Seewölfe Paket 7

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„Manches entzieht sich ganz einfach unserem Wissen“, sagte Dan O’Flynn. „Früher haben die Leute auch geglaubt, die Erde sei eine Scheibe, an deren Rändern man in den Abgrund stürzen müsse. Heute ist bekannt …“
„… daß es Spuk und Dämonen wirklich gibt“, vollendete sein Erzeuger den Satz. „Und du sollst dich nicht versündigen, indem du das abstreitest, sonst ziehe ich dir mein Holzbein über die Rippen.“
„Ich geb’s auf“, stöhnte Dan.
„Donegal“, sagte der Profos jetzt heiser. „Du sollst nicht immer unken. Ich kann das nicht leiden.“
„Ich unke nicht. Ich warne nur.“
„Vor was?“
„Du wirst die Zeit schon abwarten können, Mister Carberry.“
„Hölle und Teufel“, sagte Carberry. „Eines Tages lasse ich dir dein eigenes Holzbein auf dem Rücken tanzen, O’Flynn. Wenn einer etwas nicht genau weiß, soll er die Klappe halten.“
„So wie vor Formosa? Als wir in die Falle der Portugiesen gelaufen sind?“
Carberry sagte darauf nichts. Er erinnerte sich genauso ungern an diese Episode wie alle anderen Männer der „Isabella“, aber er fand es nicht gerade fair von dem Alten, die Sache immer wieder herbeizuzitieren. Die Portugiesen hatten sich seinerzeit beispiellos heimtückisch verhalten, weil sie mit einem Trick an die Menschlichkeit der Seewölfe appelliert hatten. Als Opfer eines Überfalls hatten sie sich aufgeführt, und Hasard hätte sich als Schweinehund gefühlt, wenn er ihnen nicht Beistand geleistet hätte.
Aber das gehörte der Vergangenheit an. Carberry blickte voraus zu der Insel Rempang, einem breiten Streifen am Horizont, dessen Vegetation sich – aus der Ferne betrachtet – wie ein einziger Moosteppich an die sanft geschwungenen Hänge zu schmiegen schien.
Carberrys Gefühle waren gemischt. Ehrlich ausgedrückt schwante auch ihm nichts Gutes – wie bei der gesamten Crew die Stimmung nicht rosig war.
Der Seewolf hatte angekündigt, er werde auf Rempang landen, um seine Nachforschungen zu betreiben.
Schon begab er sich über Carberrys, O’Flynn seniors und O’Flynn juniors Köpfen an die Five-Rail.
Er stützte sich mit den Händen auf und rief: „Wer meldet sich freiwillig zum Landgang? Ich schätze, wir stöbern auf der Insel Rempang mindestens eine Kaschemme auf, in der der Wirt das Beil unterm Tresen liegen hat und wo die käuflichen Ladys sich als schmachtende Kannibalinnen entpuppen. Na los, Männer, nun drängelt euch nicht so, es kommt jeder dran.“
Er grinste.
Carberry wischte sich mit dem Handrücken über Nase und Mund, schnaufte und sagte: „Ich bin dabei, Sir. Mich kann bekanntlich nichts umhauen. Und Sun Lo, der Mönch, hat ja auch gesagt, daß die Kopfjäger alle weiter östlich auf Borneo und so lauern.“
„Ich wußte nicht, daß du eine ironische Ader hast, Ed.“
„Die habe auch ich gerade erst entdeckt“, erwiderte der Profos grimmig. Dann fuhr er zur Kuhl herum. „Na, ihr Memmen und Hosenscheißer, braucht ihr eine Sondereinladung, oder habt ihr Angst, ihr trampelt euch gegenseitig tot, wenn ihr beim Sturm auf die Boote zu zahlreich vertreten seid?“
„Achtung“, sagte Smoky, der Decksälteste, unten leise zu den Kameraden. „Alles hört auf mein Zeichen.“ Er blickte nach links und nach rechts, dann preßte er ein knappes „Jetzt“ hervor.
Sofort flogen sämtliche Hände hoch.
