den Unterschenkel, daß es klatschte.
„Ihr könnt mich doch hier nicht sterben lassen!“ jammerte das Mädchen.
Juanito entsann sich: Sie war ein hübsches Mädchen. Schwarzhaarig, feurig, mit dunklen Rehaugen. Konnte man ein solches Geschöpf umkommen lassen? Nein, das ging denn wohl doch zu weit.
„Sieh dir doch die Wunde an“, keuchte Pamela. „Sie blutet wie verrückt.“
„Warte“, sagte der Kerl grunzend. „Ich hole eine Lampe. Habt ihr denn kein Licht da unten, ihr Dummköpfe?“
„Das Öl ist uns ausgegangen“, sagte Domingo Calafuria.
Juanito holte die Öllampe, die an einem Eisenhaken unter dem Mittelbalken der Decke hin und her schwang, verband sie mit einem Tau und fierte sie in das Kellerverlies ab. Er beugte sich etwas hinunter, um Näheres erkennen zu können. Vorerst sah er nur die verkrümmte Gestalt des Mädchens auf einem der Lager.
Etwas Spitzes, Scharfes traf Juanitos Hals, jäh und völlig unversehens. Rodrigo hatte mit seinem Messer zugestochen. Die ganze Zeit über hatte er unter der Kellerluke gelauert, neben der Stiege. Halt fand er dort nur an zwei dicken Eisennägeln, die aus dem Mauerwerk ragten. Doch die genügten dem jungen Mann. Rodrigo war schlank und gewandt wie eine Katze. Und er war von dem Wunsch beseelt, wenigstens einen dieser Teufel umzubringen.
Die Öllampe fiel in den Keller und kippte um. Domingo eilte zur Stiege und stieg hoch. Pamela griff nach der Lampe und richtete sie wieder auf. Ihre Mutter wischte das verschüttete Öl auf, damit es ja nicht Feuer fing.
Juanito, der Pirat, wollte auf den Gegner feuern, doch das Messer hatte seine Halsschlagader getroffen. Die Kräfte verließen ihn. Die Pistole entglitt seinen schlaffen Fingern.
Domingo Calafuria fing sie auf. Rodrigo packte Juanito mit einer Hand und zerrte ihn nach unten. Der Pirat kippte ab und stürzte hart und mit einem dumpfen Laut auf den Kellerboden.
Asuncion Calafuria und ihre Tochter wichen rechtzeitig zur Seite. Ohne Mitleid blickten sie auf den Galgenvogel. Juanito schien noch etwas sagen zu wollen. Aber sein Kopf ruckte zur Seite. Blicklos waren seine Augen jetzt zur Luke gerichtet, wo Rodrigo blitzschnell nach oben enterte und sich in der Hütte umschaute.
Kein anderer Feind war zu sehen.
Die erste Partie in dem gefährlichen Spiel um Tod und Leben war gewonnen.
3.
Hasard und seine Mannen hatten sich im Laderaum der schwankenden Schebecke versammelt. An Oberdeck hielten Bill und weitere drei Kameraden Wache. Immerhin war damit zu rechnen, daß eventuell auftauchende Schnapphähne es sich in den Kopf setzten, das Schiff anzugreifen. Vorläufig aber blieb alles ruhig.
Der Seewolf hatte die improvisierten Instandsetzungsarbeiten kontrolliert, die von Ferris und dessen Helfern vorgenommen worden waren. Die Lecks waren einigermaßen gut abgedichtet, es mußte nur noch alle zwei bis drei Glasen gelenzt werden. Sinken konnte die Schebecke nicht – was weiter geschah, würde sich nach Hellwerden finden.
Hasard spendierte ein Fäßchen Rum. Die Becher wurden gefüllt, die Mannen tranken. Sie ließen ihren Kapitän hochleben, und sie gratulierten sich selbst dazu, daß sie dem Teufel noch einmal von der Schippe gesprungen waren.
