Seewölfe - Piraten der Weltmeere 169

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Hasard blickte die Crew über den Rand des Schriftstücks hinweg an.
„Weiter“, drängte Siri-Tong.
„Weiter geht es nicht“, sagte er. „Sicherlich hätte dieser Kapitän Cyril Auger gern noch mehr geschrieben, aber er ist offensichtlich dabei gestört worden. Wer weiß, unter welch schwierigen Umständen er die Flaschenpost dann in die See befördert hat.“
„Verdammt“, entfuhr es Ferris Tucker. „Da scheint ein Landsmann von uns im dicksten Schlamassel zu stecken, aber weiß der Teufel, wo dieser Platz liegt, an dem er und seine Leute festgehalten werden. Und diese geheimnisvollen Feinde, von denen er berichtet – was sind das für Kerle?“
Siri-Tong war zu Hasard getreten und betrachtete eingehend die ihr zugewandte Seite des Schriftstücks.
„U-l-y“, buchstabierte nun auch sie. „Und der Rest ist verwischt. Das soll bestimmt ‚Ulysses‘ heißen. ‚Ulysses‘, das Schiff des Cyril Auger. Hat jemand von euch jemals von einem Segler dieses Namens und seinem Kapitän gehört?“
„Nein“, erwiderte der Seewolf. Er hob den Kopf und erkundigte sich: „Ist euch irgend etwas über dieses Schiff und seine Besatzung zu Ohren gekommen?“
Alle schüttelten sie den Kopf – einschließlich Arwenack, der die Gesten seiner zweibeinigen Freunde gern imitierte.
„Ulysses“, sagte der Seewolf. „Ulixes oder auch Odysseus, ein Held der griechischen Sage. Der König von Ithaka, der sich auf eine gefahrvolle Seereise begab – ja, der arme Auger scheint sich auf eine furchtbare Odyssee, eine Irrfahrt mit bitterem Ende, eingelassen zu haben, und insofern trifft der Name seines Schiffes wohl genau zu.“
„Eine Ironie des Schicksals“, murmelte der Kutscher.
„Trägt der Hilferuf denn kein Datum?“ fragte Siri-Tong.
„Leider nicht“, antwortete Hasard. „Wer weiß, wann Auger die Post der See übergeben hat.“
„Junge, Junge, so ein Mist“, sagte Dan O’Flynn. „Wer weiß, ob die bedauernswerten Männer überhaupt noch am Leben sind. Ich will’s ja hoffen, aber bei der Verzweiflung, mit der dieser Notruf geschrieben wurde, muß man wirklich an das Schlimmste denken.“
„Es ist unsere heilige Pflicht, nach Auger und seiner Mannschaft zu forschen“, sagte der Seewolf ernst. „Was immer auch aus ihnen geworden ist – wir müssen es herausfinden. Ben, hol doch mal die Karte.“
Ben Brighton drehte sich zum Quarterdeck um und ließ sich von Pete Ballie gleich zwei Karten bringen, die vom Seewolf angefertigte Skizze mit den Kurseintragungen und die einzige gedruckte Karte des Seegebietes oberhalb von „Bacalaos“, die nach übereinstimmender Ansicht der Männer jedoch höchst ungenau war.
Hasard las noch einmal Kapitän Cyril Augers Hilferuf, dann rollte er das Stück Leder wieder zusammen und versenkte es in seiner Jackentasche. Er ließ die Karten von Ben Brighton auf der Kuhlgräting ausbreiten und suchte nach der Position, die in der Flaschenpost genannt war.
„56 Grad nördlicher Breite und 60 Grad westlicher Länge“, wiederholte er. „Nach der gedruckten Karte müßte das ein Punkt mitten im Meer sein …“
„Aber wo sind da Klippfelsen?“ fragte die Rote Korsarin, die sich neben ihm über die Zeichnungen gebeugt hatte.
„Warte.“ Hasard suchte die Position auch auf seiner Skizze, die er aus dem Gedächtnis in erster Linie aufgrund von Hendrik Laas’ Angaben angefertigt hatte – und tatsächlich verharrte seine Fingerkuppe auf einem Fleck inmitten der zerklüfteten Küste von Labrador. „Tunungayualok“, sagte er. „Hier muß es liegen – keine fünfzig Meilen von unserer jetzigen Position entfernt. Ben, Ferris, Shane, Ed!“
„Sir?“
„Wir setzen Vollzeug und laufen dieses Tunungayualok an“, befahl der Seewolf.
Noch am selben Abend erreichten sie ihr Ziel. Die Sonne schien nur zögernd zu weichen und der blassen Mondscheibe ihren Platz zu überlassen. Das Licht der ausklingenden Dämmerung war rötlich-grau und immer noch ausreichend, um Einzelheiten in der Küstenlandschaft zu erspähen.