Es war mal wieder an ihrem bescheidenen Ehrgefühl gekratzt worden, und in dieser Beziehung hielten sie es wie der Profos. Alles konnte man ihnen vorwerfen, nur Feigheit nicht. Keiner verspürte übermäßige Lust, auf Rempang umherzustreifen und Mangroven zu fällen, aber Hasenfüße ließen sie sich deswegen noch lange nicht nennen.
Hasard stellte seinen Trupp zusammen: Carberry, Batuti, Pete Ballie, Gary Andrews, Matt Davies und Jeff Bowie.
Eine halbe Stunde später stießen sie sich mit dem Beiboot von der Bordwand der „Isabella“ ab und pullten zur Insel hinüber. Freundlich grüßten die bewaldeten Hänge unter der Nachmittagssonne herüber, einladend sahen sie aber trotzdem nicht aus.
„Ihr werdet mich fragen, warum ich ausgerechnet an dieser Stelle der Küste lande“, sagte Hasard, der wieder den Platz auf der Heckducht innehatte. „Nun, ich habe vorhin eine Flußmündung entdeckt. Sie ist stark überwuchert und kaum mit bloßem Auge zu erkennen. Meiner Meinung nach könnte sie von den Piraten als Versteck benutzt werden. Ihr erinnert euch doch noch an Formosa.“
„Ja, aber dort war der Fluß ziemlich breit“, erwiderte Pete Ballie. „Ich frage mich, ob dieser hier ein größeres Schiff passieren läßt.“
„Das ist auch eine Frage der Wassertiefe“, sagte Gary Andrews.
„Und der Beschaffenheit der Fahrzeuge“, sagte der Seewolf. „Ein Praho, meistens mit einem Mast und Auslegern an einer oder zwei Seiten versehen, hat nur geringen Tiefgang.“
„Aha“, meinte Matt Davies. „Wenn ich recht verstehe, sind die Kähne so groß wie Schaluppen oder Pinassen.“
„Ungefähr“, entgegnete Hasard.
„Ideal für Entermanöver“, sagte Matt grinsend. „Die Piraten scheinen es auch hier zu verstehen, den Dons mit dem richtigen Kaliber zu begegnen. Je schlanker und wendiger die Kähne, desto größer die Chance, dem Beschuß der Spanier zu entgehen.“
Hasard nickte und bewegte die Ruderpinne. Sie hatten jene Stelle im Uferdickicht, die er sich eingeprägt hatte, fast erreicht. Batuti drehte sich kurz um, spähte in den tiefgrünen Blätterwald, schüttelte jedoch den Kopf. Er vermochte den Einschnitt der Flußmündung nicht zu erkennen.
Etwas später schob sich das Boot jedoch ins schwer hängende Gesträuch und teilte es mit dem Bug. Hier schien die Welt zu Ende zu sein – doch erstaunlicherweise öffnete sich gleich hinter dem undurchdringlich wirkenden Vorhang das Halbdunkel eines Stollens.
Nicht durch den Fels führte dieser Stollen, nein, er war ein matt schimmernder Gang unter der alles zudekkenden Inselflora, der Weg, den sich der Fluß gegraben hatte.
Die Aura der Selva nahm die Männer im Boot gefangen. Feuchtigkeit und ein Gemengsel aus vielen verschiedenen Gerüchen senkte sich über sie, ein Gifthauch schien sie zu umfächeln.
Sie pullten langsamer.
Das Wasser war zunächst noch klar, wurde nach einigen Yards jedoch braun und brackig. Hasard und seine Männer hatten den Einzugsbereich der See verlassen und stemmten sich gegen die zunehmende Strömung.
Schließlich wurde der Fluß sehr flach, und die Ufer strebten derart dicht aufeinander zu, daß selbst mit der Jolle kein Durchkommen mehr war.
„Die Antwort auf unsere Frage hätten wir also“, sagte der Seewolf. „Hierher haben sich die malaiischen Freibeuter nicht zurückgezogen. Spätestens an dieser Stelle hätten wir sonst auf ihre Schiffe stoßen müssen.“
„Keine Prahos – kein Tiger“, sagte Matt Davies mit schiefem Grinsen.