„Das war wirklich knapp“, sagte Ben Brighton. „Die Schebecke ist ein solides Schiff, aber diesem Sturm hätte sie nicht standgehalten.“
„Man sollte das Mittelmeer nicht unterschätzen“, sagte Big Old Shane. „Schon viele haben es für einen Ententeich gehalten. Aber diese See kann höllisch tückisch und gefährlich sein.“
Carberry lachte grollend. „Ich habe früher mal so gedacht, Shane. Aber dann haben wir alle den Gänsetümpel ja so richtig kennengelernt. Und ob der’s in sich hat!“
„Dabei haben wir es wirklich nicht mehr weit bis zur Meerenge von Gibraltar“, sagte Blacky. „Aber die Wasserdämonen scheinen was dagegen zu haben, daß wir England so bald wie möglich erreichen.“
„Meinst du das ernst, oder ist das wieder so ein blöder Witz?“ zischte Old O’Flynn.
„Es ist mein voller Ernst“, erwiderte Blacky.
„Jedenfalls können wir auch im Atlantik noch auf einiges gefaßt sein“, sagte Hasard. „Um diese Jahreszeit toben da auch die übelsten Stürme. Und vergeßt nicht, daß wir durch die Biskaya müssen.“
„Daran denke ich ständig“, sagte Ferris grinsend. „Nun ja, unser Schiffchen wird auf eine harte Probe gestellt, wenn das so weitergeht. Aber das soll wohl so sein.“
„Seid mal still“, sagte Old O’Flynn plötzlich. „Hört ihr das?“
„Klar“, entgegnete Roger Brighton. „Der Wind pfeift, und die Wogen rauschen. Was anderes hören wir ja seit Stunden nicht mehr.“
„Das meine ich nicht“, sagte der Alte.
„Sondern?“ fragte Shane.
Old O’Flynn schnitt eine verkniffene Miene. „Wenn ihr mich ausreden laßt und nicht dauernd unterbrecht – zur Hölle, das waren Schüsse! Musketenschüsse! Nicht weit von hier!“
„Unsinn“, sagte Smoky. „Ich habe nichts mitgekriegt.“
„Dann solltest du deine Löffel mal vom Kutscher untersuchen lassen“, sagte der Alte giftig.
Smoky leerte seine Muck und grinste spöttisch. „Das hast du ja wohl noch nötiger als ich.“
„Meine Ohren funktionieren bestens“, sagte Old O’Flynn.
„Bist du sicher, Donegal? Ich habe auch keine Schüsse gehört“, sagte der Seewolf.
„Ich auch nicht“, pflichtete Ben ihm bei.
Auch die anderen Mannen hatten nichts vernommen.
„Aus welcher Richtung hörtest du die Schüsse?“ wollte Dan O’Flynn von seinem Vater wissen.
„Von Westen.“
„Ich frage mal die Posten, ob sie was bemerkt haben“, sagte Ben.
Er enterte nach oben und rief Bill und den anderen ein paar Worte zu. Bill antwortete. Was er schrie, war unten nicht zu verstehen.
Ben kehrte zu den Kameraden im Laderaum zurück.
„Die Wachen haben nichts gehört“, erklärte er.
„Ich bin aber ganz sicher“, beharrte der Alte. „Das waren Schüsse.“
„Vielleicht war’s ’ne Vision“, meinte Batuti, der schwarze Herkules aus Gambia.
„Paßt mal gut auf“, sagte Old Donegal Daniel O’Flynn ernst. „Ich bin nach wie vor ganz richtig im Kopf, und ich habe noch alle Tassen dort, wo sie hingehören. Also, unterlaßt diese Anspielungen, klar?“
Der Kutscher griff ein.
„Du hast Batuti mißverstanden“, sagte er. „Du weißt doch, in Gambia glauben die Menschen an Magie. Batuti meint, es könnte sich um eins deiner Gesichter handeln.“
„Nein, es ist Tatsache.“
„Wir warten erst einmal ab“, sagte der Seewolf einlenkend. „Heute nacht können wir sowieso nichts unternehmen, Donegal. Ich werde den Teufel tun und jetzt einen Trupp an Land schicken, der die Küste abforscht.“
„Das würde ich auch nicht tun“, sagte der Alte. „Angenommen, es handelt sich bei den Musketenschützen um Schnapphähne. Wir würden ihnen glatt in die Arme laufen.“
„Morgen früh sehen wir weiter“, sagte der Seewolf. „Wir suchen den Strand ab. Vielleicht finden wir noch Spuren.“
„Wenn der Sturm nicht alles fortgeblasen hat“, wandte Stenmark ein.
