Seewölfe - Piraten der Weltmeere 393

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Impressum
© 1976/2018 Pabel-Moewig Verlag KG,
Pabel ebook, Rastatt.
eISBN: 978-3-95439-801-0
Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de
Roy Palmer
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
1.
Am 11. Juni 1594 verlor Ben Maruf, ein aus Melilla stammender Herumtreiber, den Verstand. Er wußte nicht mehr, wie er hieß und wer seine Eltern gewesen waren, wie er – auf vielen Umwegen – an Bord der Schebecke des Mubarak gelangt war und sich der Piraterie verschrieben hatte. Aber er lebte und befand sich am 21. Juni 1594, einem in gewisser Weise für das Schicksal der Mannschaft bedeutungsvollen Tag, immer noch an Bord der Schebecke.
Streit gab es am 11. Juni an Bord des Schiffes. Es war nicht das erste Mal. Seit sich Mubarak auf den gefährlichen und ungewissen Kurs begeben hatte, war das Feuer der Meuterei immer wieder aufgeflackert. Es gärte in den Reihen der Männer, und die meisten wünschten Mubarak wegen seiner hochgesteckten Pläne und Ziele zum Scheitan, dem Teufel der Muselmanen.
Es war Lekbir, ein Kerl aus Rabat, der am 11. Juni gegen Mubarak aufbegehrte und verlangte, daß er den Kurs ändern solle.
„Kehr endlich um!“ schrie er ihn an. „Bevor es zu spät ist! Wir schaffen es nicht! Du findest diese verdammte Neue Welt nie!“
„Überlaß das ruhig mir“, sagte Mubarak mit verzerrtem Gesicht und griff zum Dolch.
Lekbir gab keine Ruhe und begann, Mubarak zu beschimpfen. Dieser stürzte sich mit dem gezückten Dolch auf ihn. Ben Maruf warf sich zwischen die beiden Streithähne – nicht zuletzt deshalb, weil Lekbir zu seinen besten Kumpanen an Bord der Schebecke gehörte. Doch Mubarak verfügte über enorme Kräfte. Er stach Lekbir nieder, ehe dieser sich verteidigen konnte, und er schleuderte Ben Maruf mit einer wüst gebrüllten Verwünschung quer über das Deck.
Ben Maruf stieß sich den Kopf an dem großen Beiboot und brach zusammen. Zwei seiner Kumpane eilten zu ihm und beugten sich über ihn.
„Er ist tot“, sagte der eine.
„Recht so!“ schrie Mubarak. Dann richtete er sich auf und beförderte den toten Lekbir eigenhändig außenbords. Mit einem Klatscher verschwand der Körper in den Fluten, die in diesem Bereich der See tiefblau schimmerten. „So geht es allen räudigen Hunden, die sich gegen mich auflehnen! Laßt euch das ein Beispiel sein!“
„Er lebt“, sagte ein anderer Pirat, denn genau in diesem Augenblick bewegte sich Ben Maruf. Er blutete aus einer Kopfwunde und lallte Unverständliches, aber es schien nicht so schlimm um ihn bestellt zu, sein, wie man anfangs annahm.
Mubarak war dies völlig gleichgültig. Von ihm aus hätte sich Ben Maruf auch das Genick brechen können. Kerle wie der Mann aus Melilla waren seiner Ansicht nach schwachsinnige Narren, die zu nichts taugten. Selim, der Unterführer, war dergleichen Meinung. Er kümmerte sich nicht um den verletzten Mann, sondern dachte nur an das eine Ziel: die Neue Welt. Gold und Silber gab es dort zu holen, Juwelen und Schmuck, die man entweder den Spaniern abnahm oder den Eingeborenen, den Indianern, entriß. Das Risiko der Überfahrt war groß, doch es lohnte sich. Sie alle würden reich werden – jene, die überlebten. Einige hatten wie Lekbir bereits das Zeitliche gesegnet, und die Besatzung der Schebecke war von vierzig Mann auf drei Dutzend zusammengeschrumpft.