„Trotzdem will ich einen Blick in die Runde werfen“, sagte Hasard. „Wir gehen an Land und unternehmen einen kleinen Streifzug. Jeff, du bewachst das Boot.“
„Aye, Sir.“
Kurz darauf taten sie wieder das, worauf die Männer so sehr „erpicht“ waren. Mit Säbeln und Entermessern bahnten sie sich einen Weg durch den Urwald, den seit Menschengedenken niemand mehr betreten zu haben schien. Vorn öffnete sich das Gestrüpp unter Hasards und Carberrys erbitterten Hieben, Batuti, Pete, Gary und Matt droschen den Rest nieder. Hinter ihnen schien sich das Dickicht gleich wieder zu schließen – ein unangenehmes Gefühl.
Insekten schwirrten ihnen in die Gesichter und krabbelten über ihre Oberkörper. Sie waren nicht nur lästig, sondern behinderten sie auch. Myriaden von Mücken und anderem winzigen Getier schienen auf der Insel zu hausen.
Einzig der schwarze Herkules aus Gambia beschwerte sich nicht. Er war ähnliche Verhältnisse ja aus seiner Heimat gewohnt.
Pete Ballie hingegen wetterte: „Teufel auch, so eine Plage. Gibt es denn kein Mittel gegen die Bestien?“
„Totschlagen“, sagte Matt trocken.
„Dir können die Scheusale wohl gar nichts anhaben, was?“ sagte Gary Andrews.
„Ich sage: Hier laßt uns Hütten bauen“, erwiderte Matt Davies mit galligem Humor.
Hasard erwartete, irgendwo auf eine Lichtung zu treffen, denn der Untergrund stieg jetzt an, und bald mußte sich die Vegetation zumindest an vereinzelten Stellen ein bißchen öffnen. Als er von der „Isabella“ aus mit scharfem Blick die Flußmündung gesichtet hatte, glaubte er auch ein paar helle Flecken in dem dichten Bewuchs erspäht zu haben.
Deshalb arbeitete er sich unverdrossen weiter voran.
Was er zu finden hoffte, wußte er so genau selbst nicht – vielleicht Spuren, die auf den Tiger hinwiesen. Die Reste eines Lagerfeuers, einer Mahlzeit im Freien, möglicherweise auch Behausungen.
Carberry hörte einen Laut und blieb stehen.
„Hasard“, raunte er. „Sir.“
„Was gibt’s, Ed?“
„Da ist was.“
Hasard verharrte ebenfalls und wandte sich zu ihm um. „Ed, willst du mir erzählen, hier spukt es? Hör damit auf, ehe du richtig anfängst.“
„Nein, Sir. Da ist was“, behauptete der bullige Profos steif und fest.
Ein Zeichen für die Richtigkeit seiner Behauptung lieferte jetzt Sir John. Der Papagei duckte sich auf seiner rechten Schulter. Seine Nakkenfedern sträubten sich, seine Augen schienen Angst auszudrücken.
Dann vernahm auch Hasard das Geräusch – und mit ihm die anderen vier.
Ein Grollen durchlief den Regenwald, ein unerklärliches, unterschwelliges und doch ungemein intensives Brüllen, das geradewegs den tiefsten Schlünden der Hölle zu entweichen schien.
Selbst der Seewolf konnte sich eines kalten Schauers nicht erwehren, der ihm über den Rücken lief. Sein Blick huschte von Mann zu Mann, und er las Repekt in ihren Mienen, ungeheuren Respekt.
Batuti rollte mit den Augen, daß das Weiße hervorzuquellen drohte.
„Teufel“, zischte Matt Davies. „Das hört sich ja an wie – wie …“
„Schsch“, flüsterte der Gambia-Neger und legte den Zeigefinger gegen die Lippen.
Unwillkürlich schwiegen die Männer wirklich. Batuti schlich zu Hasard, brachte seinen Mund ganz nah an dessen Ohr und raunte: „Batuti weiß – das Herr der Steppe. Furchtbarer Gegner.“
„Du sagst Steppe“, erwiderte Hasard fast genauso leise. „Wir befinden uns hier aber im Urwald. Meinst du vielleicht einen Löwen?“
„Ja, den.“ Batutis Züge nahmen einen ehrfürchtigen Ausdruck an.
„Dann weiß ich, wer das ist“, sagte der Seewolf. „In diesem Land existieren keine Löwen. Wohl aber Tiger.“
„Die sollen noch größer werden als Löwen“, raunte Gary Andrews.