„Schon möglich“, erwiderte Hasard. „Wir werden sehen.“
„Wer ist so blöd und ballert mitten in der Nacht in der Gegend herum, dazu noch bei schwerem Wetter?“ fragte Paddy Rogers. Es war bekannt, daß er nicht der schnellste Denker war.
„Piraten“, erwiderte sein bester Freund Jack Finnegan.
„Welchen Grund sollten sie dazu haben?“ fragte Paddy.
„Na, sie könnten beispielsweise auf Beute gestoßen sein“, meinte Higgy. „Arme Teufel, die in Seenot geraten sind und in einer Bucht Schutz suchen.“
„Pfui“, sagte Paddy. „So eine Gemeinheit.“
„Wir müssen auf jeden Fall vorsichtig sein“, sagte Hasard. „Ben, schick noch zwei Wachen nach oben. Alle sechs sollen die Augen und Ohren offenhalten. Um vier Uhr werden sie abgelöst, und um acht Uhr ist wieder Wachwechsel.“
Ben wählte Piet Straaten und Jan Ranse. Die beiden enterten nach oben auf und verstärkten die Ausguckwachen. Hasard und die Mannen tranken noch ein wenig Rum, dann legten sie sich schlafen. Die ganze Zeit über mußte der Seewolf darüber nachdenken, was wohl an der Küste vorgefallen sein mochte. Hatten tatsächlich Piraten ein Schiff überfallen? Gab es da draußen etwa jemanden, der Hilfe und Beistand brauchte?
Erst der Morgen würde vielleicht die Antwort auf die Fragen bringen. Hasard fiel es nicht leicht, bis dahin auszuharren – und seinen Kameraden ging es genauso. Der Sturm indessen schien nicht abklingen zu wollen. Er heulte und orgelte weiterhin mit unveränderter Gewalt über die Küste.
Kapitän Burl Ives packte Farah Acton bei den Schultern und redete beschwörend auf sie ein. Das Mädchen zitterte am ganzen Leib. Der Tod ihres Vaters hatte sie wie ein schwerer Hieb getroffen. Noch stand sie unter der Einwirkung des Schocks – und das würde auch noch einige Zeit so bleiben.
Trotzdem gelang es Ives, dem Mädchen das Wichtigste auseinanderzusetzen: daß er von jetzt an als ihr Vater auftrat. Es ging um Farahs Leben, um ihre Ehre. Olivaro würde, sobald er von Ives die Schatulle ausgehändigt erhielt, zumindest für einige Zeit seine Kerle an der Kandare halten und ihnen verbieten, daß sie über das Mädchen herfielen.
Farah schluchzte und schluckte heftig. Sie fuhr zusammen, als sie die Gestalt eines Riesen hinter dem Rücken des Kapitäns hochwachsen sah.
„Himmel!“ schrie sie – und dann geistesgegenwärtig: „Vater!“
Olivaro stolperte in die Kammer, hielt sich am Pfosten des Schotts fest.
„Ist sie das?“ brüllte er. „Deine Tochter, Engländer?“
„Ja!“ erwiderte Ives.
Olivaro deutete auf den Toten, der undeutlich zwischen den Trümmern zu erkennen war. „Das war dein Bruder?“
„Ja!“
„Onkel!“ schluchzte Farah.
Sie bewies mehr Reaktionsfähigkeit, als Ives erwartet hatte. Trotz der prekären Lage atmete der Kapitän ein wenig auf.