Ben Maruf wurde von seinen Kumpanen versorgt. Sie hielten zusammen wie Pech und Schwefel, auch Galgenstricke hatten eine Ehre. Ben Maruf kämpfte in Gefechten mit fremden Schiffsmannschaften wie ein Berserker und hatte sich schon in so manche Bresche geworfen, um seinen Spießgesellen zu helfen. Sie hatten es ihm nicht vergessen.
Am 13. Juni aber stellte sich heraus, daß Ben Maruf durch den Sturz absonderlich geworden war. Er erlangte das Bewußtsein wieder, doch sein Gesicht war zu einem blöden Grinsen verzerrt, sein Blick verklärt und sein Geist völlig umnachtet. Sein Hirn hatte erheblich gelitten. Es gab keine Rettung mehr für ihn.
Bis zum 15. Juni gelang es den Kerlen der Schebecke noch, die Tatsache vor Mubarak und Selim zu verheimlichen. Dann aber kam alles heraus. Mubarak wollte Ben Maruf über Bord werfen. Doch fast alle von der Mannschaft stellten sich vor den armen Teufel.
„Er hat nichts getan“, sagte ein Riese namens Mustafa. „Und er kann uns immer noch nützlich sein. Er kann aufklaren, Essen und Trinken austeilen und die Abfallkübel leeren.“
„Und er kann euren Dreck auflecken“, sagte Mubarak kalt. „Seid ihr übergeschnappt? Wollt ihr alle meutern?“
„Nein“, erwiderte Mustafa. „Wir sind auch weiterhin deine ergebenen Getreuen, Allah ist mein Zeuge. Nur bitten wir um Vergebung und Gnade für Ben Maruf, der für sein Schicksal nichts kann.“
Mubarak ließ sich überreden. Mustafa hatte einen gewissen Einfluß auf ihn. Er war, obwohl er aussah, als könne er zwei und zwei nicht zusammenzählen, schon immer ein guter Redner gewesen, der Wortführer der Meute – ein Kerl, der weder Tod noch Teufel fürchtete. Zwischen Selim und ihm bestand eine gewisse Rivalität. Selim wartete auf eine günstige Gelegenheit, Mustafa ausbooten zu können.
Ben Maruf blieb ungeschoren. Die Kerle gewöhnten sich an seine unartikulierten Laute und sein dämliches Kichern. Er verrichtete die niedrigsten Arbeiten und dienerte hündisch, wenn Selim ihn mit dem Fuß trat. Er klatschte begeistert in die Hände, wenn jemand über ihn lachte, und oft saß er während der Nacht stundenlang da und wiegte den Oberkörper hin und her. Dabei summte er törichte Kinderlieder.
Die Spannung und die Nervosität an Bord wuchsen. Am frühen Morgen des 21. Juni – Mubarak war noch nicht an Deck – zog Selim seine veraltete Schnapphahnschloßpistole und legte damit auf Ben Maruf an, der kichernd und lallend von achtern nach vorn watschelte. Er wollte bereits den Hahn spannen und abdrücken, da stoppte ihn eine dunkle Stimme.
„Selim! Wie lauten meine Befehle?“
Langsam ließ Selim die Pistole sinken. Ben Maruf torkelte weiter, er hatte die Gefahr hinter seinem Rücken überhaupt nicht registriert. Selim wandte sich zu Mubarak um, der soeben an Deck erschienen war und ihn aus glitzernden Augen musterte.
„Auf Kurs bleiben und Ausschau halten.“
„Ist das alles?“
„Ja.“
„Warum willst du dann den Verrückten erschießen, obwohl ich ihn begnadigt habe?“
„Weil er mich bis aufs Blut reizt.“
„Du bist ein Schwächling, Selim“, sagte Mubarak verächtlich. „Ein feiger Hund, der im Dunkeln vor Angst jault und den Schwanz einzieht. Macht es dich jetzt auch schon krank, daß sich unsere Ankunft hinauszögert?“
Selim schluckte die Beleidigung, ohne mit der Wimper zu zucken. Er wußte, wie unkontrolliert Mubaraks Reaktionen waren, wenn ein Mann sich renitent benahm.