„Ich hab noch keinen Tiger gesehen“, hauchte Pete Ballie, von Batutis Ehrfurcht angesteckt.
„Ich auch nicht“, erwiderte Gary. „Auch noch keinen Löwen.“
Hasard blickte sich aufmerksam um. Hätte er die Richtung bestimmen sollen, aus der das feindselige Grollen gedrungen war, hätte er sich nur schwer festlegen können. Es schien überall zu sein.
Sun Lo hatte ihm ein wenig über Tiger erzählt, über die schönen Tiere aus Bengalen und die blasser gezeichneten Exemplare eines fernen, kalten Landes, das er Sibirien genannt hatte. Gewaltige Raubkatzen, die einem ausgewachsenen Mann mit einem einzigen Tatzenhieb den Arm vom Rumpf trennen oder den Kopf abreißen konnten. Sie lebten nicht in Rudeln wie die Löwen Afrikas, sondern meistens als Einzelgänger, nur zur Paarungszeit zu zweit beziehungsweise nach der Geburt der Jungen einige Wochen lang als traute Familie.
Eigentlich gingen sie dem Menschen aus dem Weg, hatte der Mönch von Formosa zu berichten gewußt, aber es gäbe auch sogenannte „Menschenfresser“, Tiere, die unangenehme Erfahrungen mit Menschen gemacht hatten und ihnen deswegen nachstellten. Vor einem Element hatten jedoch alle Tiger Angst: vor dem Wasser.
Das Grollen kehrte wieder.
Die Männer fuhren unwillkürlich zusammen.
„Verdammt“, stieß Carberry aus. „Lassen wir uns von diesem Himmelhund etwa einschüchtern? Weiter, sage ich.“
„Ja“, meinte nun auch der Seewolf. „Dringen wir wenigstens bis zur ersten Lichtung vor. Ich stelle es euch aber frei, zum Boot zurückzukehren. Ed und ich kommen auch allein ganz gut voran.“
„Ach was“, antwortete Matt Davies. „Erstens haben wir die Hosen nicht voll, und zweitens würden wir euch auch mit vollen Hosen nicht im Stich lassen.“ Er sagte das im Brustton voller Überzeugung, äugte aber doch zu Sir John, der auf der Profosschulter immer kleiner zu werden schien.
Noch einmal wälzte sich das Brüllen des Tigers durch den Dschungel, diesmal ganz nah.
Sir John schlüpfte von der Schulter aus in Carberrys Wams. Er kuschelte sich zusammen und verharrte reglos. Nichts auf der Welt hätte ihn bewegen können, diesen sicheren Platz wieder zu verlassen.
„Augenblick“, flüsterte Pete Ballie.
„Was ist?“ zischte Gary. „Du machst mich ganz kribbelig.“
„Wieso geht der Papagei in Dekkung?“
„Instinkt“, erwiderte Matt Davies.
„Meinetwegen“, sagte Pete. „Aber meistens fliegt er auf, wenn es brenzlig wird.“
Hasard und Carberry blieben am Kopf der Gruppe stehen, als Pete dies sagte. Sie fühlten sich veranlaßt, den Blick zu heben.
„Du meinst, Sir John ist nicht weggeflogen, weil die Gefahr von oben kommt?“ raunte der Profos seinem Kapitän zu. „Ach wo. Tiger klettern doch nicht auf Bäume.“
„Woher weißt du das?“ fragte Hasard.
„Hat Sun Lo das nicht gesagt?“
„Mir nicht.“
Carberry stand plötzlich wie vom Donner gerührt.
„Sir“, würgte er hervor. „Ich – ich sehe ihn.“
Hasard hatte den Urheber der unheimlichen Laute nun auch entdeckt. Die vier anderen folgten seinem und Carberrys Blick – und da sahen auch sie das Tier. Zwischen Blättern hindurch gewahrten sie es auf dem niedrigen Ast eines gewaltigen, urweltlich wirkenden Baumes.
Majestätisch, reglos, den Blick unverwandt auf den kleinen Trupp gerichtet, ein Bild vollkommener Harmonie zwischen Schönheit des Körpers, Kraft und samtfarbener Streifenzeichnung, so bot sich die große Katze ihren Augen dar.
