Seewölfe - Piraten der Weltmeere 375

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Correa bewaffnete sich und betrat den Urwald. So dicht und verfilzt, wie er auf den ersten Blick wirkte, war er nicht an allen Stellen. Correa entdeckte eine Passage, eine Art natürlichen Pfad zwischen Mangroven, Lianen und Pflanzen mit schweren, feuchten Blättern. Er folgte seinem Verlauf und erreichte nach einem Marsch von schätzungsweise einer halben Stunde den ersten der über zwei Dutzend Binnenseen.
Hier wählte er auf einer leichten Anhöhe am nördlichen Ufer einen Platz zwischen zwei uralten, knorrigen Mangrovenbäumen aus, der ihm für eine erste Hütte geeignet erschien. Geschützt im Inneren der Insel lag dieser Ort. Die Bäume vermittelten ein Gefühl der Sicherheit, aber vielleicht war das auch nur eine Illusion.
Correa holte seine Habseligkeiten. Er mußte den Weg dreimal zurücklegen, um die Kiste, den Sack, die Werkzeuge, den Proviant und das Trinkwasser zum Ufer des Sees zu tragen. Dann hatte er es geschafft. Wieder wischte er sich den Schweiß aus dem Gesicht. Es war ein warmer Tag. Schwül, drückend und lähmend war die Luft auf Guanahani. Correa hoffte inständig, daß es nicht immer so war.
Bis zum Einbruch der Dunkelheit hatte er aus Ästen und Zweigen der Urwaldbäume, die er mit einem Säbel abhieb, ein Schutzdach geflochten, das er zwischen den Stämmen der beiden alten Mangrovenbäume errichtete. Vorerst genügte ihm dies als Unterschlupf. Er ließ sich erneut auf seiner Kiste nieder, wartete noch ein wenig und verzehrte dann etwas von dem Dörrfleisch und dem Schiffszwieback, die er aus dem Sack hervorholte. Eine frugale Mahlzeit. Aber besser als gar nichts, dachte er und spülte mit etwas Wasser nach.
Das Wasser würde als erstes zur Neige gehen. Am Morgen, so nahm er sich vor, würde er nach einer Quelle suchen, dann nach jagdbarem Wild, Beeren und Wurzeln. Erst danach würde er beginnen, nach dem Gold zu forschen, das es angeblich auf San Salvador geben sollte. So gesehen, war das Gold das Unwichtigste.
Correa versuchte sich vorzustellen, wie es gewesen wäre, wenn ihn ein Sturm als Schiffbrüchiger an den Strand der Insel geworfen hätte. Er hätte nichts zu essen und zu trinken gehabt, keine trockene Kleidung und keine Waffen. Er hätte sofort Hunger und Durst gelitten und wäre vielleicht krank geworden.
In seiner Lage hingegen genoß er das Privileg, mit allem Notwendigen ausgestattet zu sein. Sein Magen knurrte nicht, und die Zunge lag ihm nicht pelzig im Gaumen. Er konnte sich gegen wilde Tiere verteidigen – und auch gegen Menschen, wenn es sein mußte.
Aber Gefahren gab es trotzdem noch genug. Correa war kein ängstlicher Mann, aber er schlief in dieser Nacht nur wenig, denn er fühlte sich noch nicht sicher genug.
Am nächsten Morgen begann er sehr früh mit der Erkundung von Guanahani. Er erforschte über die Hälfte der Seen und der Landschaft, in die sie eingebettet waren, entdeckte tief im Inneren der Hügelkette eine Süßwasserquelle und sah hin und wieder auch größere Vögel aufflattern. Eine kleine, geschützte Bucht schien ideal für den Fischfang zu sein. Er brauchte nur ein Netz oder eine einfache Angel herzustellen.
Am zweiten Tag schloß Correa seinen Streifzug ab und wußte nun einigermaßen gut Bescheid. Er war weder auf Menschen noch auf Spuren von Behausungen oder Lagern gestoßen. Außer ihm schien sich kein menschliches Wesen auf der Insel zu befinden. Es gab auch keine Raubkatzen und Kaimane, und bislang hatte er nur eine einzige Schlange gesehen.
Vom großen Goldfund konnte vorerst auch keine Rede sein. Correa baute seinen Unterschlupf mit Ästen, Zweigen und Schilfmatten zur Hütte aus und fertigte aus zusammengetragenen Steinen, aus Sand und Schilf einen Fußboden, auf dem er vor der Feuchtigkeit geschützt schlafen konnte.
Er schöpfte frisches Trinkwasser aus der Quelle, schoß mit der Muskete eine Gans und angelte am dritten Tag seinen ersten Fisch. Alles das war wichtiger als die Suche nach dem gelben Metall. Er mußte sich mit allen Mitteln darauf einrichten, eine unbestimmt lange Zeit auf der Insel zu verbringen. Don Rafael war unberechenbar, er konnte und wollte sich auf seine Rückkehr lieber gar nicht erst verlassen.
In der ersten Woche auf Guanahani reifte in ihm der Entschluß heran, bei der erstbesten Gelegenheit, die sich ihm bot, gewissermaßen abzumustern. Er war kein Meuterer und auch kein Deserteur, aber nach ausgiebigem Nachdenken hatte er eingesehen, daß es das beste für ihn war, nicht mehr an Bord der „San Nicolas“ zurückzukehren.
Don Rafael würde sich nicht damit zufriedengeben, seinen Zweiten Steuermann – eventuell samt dem gefundenen Gold – von der Insel abzubergen. Bei der Überfahrt nach Spanien würde er einen Weg finden, sich des lästigen Mannes zu entledigen. Er hatte längst begriffen, daß Correa ihm noch erhebliche Schwierigkeiten bereiten würde. Um dies zu vermeiden, gab es nur den einen Weg.