„Du irrst dich in mir, Sihdi“, erwiderte er. „Ich habe die Geduld des Propheten, was diesen Punkt betrifft. Nur finde ich, daß Kranke und Schwache, Krüppel und Idioten an Bord eines Schiffes nichts zu suchen haben.“
Die unterschwellige Furcht und der Aberglaube aller Seefahrer, daß ein Geisteskranker dem Schiff Unglück bringe, sprach aus seinen Worten. Auch Mubarak empfand nicht anders, aber er gab es nicht offen zu. Er hatte dem von Mustafa vorgetragenen Wunsch, Ben Maruf am Leben zu lassen, nachgegeben. Jetzt konnte er die Entscheidung nicht mehr widerrufen. Er durfte nicht unglaubwürdig und wankelmütig wirken, das untergrub seine Autorität.
Er lachte rauh, trat zu Selim und schlug ihm mit der Hand auf die Schulter. „Ist das alles? Nun, du brauchst dir keine Sorgen zu bereiten. Sobald wir in der Neuen Welt sind, finden wir schon ein Plätzchen für ihn, an dem wir ihn zurücklassen können, verlaß dich drauf.“
Damit gab sich Selim zufrieden. Auch er hatte daran gedacht, den Irren auf einer winzigen Insel auszusetzen. Eine Lösung würde sich finden. Für alles. Auch für die Querelen mit der Mannschaft und das Problem, das der Riese Mustafa für ihn darstellte.
Die Schebecke war ein schlanker Dreimaster mit Lateinerrigg, ein wendiges und manövrierfähiges Schiff also, das über ausgezeichnete Am-Wind-Eigenschaften verfügte. Am Vormittag dieses 21. Juni steuerte sie bei Nordostwind auf die nördlichen Inseln der Bahama-Gruppe zu.
Sie war ein ungewöhnliches Schiff, das in diesen Breiten Aufsehen erregen mußte. In ihrem Schanzkleid befanden sich auf beiden Seiten je elf Geschützpforten. Es war in grellem Rot gehalten und hob sich scharf von dem übrigen, schwarz gestrichenen Rumpf ab. Der spitz mündende unweit vorragende Vorsteven, auf dem der Bugspriet ruhte, endete in einem wild aufgerissenen Löwenmaul.
Die Dreieckssegel waren von oben nach unten abwechselnd rot und weiß gestreift. Flögel und Flaggen führte die Schebecke nicht, auch hatte sie keinen Namen, der ihr auf die beiden Bugseiten oder auf die Heckpartie geschrieben war. Sie bot wahrhaftig einen seltsamen Anblick in dieser westlichen Ecke des Atlantiks.
Mubarak stammte aus Algier, wie auch sein Schiff. Er war ein scharfgesichtiger, adlernasiger Mann, schlank, breitschultrig, mit stechenden dunklen Augen und schmalen Lippen. Keiner wußte genau, wie alt er war, aber seine Kerle vermuteten, daß er etwa Mitte der Dreißig war.
Ein Pirat mit einschlägiger Erfahrung war Mubarak. Bei seinen früheren Beutezügen war er weiter als seine Landsleute nach Westen vorgestoßen, hatte das Mittelmeer verlassen und war bis zu den Azoren gesegelt, wo er spanischen Handelsfahrern auflauerte, die aus der Neuen Welt zurückkehrten.
Viele Jagden hatten Mubarak und seine Meute von Schnapphähnen rund um die Azoren durchgeführt. In den meisten Fällen waren sie als Sieger aus den Kämpfen hervorgegangen. Sie hatten viele Spanier getötet und Galeonen versenkt, und sie hatten ihre Beute in einer Höhle auf einer winzigen, unbewohnten Insel versteckt.
Auch vor Gibraltar hatten sie Schiffe aufgebracht. Gold und Silber hatten sie verpraßt, rauschende Nächte hatten sie in Algier und anderswo verbracht und alles in allem ein wildes, freies Leben geführt.
In den letzten Monaten aber war die Beute mager gewesen. Die Spanier waren weitaus vorsichtiger geworden und wechselten oft die Routen, die Bewachung der Geleitzüge war verdoppelt und verdreifacht worden. Es gab nicht mehr viel zu holen. Zuletzt hatte die Mubarakhorde im Januar eine Dreimastgaleone vor den Azoren gekapert, die aber lediglich Gewürze und ein wenig Schmuck geladen hatte.