„Der Herr des Waldes“, murmelte Hasard. Er konnte den Blick nicht von diesem einzigartigen Tier nehmen. Man mußte von dieser Kreatur überwältigt sein. „Duldet er uns – oder will er uns verjagen?“
Carberry gab Gary Andrews einen Wink. Gary hob daraufhin die mitgebrachte Muskete. Batuti öffnete jedoch den Mund, um zu protestieren.
Und Hasard sagte nun auch: „Nein, nicht schießen. Er hat uns nichts getan.“
„Er kann uns alle töten“, widersprach Carberry.
„Aber ihm steht die gleiche Würde, der gleiche Respekt zu wie einem Zweibeiner“, sagte der Seewolf. „Erst wenn wir angegriffen werden, wehren wir uns unserer Haut.“
Der Tiger öffnete das Maul und zeigte ihnen seine spitzen, dolchartigen Reißzähne. Zehn, höchstens fünfzehn Yards entfernt lag er auf dem schweren Baumast, und das Grollen, das er von sich gab, dröhnte wie Donner in den Ohren der Männer.
Hasard stellte einen Vergleich mit dem Anführer der malaiischen Freibeuter an. Würde und Gewandtheit, Stolz, Kraft, ein Ausdruck der Unbesiegbarkeit – trafen alle diese Attribute tatsächlich auch auf den Mann von Malakka zu?
„Da“, stieß Batuti aus. „Tiger steht auf.“
Und wirklich, der Herrscher über den Dschungel richtete sich lautlos auf – zu seiner vollen Größe, die den Männern der „Isabella“ erst jetzt richtig bewußt wurde. In fließender Bewegung drehte sich das Tier, verließ den Ast, glitt den Baumstamm hinunter und wurde vom Dickicht verschluckt.
„Mann“, keuchte Pete Ballie. „Jetzt pirscht er sich an, um uns zu vertilgen.“
Hasard erwiderte: „Haltet die Waffen schußbereit. Wir kehren zum Boot zurück. Schaut euch ständig nach allen Seiten um.“
„Wir hören schon, wenn der Bruder naht“, meinte Matt Davies. „Er faucht ja laut genug.“
„Das glaubst du auch bloß“, entgegnete Gary. „Von jetzt an verhält er sich mucksmäuschenstill, sage ich dir.“
„Herr der Tiere“, versetzte der Gambia-Neger gedämpft. „Meister der Jagd.“
Sie hatten den Weg zum Beiboot der Galeone halb zurückgelegt, da zerriß ein Donnerhieb die Stille. Hasard setzte sich sofort wieder an die Spitze seiner Gruppe und stürmte los. Als er aus dem Dickicht brach und das Flußufer erreichte, sah er einen bleichen Jeff Bowie im Boot stehen. Das Boot schwankte, Jeff trachtete es durch ausgleichende Beinarbeit in eine ruhigere Lage zu bringen.
„Hölle, Jeff!“ rief der Seewolf. „Warst du das?“
„Ja, Sir. Wir hatten doch ein paar Höllenflaschen mitgenommen. Ich habe schnell eine davon gezündet, als dieser – dieser Teufel im Gebüsch auftauchte.“
„Der Tiger?“
„Ja, das muß wohl ein Tiger gewesen sein“, sagte Jeff verdattert. „Ich habe die Flasche nach ihm geschleudert, dann war er weg wie der Blitz.“
Hasard ließ sich die Stelle zeigen, an der Bowie die große Raubkatze gesichtet hatte. Die Explosionsflasche hatte das Dickicht im Umkreis von etwa fünf Yards geplättet und einen kleinen Krater in den weichen Boden gerissen. Schwarze Erde haftete an den Mangrovenblättern, es sah aus, als habe ein fürchterlicher Kampf stattgefunden.
Von dem Tiger aber keine Spur.
Hasard grinste. „Eine gute Reaktion, mein Freund. Es hätte dich um ein Haar erwischt. Ich hätte dir aber auch niemals verziehen, wenn du unserem guten Jeff zu Leibe gerückt wärst.“
Bei der Rückfahrt zur „Isabella“ beteuerte Jeff immer wieder, der Tiger habe ihn anspringen wollen, er habe alle Anstalten dazu getroffen, unverkennbar.