„Her mit der Schatulle!“ fuhr Olivaro den Kapitän an. „Ich will mit meinen eigenen Augen sehen, ob du mich angeschwindelt hast, Hund!“
Ives verließ die Kammer und kroch im Mittelgang nach achtern. Der Wind schüttelte das Wrack, fast schien es, als würde es jeden Moment ganz auseinanderbrechen. Farah mußte Ives folgen. Olivaro dirigierte die beiden mit der Pistole vor sich her, die er vorher dem Kapitän abgenommen hatte.
Das Schott der Kapitänskammer war offen. Burl Ives arbeitete sich ins Innere vor, bis zur Koje. Hier richtete er sich auf. Farah war mit keuchendem Atem neben ihm. Olivaro richtete sich zu seiner vollen Größe auf und zielte mit der Pistole auf das Mädchen.
„Und jetzt raus mit dem Ding, oder sie ist als erste dran!“ fauchte er.
Burl Ives fuhr mit den Händen über die Holzverkleidung an der Kopfseite der Koje. Er verharrte und bewegte eine Zierleiste. Ein Geheimfach öffnete sich – nur einen Spaltbreit. Ives zerrte es ganz auf, dann förderte er die schwarze Schatulle zutage, in der sich seine Ersparnisse befanden.
Er reichte sie dem Piratenführer. Farah verfolgte es mit tränennassen Augen. Schlagartig begriff sie alles. Ives tat es für sie, um ihr zu helfen. Das werde ich ihm nie vergessen, dachte sie.
Olivaro riß die Schatulle an sich.
„Rührt euch nicht vom Fleck!“ befahl er. Er hielt Ives und das Mädchen weiterhin mit der Pistole in Schach. Mit der freien Hand öffnete er den Kasten.
Bisher hatte sich alles, was Ives gesagt hatte, als richtig erwiesen. Und es stimmte auch, daß Olivaro allein das Geheimversteck mit der Schatulle niemals gefunden hätte. Er hätte sich totsuchen können. Nun war die Frage, ob wirklich Geld darin war.
Der Deckel der Schatulle schwang auf. Münzen klirrten zu Boden. Die Schatulle war bis obenhin mit dicken, schweren Münzen gefüllt. Gold, dachte Olivaro, kein Zweifel. Dafür hatte er auch bei völliger Finsternis den richtigen Blick und Griff.
„Heb die Münzen auf!“ fuhr er das Mädchen an.
Farah Acton bückte sich und sammelte die Münzen ein, so schnell sie konnte. Sie erhob sich wieder und reichte sie dem Piraten. Grinsend nahm Olivaro das verlorene Geld in Empfang. Er legte es in die Schatulle und knallte den Deckel zu.
„Piaster und Dukaten“, sagte er.
„Ich habe dir also nicht zuviel versprochen“, sagte Ives.
„Stimmt. Woher hast du das Geld?“
„Ich habe es mir verdient und auf die hohe Kante gelegt.“
„Du bist der Eigner dieses Schiffes?“ wollte Olivaro wissen.
„Ja.“
Olivaro stieß einen Pfiff aus. „Das heißt, du hast in England noch mehr Geld, nicht wahr?“
Burl Ives zögerte absichtlich mit der Antwort. Er witterte eine Chance – für Farah und für sich.
Olivaro stieß einen ellenlangen Fluch aus und trat einen Schritt auf Farah zu. „Was ist, soll ich die kleine Hure ein bißchen kitzeln?“
„Nein!“ stieß Farah hervor.
„Ich habe noch mehr Geld“, erwiderte Ives endlich. „Daheim, in England.“
„Viel?“
„Einige tausend Piaster.“
Olivaro lachte. Oh, was für einen fetten Fischzug hatte er doch gelandet! Und nur er wußte von diesem Geld! Draußen betranken sich seine Kumpane mit dem Bier und dem Whisky, und sie ahnten nichts von dem, was ihnen durch die Lappen ging.
Olivaro schob sich die Schatulle unters Hemd.
„Weißt du, was ich glaube?“ sägte er glucksend. „Ich werde euch zurück nach England begleiten. Gemeinsam ist die Reise nicht so langweilig, und ich werde euch beschützen. Unterwegs könnte soviel passieren! Ihr glaubt gar nicht, was für schlimme Halunken und Galgenstricke es gibt.“ Er lachte wiehernd.