Mubarak hatte diese Entwicklung vorausgesehen, er war nicht dumm. Schon seit einem Jahr trug er sich mit dem Gedanken, seine Aktivitäten in ein anderes Seegebiet zu verlagern. Wohin? Das östliche Mittelmeer kam nicht in Frage, denn dort verkehrten in erster Linie arabische Schiffe, die für ihn kein Angriffsziel waren. Er hatte es auf Spanier und Portugiesen abgesehen.
Auch nördliche oder südliche Kurse verwarf Mubarak, ihm stand weder nach dem Norden Europas noch nach Afrika der Sinn – schon gar nicht danach, vor den Küsten Spaniens und Portugals herumzustreifen. Sein Ziel war die Neue Welt.
Unter den Piraten der Barbaresken-Küste am Mittelmeer hatte es gelegentlich Ansätze gegeben, nach Westen in den Atlantik vorzustoßen. Doch die Kühnsten von ihnen waren gescheitert. Sie waren in Stürmen umgekommen oder hatten die Suche nach dem neuen Land, von dem sie gehört hatten, nach wochenlangem Segeln entmutigt aufgegeben.
Mubarak hatte sich in den Kopf gesetzt, weder umzukehren noch sich durch die Unbilden der Natur abschrecken zu lassen. Er hatte spanische Seekarten erbeutet, aus denen hervorging, welchen Kurs man zu segeln hatte, um den neuen Kontinent Amerika zu erreichen. Im übrigen hatte er die Kapitäne der von ihm gekaperten Galeonen stets ins Verhör genommen und aus ihnen herausgepreßt, was er über diese ihm noch völlig unbekannte Welt wissen wollte.
Dort also zu räubern, mußte noch gewinnbringender sein, als bei den Azoren oder vor Gibraltar herumzulungern und Wochen oder Monate auf Beute zu warten. Anhand der Seekarten und gierig auf das, was ihm die gefolterten Kapitäne in den glühendsten Farben ausgemalt hatten, war ihm der Entschluß, nach Westen zu segeln, nicht schwergefallen.
Außerdem gebot er über eine wilde Schar von erprobten Kämpfern, die nicht nur in der Seemannschaft erfahren waren, sondern auch seit eh und je voller Haß auf die „Christenhunde“ waren. Der Glaube an Allah und den Koran verlieh ihnen die Tollkühnheit und Verwegenheit, immer wieder den Kampf gegen zahlenmäßig und von der Armierung her überlegene Schiffsmannschaften zu wagen.
Wenn sie also für Mubarak und sich selbst kämpften, dann kämpften sie auch gleichzeitig für Allah und Mohammed, seine Propheten. Mubarak schärfte ihnen dies immer wieder ein, und er vergaß auch nicht, regelmäßig auf die „große Schuld“ hinzuweisen, die die „verfluchten Giaurs“ auf sich geladen hätten: Lepanto!
Rachedurstig war die Mubarak-Bande. Die Niederlage bei Lepanto 1571 war noch nicht vergessen. In dieser Seeschlacht fiel Mubaraks Vater, der unter Uluch Ali fuhr. Allein diese Tatsache hielt sich Mubarak ständig vor Augen, wenn er gegen Spanier kämpfte. In seinem wilden Haß nahm er es mit fünf, sechs Gegnern gleichzeitig auf, und bei den Entermanövern säbelte er sich wie ein Derwisch seinen Weg zum Achterdeck.
Mubarak hatte von den Kapverden westwärts auf die Kleinen Antillen zusteuern wollen, um in die Karibik zu gelangen. Er war aber – was er nicht wußte – infolge eines Kompaßfehlers stetig mit Kurs Westnordwest Dreiviertel West, etwa 285 Grad, gesegelt. So hatte er die „normale“ Reisezeit, die ihm von den spanischen Kapitänen mitgeteilt worden war, weit überschritten. Er hatte die Kleinen Antillen südlich gelassen, ohne dies zu bemerken.