Dies bedeutete für Correa, daß er fortan die See sehr genau beobachten mußte. Sichtete er ein Schiff, so wollte er versuchen, auf sich aufmerksam zu machen. Wer immer der Kapitän und die Mannschaft waren, er würde darum bitten, mitgenommen zu werden, gleichgültig, wohin. Auf das „Schiff des Schinders“, wie er die „San Nicolas“ jetzt in seinen Gedanken immer öfter nannte, wollte er um keinen Preis mehr zurück.
Am achten Tag begann Martin Correa, die ersten Selbstgespräche zu führen. Er hockte vor seiner Mangroven-Hütte, blickte auf den See hinaus und sagte laut: „Und überhaupt – wenn Manzano Gold auf der Insel vermutet, dann soll er das gefälligst selber suchen. Ich bin doch nicht verrückt. Ich verplempere meine Zeit nicht damit, die Insel umzugraben.“
Gold interessierte ihn nicht. Er hatte genug damit zu tun, zu überleben.
In der folgenden Nacht regnete es, und das Dach der Hütte erwies sich als fehlerhaft. Den ganzen nächsten Tag über verbrachte Correa damit, die undichten Stellen zu verstärken und dem Dach einen solchen Neigungswinkel zu geben, daß das Wasser schneller ablief und durch eine aus dickem Rohr gefertigte Rinne in den See abgeleitet wurde.
Die Zeit verging, die Tage waren ausgefüllt mit Verbesserungsarbeiten an der Hütte, mit Erkundungsstreifzügen, Fischen und Jagen. Correa erforschte den höchsten Hügel im Zentrum der Insel und stellte fest, daß er als Aussichtspunkt hervorragend geeignet war. Jeden Tag hielt er Ausschau nach Schiffen, aber nie entdeckte er auch nur Mastspitzen an der Kimm, weder in den ersten beiden noch in der dritten Woche.
In den Nächten wachte er manchmal auf und lauschte dem Konzert des Dschungels, dem Grunzen und Quaken der Frösche, dem Zirpen der Zikaden und dem aufdringlichen Schreien der Nachtvögel. Dann hockte er wieder da und dachte an die „San Nicolas“.
Kehrte sie zurück? Sollte das der Fall sein, würde er sich vielleicht verstecken. Don Rafael Manzano könnte ihn Suchen, bis er schwarz wurde. Er, Correa, kannte inzwischen die Versteckmöglichkeiten, die San Salvador bot, und es waren nicht wenige.
Andererseits war er aber auch nüchtern genug, nicht mit einer Rückkehr des Schiffes zu rechnen. Er war bereits zweimal in der Karibik gewesen und wußte, welche Gefahren hier lauerten: tödliche Riffs, Piraten und Wirbelstürme – von den Fieberkrankheiten gar nicht zu sprechen. War es nicht geradezu vermessen von Don Rafael, seine Heimreise schon jetzt als sicher vorauszusetzen?
Solche und ähnliche Überlegungen begleiteten Correa auch bei seinen Wanderungen über die Insel. Immer häufiger sprach er laut mit sich selbst, mit den Mangroven oder mit den Affen, die sich hin und wieder zeigten.
Er war jetzt zwar der einsamste Mann der Welt, aber den Kopf ließ er deswegen nicht hängen. Er wußte, wie er sich am besten von dem Gefühl der tiefen Niedergeschlagenheit und Mutlosigkeit befreien konnte, das ihn hin und wieder zu beschleichen drohte: Immer neue Aktivitäten entwickelte er, und die Krönung des Ganzen war ein selbst geflochtenes Fischernetz, das er in der geschützten Bucht auswarf und erprobte. Auch Schlingen hatte er konstruiert, mit denen er kleine Säugetiere fing. Eine weitere sinnvolle Idee war ein Hartholzbohrer, mit dem er trockenen Zunder zu entfachen vermochte. Endlich Feuer – er brauchte seine Beute nicht mehr roh zu verzehren!
Am 19. und 20. März 1594 tobte der Sturm, der von Nordosten heranfegte und durch die Karibik brauste, auch über San Salvador hinweg. Das Dach der Hütte wurde durch die Macht des Windes einfach abgehoben und davongetragen, es landete im See. Martin Correa verkroch sich wie ein Tier in eine Erdhöhle, die er hastig mit dem Spaten aushob. Dann, als das Wetter vorbei war, stand er vor den Trümmern: Die Hütte war vernichtet, das Pulver naß, die Reste des Bordproviants aufgeweicht. Der Kessel war in den See gerollt, er hatte Mühe, ihn wiederzufinden.
Correa mußte wieder von vorn anfangen. Er trocknete seine Kleidung an der Sonne, die ihn mit ihren Strahlen wärmte und es endlich wieder gut mit ihm zu meinen schien. Nackt, wie Gott ihn geschaffen hatte, brach er zu einem längeren Marsch ins Innere der Insel auf. Die neue Hütte sollte im Hügelland entstehen, denn dort gab es bessere Möglichkeiten, sich vor Stürme zu schützen.
Martin Correa war Ende der Zwanzig, gesund, kräftig und sehr praktisch veranlagt. Auch jetzt ließ er sich nicht unterkriegen. Er hatte die Herausforderung der Natur angenommen und seine ersten Prüfungen bestanden. Sein kantiges Gesicht mit der geraden Nase und dem festen Kinn war jetzt von Sonne, Wind und Wasser gegerbt. Seine grauen Augen blickten härter in die Welt als früher, seine blonden Haare waren noch heller geworden. Seine neue Umwelt prägte ihn. Würde sie ihn vernichten – oder konnte er doch gegen sie bestehen?
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