„Ich verstehe“, sagte Ives.
„Was verstehst du, Engländer?“ erkundigte sich Olivaro drohend.
„Du willst auch den Rest meines Geldes.“
„Was denn sonst?“ Der Anführer kicherte. „Das ist mein gutes Recht. Schließlich habt ihr mir zu verdanken, daß ihr noch am Leben seid. Und wenn euch weiterhin kein Härchen gekrümmt wird, ist auch das mein Verdienst. Dafür möchte ich bezahlt werden. Ist das etwa unverschämt?“
„Nein, das ist es nicht“, entgegnete Ives.
Olivaro stieß einen knurrenden Laut aus. „Ich hab’s ja gleich gewußt, wir verstehen uns prächtig. Los jetzt, wir haben hier genug Zeit verloren. Ab ins Lager. Da kriegt ihr was zu futtern, meinetwegen könnt ihr auch was von eurem Bier saufen.“
Kurz darauf traten die drei zu den Piraten ins Freie. Grölend hievten die Kerle die Fässer aus dem Laderaum und warfen sie in den Sand. Einige Fässer rollten auf dem Strand hin und her. Eins kullerte bis ins Wasser und drohte abzutreiben. Zwei Piraten rannten johlend hinterher und brachten es zurück an Land.
„Wäre doch schade, wenn uns was von dem kostbaren Zeug verloren ginge!“ schrie Guzman, der auch schon reichlich angetrunken war. „Ho, was haben wir für einen feinen Fang eingebracht!“
„Was Besseres hätten wir gar nicht erwischen können!“ johlte ein anderer Pirat.
Ives und das Mädchen tauschten einen Blick. Aber sie hüteten sich, auch nur ein Wort dazu zu äußern. Daß Olivaro das Geld für sich allein wollte, war ihnen gleich aufgegangen. Er würde den Teufel tun und mit seinen Kerlen teilen.
Allerdings – wenn die Piraten etwas davon erfuhren, daß Olivaro Geld unterschlug, war der Anführer geliefert. Wie die Haie würden sie über ihn herfallen.
Vielleicht kann ich diese Karte zu einem späteren Zeitpunkt ausspielen, dachte Ives.
Aber Olivaro wußte genau, was er riskierte. Lange durfte er nicht warten, sonst bestand die Gefahr, daß die beiden Gefangenen den Kumpanen gegenüber etwas ausplauderten. Er mußte die Engländer isoliert halten. Und sobald der Sturm nachgelassen hatte, würde er mit ihnen abhauen. Das war sein Plan.
Die Horde nahm einen Teil der Fässer mit, der Rest sollte am Morgen abgeborgen werden. Ein grölender Haufen setzte sich in Bewegung und marschierte durch den Sturm zurück zum Schlupfwinkel. Am Strand blieb die „Samanta“ zurück, die für den Vater Farahs zur tödlichen Falle und zur Ruhestätte zugleich geworden war.
4.
Vier Gestalten schlichen aus dem Hauptquartier von Olivaro, ohne daß einer der Posten sie bemerkte – Domingo Calafuria und seine Familienangehörigen. Domingo hatte die Pistole des toten Piraten Juanito, Rodrigo wie zuvor sein Messer. Asuncion hatte sich mit dem Säbel des Kerls bewaffnet. Pamela hatte das Messer an sich genommen, das Juanito im Gurt getragen hatte.
Die Finsternis und der Sturm waren in diesem Moment die Verbündeten der Familie. Noch vier Wachtposten lauerten im Dorf der Fischer, aber sie registrierten nicht, was sich hinter ihrem Rücken abspielte. Sie ahnten nicht, daß sich das Verderben unaufhaltsam näherte.
Domingo wies auf eine der Hütten. Rodrigo nickte, pirschte zur Tür und duckte sich. Ganz vorsichtig schob er die Tür spaltbreit auf. Nichts regte sich im Inneren. Kein Licht brannte. Befand sich im Haus ein Wächter oder nicht?