Seit über einer Woche spähten die Ausgucks unausgesetzt voraus, um Land zu entdecken. Ohne Erfolg. Die Neue Welt ließ auf sich warten. Existierte sie überhaupt? Lag sie vielleicht ganz woanders? Hatten die spanischen Kapitäne trotz der Folter Mubarak zum Narren gehalten?
Immer öfter stellte sich die Mannschaft diese Fragen. Nervosität, genährt von der plagenden Ungewißheit, hatte sich ausgebreitet und drohte auszuufern. Solange waren die Kerle noch nie auf See gewesen, fern jeglicher Küste.
Auch Mubarak war unruhig geworden, vermochte es aber vor der Meute zu verbergen. Hatten die spanischen Kapitäne, diese Hunde, ihn vielleicht doch belogen?
Wieder und wieder studierte er die Karten und Handbücher, die er erbeutet hatte und wie einen Schatz hütete. Er sprach Spanisch und konnte die fremde Sprache auch lesen. Sein Vater hatte ihn darin unterrichtet, als er noch ein kleiner Junge gewesen war.
„Man muß die Sprache des Feindes verstehen, um ihn mit seinen eigenen Waffen schlagen zu können“, hatte er immer gesagt.
Mubarak fragte sich, ob die Karten und Handbücher vielleicht gefälscht waren, damit kein Fremder je erfuhr, wo die Spanier ihre Schätze abholten. Aber es konnte nicht sein. Unter der Qual des peinlichen Verhörs hätten die Schiffskapitäne es ihm verraten.
Viel Zeit – das wußte Mubarak – durfte nicht mehr verstreichen, sonst brach wirklich eine Meuterei an Bord los. Lekbir war nicht der einzige, der sich gegen ihn aufgelehnt hatte. Schon als die Schebecke in den südlichen Roßbreiten bekalmt worden war, hatten sich zwei andere Kerle aufsässig gezeigt. Mubarak hatte sie rücksichtslos erdolcht und anschließend über Bord werfen lassen.
Ein anderer Kerl war krank geworden und gestorben. Die Angst vor einer Ansteckung ging noch immer um, obwohl keiner genau wußte, woran der Kumpan gelitten hatte. Die Ungewißheit ließ sie unruhig werden. Und jetzt noch ein Schwachsinniger – alle Anzeichen schienen auf Pech hinzudeuten. Böse Omen schwebten über der Schebecke, Allahs Schwert konnte sie jeden Augenblick treffen.
Doch am Nachmittag dieses Tages änderte sich die Lage schlagartig.
„Boot voraus!“ meldete einer der Ausgucks. „Eine Jolle mit acht Riemen!“
Die Mienen der Kerle hellten sich auf.
„Wo ein Boot ist, kann auch das Land nicht fern sein“, sagte Selim.
„Oder ein Schiff“, sagte Mubarak, dann legte er den Kopf in den Nacken. „Wie viele Männer befinden sich an Bord?“
„Sieben“, erwiderte der Ausguck.
„Weiße?“
„Giaurs!“ Der Ausguck spähte immer noch durch seinen Kieker, ohne ihn abzusetzen.
„Was tun sie?“
„Sie angeln.“
„Sind Sie Schiffbrüchige?“
„So sehen sie nicht aus“, antwortete der Ausguck. „Ihre Kleidung ist in Ordnung, ihre Gesichter sind nicht verzweifelt. Sie haben Frieden im Herzen.“
„Sehr gut“, sagte Mubarak. „Aus all dem schließe ich, daß die Küste nicht weit sein kann. Die Hunde müssen Spanier sein, wahrscheinlich befindet sich einer ihrer Häfen in der Nähe. Oder ein Fort.“
„Das man ausplündern und niederbrennen kann“, sagte Selim. Sein hageres Gesicht war verzerrt.
„Kurs auf die Jolle!“ befahl Mubarak. „Wir kapern sie und schneiden den Giaurs die Kehlen durch. Nur einen von ihnen lassen wir am Leben. Er muß uns verraten, wo sein Schiff ist.“
2.