Bill, der Moses, und Dan O’Flynn hatten den Großmars besetzt, und als „Verstärkung“ stand Gary Andrews hoch oben im Vormars und nahm seine alte Aufgabe als Fockmastgast wahr. Alle drei hielten sie ihre Kieker auf das Land gerichtet und forschten nach Masten, Rumpfteilen oder den Resten eines Segelschiffes.
Die „Isabella“ glitt mit nordwestlichem Kurs parallel zum Verlauf des Ufers dahin. Nur noch das Großsegel, die Fock und die Blinde trugen sie voran, das übrige Zeug hatte der Seewolf wegnehmen lassen, damit sie bei verlangsamter Fahrt ausgiebig die Küstenregion erkunden konnten.
Siri-Tong stand am Backbordschanzkleid des Achterdecks neben Hasard. Der Abendwind, der handig und eisig kalt immer noch von Süden einfiel, spielte mit ihrem schwarzen Haar. Sie hatte sich eine ärmellose Pelzweste über ihre rote Bluse gezogen, um es besser mit der zunehmenden Kälte aufnehmen zu können.
„Es ist die trostloseste Küste, die ich je gesehen habe“, sagte sie. „Graue Felsen, kaum ein Baum oder Strauch, keine Lebewesen. Das ist kein Platz zum Verweilen.“
„Sehr einladend sieht das in der Tat nicht aus“, meinte er. „Aber wenn man Augers Schilderung recht geben darf, wohnen wirklich Menschen in dieser öden Landschaft. Das heißt, es gibt genügend Wasser und Nahrung und auch die übrigen Bedingungen, die man zur einfachsten Form des Lebens braucht.“
„Zum Dahinvegetieren, wolltest du wohl sagen.“
„Nicht unbedingt. Die Eskimos leben in einer ewigen Wüste aus Eis und Schnee und scheinen sich dort ziemlich wohl zu fühlen.“
„Ja“, sagte sie. „Auch das hat dir Hendrik Laas erzählt. Aber ich weiß nicht, ob wir seine Begeisterung für Grönland und die weiße Einöde der Arktis teilen werden.“
Hasard sah sie lange an, bevor er antwortete. „Niemand hat gesagt, daß wir diesem Mann nacheifern wollen. Das, was er empfindet, ist seine ganz persönliche Sache. Mir geht es um etwas anderes. Ich will die Nordwest-Passage finden.“
„Ich weiß. Aber haben das nicht schon viele Männer vor dir versucht?“
„Ich habe die Informationen eines Mannes, der bis nach Thule vorgedrungen ist – und noch weiter nordwärts. Vielleicht ist er der einzige Europäer, der jemals Kontakt zu den Eskimos dort oben gehabt hat. Genau deswegen kennt er sich weitaus besser aus als alle anderen, die auf Entdeckungsfahrt ins Eismeer gegangen sind.“
„Aber Laas hat die Nordwestpassage nicht gefunden“, widersprach sie.
„Das nicht, aber er war ziemlich sicher, zu wissen, welchen Kurs man nehmen muß, um sie zu finden.“
„Warum hat er die Passage dann nicht selbst befahren?“
Der Seewolf drehte sich noch ein Stück weiter zu ihr herum und legte eine Hand aufs Schanzkleid. „Erstens hatte er nicht das geeignete Schiff dazu, und zweitens hat er keinerlei Absichten in dieser Richtung. Ich möchte aber nicht, daß du den Eindruck gewinnst, ich habe mich auf törichte Weise für eine Idee begeistern lassen und segle nun einfach drauflos – in unser aller Verderben. Du solltest mich besser kennen. Ich weiß genau, was ich tue.“
„Entschuldige, wenn ich dich verletzt habe“, sagte sie einlenkend.
„Du hast mich keineswegs verletzt.“
„Ich frage mich nur, warum wir dies tun. Was bringt es uns denn letztlich ein?“
„Vielleicht mehr als alles Gold und Silber, das wir bislang gehortet und nach England geschafft haben. Diese Passage stellt für jeden Seefahrer einen unschätzbaren Reichtum dar. Wann siehst du endlich ein, daß ein Korsar nicht nur ein Kaperfahrer ist, sondern auch ein Entdecker?“
Sie lächelte jetzt. „Schätze mich bitte nicht falsch ein. Ich habe nur so meine Bedenken, weil es eine niederschmetternde Enttäuschung für uns alle geben könnte. Wenn wir die Passage nicht finden, was dann? Dann wird auch dein Selbstvertrauen ganz erheblich erschüttert.“
„Ich werde es verkraften können.“
„Besser wäre es, wenn uns dieser Hendrik Laas als Lotse begleitet hätte.“
„Sicher, und wir alle hätten ihn gern bei uns an Bord gehabt. Aber er hat nun mal mit der ‚Sparrow‘ nach Dänemark segeln wollen, in seine Heimat. Wer wollte ihm das verwehren oder gar verübeln?“
„Keiner“, erwiderte sie seufzend.