Rodrigo robbte in den Raum hinter der Tür. Wieder tat sich nichts. Der junge Mann wagte es, sich aufzurichten. Er schaute sich um. Kein Mensch war zu sehen. Rodrigo schlich zur Kellerluke. Er bückte sich und öffnete sie. Das Knarren ging im Tosen des Sturmes unter.
„Hallo, da unten!“ rief Rodrigo.
„Wer bist du?“ fragte von unten eine Männerstimme.
„Du solltest mich kennen, Hernán Zorba“, erwiderte Rodrigo.
„Rodrigo, der junge Calafuria? Das kann nicht sein …“
„Wir sind hier, um euch zu befreien!“ zischte Rodrigo. „Los, beeilt euch! Kommt herauf!“
Zorba, seine Frau und seine beiden Söhne stiegen die Leiter hinauf, die den Keller mit dem Erdgeschoß verband. Inzwischen hatten auch Asuncion und Pamela den Raum betreten. Domingo Calafuria indes eilte weiter, zu einer anderen Hütte, um auch dort die Gefangenen zu befreien.
Die Familie Zorba konnte ihr Glück noch gar nicht fassen. Hastig berichtete Rodrigo, was sich zugetragen hatte.
„Recht so!“ zischte einer der Zorba-Söhne. „Das hast du gut gemacht, Rodrigo! Bringen wir auch die anderen Bastarde um!“ Er sah sich nach einer Waffe um.
Mit Schaufel, einem Hammer und einem Bootsriemen bewaffneten sich die vier Zorbas, dann verließen alle zusammen die Hütte. Sie schlichen durch das Dorf und stießen zu Domingo, der mittlerweile weitere fünf Fischer befreit hatte. Dabei hatte er einen Piraten ausgeschaltet, der vor der Hütte Wache gegangen war.
Domingo hatte dem Kerl von hinten den Pistolenkolben auf den Schädel gehauen. Als der Gegner zusammenbrach, hatte er ihm das Messer aus dem Gurt gerissen und damit zugestochen. Wieder ein Feind weniger – und nur noch drei Piraten waren im Dorf.
Die Gestalten huschten hin und her und drangen in andere Hütten ein. Stöhnend brach der dritte Pirat zusammen. Asuncion tauchte plötzlich wie ein Spuk vor ihm auf und hieb mit dem Säbel zu, den sie mit beiden Händen hielt. Sie brauchte nur einmal zuzuschlagen. Tot blieb der Kerl vor ihr auf den Steinen liegen.
Bald war es eine kleine Streitmacht, die sich durch den Ort bewegte. Die Fischer und ihre Familien kreisten die letzten beiden Wächter ein. Als sie sie umzingelt hatten, stürzten sie sich auf sie. Den einen prügelten und stachen sie sofort nieder.
Der andere tat in seiner Panik das einzig Richtige. Er ließ sich auf den Boden fallen, kroch zwischen den Beinen der Gegner hindurch und ergriff die Flucht.
Als sich der Pirat hinter den Fischern aufrappelte, drehte sich Hernán Zorba um und erblickte ihn.
„Da! Der Hund will türmen!“ brüllte er.
Der Pirat hob seine Pistole und drückte ab. Der Schuß krachte im Sturmheulen. Ein Fischer sank getroffen zusammen. Der Kerl warf sich herum und rannte davon, als hätte er tausend Teufel der Hölle im Nacken.
Der getroffene Fischer blutete, aber er war nur an der Schulter verletzt. Die Frauen kümmerten sich um ihn. Die Männer nahmen die Verfolgung des Flüchtlings auf. Aber er hatte schon einigen Vorsprung gewonnen. Domingo zielte mit der erbeuteten Pistole auf ihn und drückte ab. Aber die Kugel ging weit an dem Kerl vorbei.
Der Pirat raste einen der Hügel hinauf, die das Fischerdorf umgaben – und mit einemmal stolperte er Olivaro direkt in die Arme. Der Anführer packte ihn und schüttelte ihn.