Nicht Spanier saßen auf den Duchten der achtriemigen Jolle, sondern fünf reinblütige Engländer, ein Holländer und ein Schwede. Sie hießen Dan O’Flynn, Sam Roskill, Piet Straaten, Stenmark, Jeff Bowie, Jack Finnegan und Paddy Rogers.
Ihr Schiff war die „Isabella IX.“, die zur Zeit in der großen Bucht von Great Abaco ankerte, weil es einige Zwischenfälle und Verzögerungen gegeben hatte – zum Beispiel mit Don Juan de Alcazar oder mit der „Golondrina“, deren Schiffsführung und den siebzig Mixteken. Anderenfalls wäre die „Isabella“ nach der Geleitzugschlacht, die vor den Bahamas getobt hatte, längst zur Schlangen-Insel zurückgekehrt.
Wäre Mubarak davon etwas bekannt gewesen, dann hätte er mit größter Wahrscheinlichkeit seine Taktik geändert. Er hätte sich versteckt und die Jolle nicht angegriffen. Er hätte auf die „Isabella“ gewartet und wäre ihr als Fühlungshalter bis zur Schlangen-Insel und nach Coral Island gefolgt. Denn dort lagerte bereits alles, was er sich von seinem Abstecher in die Karibik erhoffte: Gold, Silber, Diamanten und Perlen in unvorstellbaren Mengen.
Doch Mubarak war ahnungslos. Er näherte sich diesem ersten Vorboten der Neuen Welt, von dem er annahm, daß es sich um eine Jolle der Spanier handele. Schließlich gab es nicht nur dunkelhaarige, sondern auch blonde Spanier, das war erwiesen.
Dan war der Bootsführer. Mit seiner kleinen Crew war er auf „Proviantbeschaffung“. Sie angelten, um die immer knapper werdenden Vorräte der „Isabella“ zu strecken. Schließlich hatten sie mit den Mixteken siebzig Esser mehr an Bord, die versorgt werden mußten, zumal sie an Bord der „Golondrina“ unter menschenunwürdigen Bedingungen eingepfercht gewesen waren und kaum etwas zu essen erhalten hatten. Sie waren bis auf die Knochen abgemagert, vor allem die Kinder und die Frauen mußten wieder aufgepäppelt werden.
Die Nahrungsfrage war das vordringliche Problem. Das Fangergebnis am Vortag war erstaunlich gut gewesen, aber die Beute reichte immer noch nicht aus. Aus diesem Grund war Dan mit seiner Crew früh am Morgen ausgelaufen. Sorgfältig hatten sie den Angelplatz gewählt. Inzwischen war es ihnen gelungen, fünfzehn große, zehn- bis zwölfpfündige Zackenbarsche, Umber, Makrelen, Zahnfische und auch ein paar Heringe zu fangen.
Die Jolle war gut beladen. Neben den Fischen lagen die Handfeuerwaffen und die Blankwaffen der Männer, außerdem zwei Flaschenbomben, die Ferris Tucker Dan vorsorglich mitgegeben hatte.
„Man kann nie wissen, was passiert“, hatte der rothaarige Riese gesagt.
Das stimmte – gerade auf Great Abaco hatte es für die Arwenacks immer wieder höchst unangenehme Überraschungen gegeben. Man mußte auf jeden Eventualfall vorbereitet sein. Das lehrte die Erfahrung.
Immerhin: Der Kutscher hatte Hasard mittlerweile gemeldet, daß für den verletzten Don Juan de Alcazar keine Gefahr mehr bestünde. Don Juan hatte aus dem Kampf gegen Don Ignatio Churruca, dem Kapitän der inzwischen versenkten „Golondrina“, einen Schultersteckschuß davongetragen. Der Seewolf hatte ihm in der Notlage geholfen. Und der Kutscher hatte die Kugel aus der linken Schulter geholt. Das Operationsergebnis war positiv.
So hatte Don Juan es sich nicht nehmen lassen, den Vorsitz der Gerichtsverhandlung gegen Don Ignatio, den Zweiten Offizier der „Golondrina“ und den Mörder Gomez Segura zu führen. Die Geschworenen hatten die drei Delinquenten zum Tod verurteilt, und sie waren unverzüglich gehenkt worden.