„Also doch ein Menschenfresser“, sagte der Seewolf. „Das gibt mir zu denken. Falls Rempang ganz unbewohnt ist, hat der Tiger bestimmt mit dazu beigetragen.“ Sie hatten das Dickicht verlassen und pullten auf die See hinaus. Hasard richtete sich auf und gab Ben Brighton ein Zeichen. Ben hatte nach der Explosion der Flasche bereits ein zweites Boot bemannen lassen und wollte gerade aufbrechen, um den Kameraden zu Hilfe zu eilen.
9.
Zurück an Bord der „Isabella“ erstatteten die Landgänger ihren Kameraden Bericht.
„Ich glaube, nicht einmal ein halbes Dutzend Schüsse könnten den Tiger stoppen“, sagte der Seewolf abschließend. „Eine Höllenflasche vielleicht, aber das wäre höchst unwaidmännisch.“
„Du willst zur Insel zurück und ihn erlegen?“ fragte Ferris Tucker.
„Nein, das habe ich nicht vor. Die Freibeuter, die wir suchen, halten sich bestimmt nicht auf Rempang auf – wegen des echten Tigers. Und ich persönlich hege keinen Haß gegen den vierbeinigen Killer. Wenn er sein Revier um jeden Preis verteidigen will, dann bin ich der letzte, der seine Kreise stört.“
„Deck!“ rief unvermittelt Bill aus dem Großmars. „Schiff im Nordwesten! Es hat das Nordufer der Insel gerundet und hält auf uns zu!“
Hasard bewaffnete sich sofort mit dem Spektiv, hastete auf die Back der „Isabella“ und nahm das Schiff im Augenschein.
„Ein Zweimaster!“ rief der Schiffsjunge.
Ben Brighton, Ferris Tucker, Smoky, Shane und die beiden O’Flynns trafen inzwischen auch auf dem Vordeck ein. Carberry überprüfte unterdessen die Gefechtsstationen. Nach dem Zwischenfall auf Rempang hatte Ben Brighton zum Kampf rüsten lassen. Es gab nichts zu bemängeln, die „Isabella“ konnte es sofort mit einem Gegner aufnehmen.
Hasard mußte zwar auch ein Erscheinen der Spanier in sein Kalkül einbeziehen, aber er rechnete noch nicht wieder mit ihnen. Ganz instinktiv dachte er eher an ein Aufkreuzen der malaiischen Piraten.
Und er wurde nicht enttäuscht.
„Der Zweimaster ist ein außergewöhnlich großer Praho“, sagte er zu den Männern. „Ich wette eins zu tausend, daß er zu dem Verband des Tigers gehört.“
„Na, dann wollen wir mal“, entgegnete Ferris grimmig.
„Ich nehme nicht an, daß er mit uns kämpfen will“, meinte Hasard jedoch. „Er signalisiert aus den Toppen.“
„Spanische Signalzeichen, Sir“, meldete Bill im Tonfall höchster Erregung. „Er erscheint als Unterhändler.“
„Akzeptieren wir das?“ fragte Ben.
Hasard ließ das Spektiv sinken und warf seinem Bootsmann einen Seitenblick zu. „Ja. Wir verhandeln. Gebt ihm zu verstehen, daß wir zu Verhandlungen bereit sind. Ich will wissen, was er von uns will.“
Kurze Zeit später wußte er es.
„Eine Unterredung zwischen beiden Kapitänen“, las der Seewolf aus den Signalflaggen, die in den Toppen des eigentümlichen Zweimasters flatterten. „Der Tiger will mich sehen, befindet sich aber an anderer Stelle.“
„Wir begleiten dich“, sagte Ben Brighton.
Hasard schüttelte den Kopf. „Der Tiger erwartet mich allein, ohne Schutzengel. Den Gefallen tue ich ihm.“
„Hasard!“ rief Dan O’Flynn. „Du gehst freiwillig in Teufels Küche. Der Malaie wird sich freuen, dir den Hals umdrehen zu können.“
„Das tut er nicht.“
„Wer garantiert dafür?“
„Keiner, aber ich halte ihn für fair.“
„Was, zum Teufel, will der Kerl von dir?“ fragte Big Old Shane.