Ja, dieser Hendrik Laas, dieser geheimnisvolle Fremde, den sie seinerzeit bei Plymouth vom Strand aufgelesen hatten – er hatte Hasard aus Dankbarkeit für die Lebensrettung seine streng gehüteten Geheimnisse offenbart: über Thule, die Eskimos, Nanoq, den Eisbär, die Pelztierjagd und alle Eigenarten des Lebens im arktischen Sommer und Winter. Die Seewölfe hatten nicht nur ihm geholfen, sie hatten auch Bert Anderson und Sheldon Gee, Laas’ Kameraden, aus der Gefangenschaft der Piraten befreit und deren Anführer van Dyck die „Sparrow“ entrissen.
Hendrik Laas hatte geschworen, daß er es Hasard und den Männern der „Isabella“ nie vergessen würde, was sie für ihn, Anderson und Gee getan hatten.
„Sir!“ rief Dan O’Flynn. „Schiff Backbord voraus! Ja, es ist ein Wrack, das zwischen Felsen eingeklemmt ist. Der Teufel soll mich holen, wenn das nicht die ‚Ulysses‘ ist!“
„Immer langsam, nicht so voreilig“, brummte Carberry, der von der Kuhl aus zur Küste hinüberäugte. „Noch wissen wir’s nicht genau. Erst müssen wir uns vergewissern, daß es wirklich der gesuchte Kahn ist.“
„Der Teufel wird uns alle holen“, sagte Old O’Flynn. „Er haust mit seinen Dämonen zwischen den Felsen und spießt uns auf, sobald wir an Land gehen.“
Hasard junior und Philip junior leisteten ihm auf dem Quarterdeck Gesellschaft und blickten aus geweiteten Augen zu ihm auf.
„Grandpa“, sagte Hasard junior und zupfte den Alten am Jackenärmel. „Wie sieht der Teufel aus? He, wie? Hast du ihn schon mal gesehen?“
„Jungs“, murmelte Old Donegal. „Ihr habt doch alle beide schon mal einen Gaul gesehen, stimmt’s? Nun stellt euch mal einen Zweibeiner vor, der anstelle seines rechten Beines einen Pferdefuß hat, mit ’nem richtigen Huf daran, meine ich, und …“
„Und das andere Bein?“ fragte Philip junior. „Was ist mit dem anderen Bein los?“
„Mann“, sagte Pete Ballie, der im Ruderhaus jedes Wort verstehen konnte. „Meiner Meinung nach ist es Unfug, den Jungen solche Schauermärchen zu erzählen, Donegal!“
„Du hast mir nicht ’reinzureden, Pete Ballie“, zischte der Alte, der seinerseits gehört hatte, was der Rudergänger gesagt hatte.
Pete wollte etwas erwidern, aber in diesem Moment ertönte der Ruf des Seewolfs: „Pete, Ruder vier Strich Backbord, wir nehmen Kurs auf das Wrack! Al, du steigst auf die Galionsplattform ’runter und lotest die Wassertiefe aus!“
„Aye, aye, Sir“, sagten Pete Ballie und Al Conroy.
„Wir gehen so dicht wie möglich an die Felsen heran!“ rief Hasard. „Wir ankern, fieren zwei Boote ab und pullen zu dem Schiff, um es genau zu inspizieren.“
„Au fein“, sagte Hasard junior. „Vielleicht kriegen wir dann ja auch den Teufel zu sehen – oder den Wassermann.“
„Wie?“ wunderte sich Old O’Flynn. „Habt ihr Heringe denn gar keine Angst vor diesen Ungeheuern?“
„Ach wo“, entgegnete Philip junior. „Die Galeone der Toten war ja auch nur ein alberner Mummenschanz. Teufel, Dämonen und Geister – die gibt’s überhaupt nicht.“
„Das schlägt dem Faß den Boden aus“, sagte der Alte.
Pete Ballie blickte aus dem Ruderhaus zu ihm herüber und grinste sich eins.
„Geit auf die Segel!“ brüllte auf der Kuhl der Profos los. „Wollt ihr wohl traben, ihr müden Böcke? Und macht die Jollen klar, und zwar ein bißchen dalli, oder es raucht in der Kombüse, daß euch euer blödes Grinsen vergeht!“
Das Vorschiff der „Isabella“ drehte sich der Küste zu, die Galeone schob sich auf Dan O’Flynns Entdeckung zu. Düsterer waren die Schatten der Nacht jetzt geworden, aber die Umrisse des Wracks waren immer noch deutlich genug zu erkennen.
Sie wirkten skelettähnlich, zwei Maststummel ragten wie mahnende Finger in den Abend auf.
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