Don Juan war stark und widerstandsfähig, aber das Fieber, die Schmerzen und die erlittenen Strapazen waren doch nicht spurlos an ihm vorbeigegangen. Er brauchte noch Ruhe und Schonung.
Der Kutscher hatte sich wie immer sehr korrekt gezeigt. Man müsse noch zwei bis drei Tage abwarten und sehen, ob sich Komplikationen bei dem Patienten einstellten, hatte er zum Seewolf gesagt.
Hasard willigte wieder einmal achselzuckend ein.
„Es ist wohl meine Last, daß ich den Mann nicht loswerde“, sagte er. „Aber es ist auch grotesk, daß ausgerechnet ich ihm helfe – dem Mann, der mich an die spanische Krone ausliefern will. Nun gut. Wenn es also keine weiteren Komplikationen gibt, kann die ‚Isa‘ in spätestens drei Tagen ankerauf gehen und zurück zur Schlangen-Insel segeln. Richtig?“
„Richtig, Sir“, erwiderte der Kutscher.
„Es freut mich, daß meine Crew meine Entscheidungen billigt“, sagte Hasard grimmig. Dann zog er sich in seine Kapitänskammer zurück, die er jetzt wieder beziehen konnte.
Don Juan war bereits am Vortag an Land gebracht worden. Er hatte das provisorische Krankenlager in der Kapitänskammer geräumt und eine der bereits fertiggestellten Hütten am Rand der Bucht bezogen. Hier kümmerte sich jetzt seine Crew um ihn.
Ramón Vigil, der Bootsmann, richtete sich dabei genau nach den Anweisungen, die ihm der Kutscher und Pater David erteilten. Pater David war auch bei der Operation eine gute Unterstützung für den Kutscher und Mac Pellew gewesen, denn die Heilkunde war für ihn alles andere als ein Buch mit sieben Siegeln.
So viele Vorräte wie möglich heranschaffen – das war zur Zeit die wichtigste Aufgabe, der die Männer der „Isabella“ folgten. Die kleine Jolle war an der Westseite der Insel unterwegs, um zu fischen, ebenso die reparierte Jolle der Don-Juan-Crew, die als Beiboot zu der versenkten Zweimastschaluppe gehört hatte.
Dan O’Flynn hielt immer wieder Ausschau nach allen Seiten – und dank seiner scharfen Augen war er es, der das fremde Schiff als erster entdeckte.
„Da kommt was von Osten“, sagte er und holte seine Angel ein. „Ein Dreimaster, wenn mich nicht alles täuscht.“
Sofort lenkten auch die anderen ihre Blicke in die angegebene Richtung. Jack Finnegan griff unter eine Ducht und holte das Spektiv hervor. Er reichte es Dan, der es auseinanderzog und hindurchspähte.
„Ein seltsamer Kahn“, sagte er. „Er hat rot-weiß gestreifte Lateinersegel. Ein Spanier ist das garantiert nicht.“
„Sondern?“ fragte Sam Roskill, der aus schmalen Augen nach Osten spähte. „Teufel, wenn wir nicht hier, bei den Bahamas, wären, würde ich glatt behaupten, das ist ein Araber.“
„Ich fürchte, du hast recht“, sagte Dan. „Das ist eine Schebecke.“ Sein Gesicht war mit einemmal verkniffen. Erinnerungen tauchten vor seinem geistigen Auge auf – an die böse Geschichte von damals, bei der sie ihre größte Niederlage erlitten hatten.
„Eine Schebecke?“ sagte Paddy Rogers. „Der Henker soll den verdammten Kahn holen. Was hat der hier verloren?“
„Das fragen wir uns auch, Paddy“, entgegnete Stenmark so gelassen wie möglich, obwohl auch er ein Gefühl der Unruhe verspürte. „Aber lassen wir sie doch erst mal näher heran.“
Schebecken waren den Männern der „Isabella“ von ihren Abenteuern im Mittelmeer her bestens bekannt, vor allem von den Episoden, die sie in Ägypten und auf dem Nil erlebt hatten. Sofort war das alte Unbehagen wieder da. Sie hatten das, was damals geschehen war, immer noch nicht verwunden.