„Das erfahren wir bald“, sagte Hasard lächelnd. „Männer, fiert ein Boot ab, ich setze zu dem Praho über. Und noch etwas. Ihr wartet hier, bis ich zurück bin. Ihr rührt euch nicht vom Fleck, es sei denn, ihr hört Schüsse fallen. Mister Brighton, das ist ein Befehl.“
„Aye, aye, Sir“, sagte Ben widerwillig.
Nördlich der Insel Rempang fand das denkwürdige Treffen statt. Hasard durfte sich an Bord des zweimastigen Prahos frei bewegen. Er stand auf dem Vordeck und hielt die Arme vor der Brust verschränkt, als sie hoch am Wind auf den Verband des Tigers von Malakka zurauschten.
Die „Isabella VIII.“ und auch das Beiboot, auf dem Hasard übergesetzt hatte, waren ein paar Meilen achteraus zurückgeblieben. Jetzt schob sich die Inselküste zwischen beide Parteien, so daß der Seewolf sein Schiff nicht mehr sehen konnte.
Elf Schiffe warteten. Nur drei waren kleiner als der Zweimaster, auf dem Hasard fuhr, und sie führten nur jeweils einen Mast. Die anderen überragten das Schiff der Unterhändler um einiges. Der größte Segler schließlich hob sich hervor wie ein Schwan in einer Entenkolonie. Er war ein Dreimaster, dessen Segelfläche der Seewolf angesichts der langen Gaffelruten als sehr groß einschätzte, obwohl die Segel aufgegeit waren.
Der Dreimaster führte keine Ausleger, und ihm fehlte auch die einfache Hütte mittschiffs, die die Malaien Attap zu nennen pflegten. Statt dessen hatte er eine niedrige Poop und ein Vorkastell wie die Galeonen und Karavellen.
Der Zweimaster ging bei dem Dreimaster längsseits, und wenig später konnte der Seewolf auf das größere Schiff überentern. Auf der Kuhl erkannte er einige der Malaien, Bataks und Atjehs wieder, die zu der Begleiterschar des Tigers zählten. Auch die Gesichter der einfacher, weniger bunt und abenteuerlich gekleideten Männer und Frauen vor der Back waren ihm nicht neu – Eingeborene des von den Spaniern überfallenen Dorfes.
Auf dem Achterdeck schließlich erwarteten der Tiger, Otonedju und die Tochter des Stammesältesten den Seewolf. Beim Voranschreiten fragte Hasard sich unwillkürlich, wie Otonedju eine so junge Tochter haben konnte. Aber dann führte er sich vor Augen, daß bei manchen Inselvölkern die Polygamie vorherrschte und daß der alte Mann durchaus eine viel jüngere Frau geehelicht haben konnte.
Hasard betrat das Achterdeck.
Der Tiger, das sah er sofort, hatte noch immer seine doppelläufige sächsische Reiterpistole im Leibgurt stecken.
„Ich grüße dich, Seewolf“, sagte der Tiger.
Hasard blieb stehen und lächelte knapp. „So treffen wir also doch noch zusammen. Wo liegt dein Versteck? Auf einer der nördlichen Nachbarinseln von Rempang? Du brauchst es mir nicht zu verraten. Ich nehme aber an, deine Späher haben meine Galeone entdeckt, und daraufhin hast du beschlossen, dich, wenn schon, auf offener See mit mir zu treffen.“
Wider Erwarten blieb der Tiger gelassen.
„Das ist im Prinzip richtig“, erwiderte er in seinem nahezu akzentfreien Spanisch. „Natürlich kann ich dich nicht in meinem Schlupfwinkel empfangen, damit hätte ich dir meinen geheimen Aufenthaltsort verraten, bevor ich dich genau geprüft habe.“
„Ah! Und was gibt mir die Ehre, von dir empfangen zu werden?“
„Du hast uns gesucht.“
„Ja, denn ich will nicht auf mir sitzen lassen, was du mir vorwirfst. Der Überfall der vier Spanier auf der Insel war nicht fingiert. Sie waren die letzten Versprengten ihres Haufens, und wir haben zäh mit ihnen ringen und fechten müssen, bis …“