Seewölfe Paket 7

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„Das Mädchen Yaira hat gesehen, wie zwei dieser Kerle gefallen sind“, erwiderte der Tiger. Er legte der Häuptlingstochter die Hand auf die Schulter, und Yaira wurde sichtlich verlegen. „Sie hat es mir gesagt, als wir schon auf den Schiffen waren. Ich habe daraufhin über dich nachgedacht, Seewolf – und gewartet. Ich wußte, daß du auftauchen würdest.“
„Gib mir meine Waffe zurück.“
„Erst wenn ich völlig von deiner Ehrlichkeit überzeugt bin.“
„Was muß ich denn noch tun, um dein Vertrauen zu gewinnen?“
„Ich werte es hoch, daß du allein erschienen bist“, sagte der Tiger von Malakka. „Aber versuche, mich zu verstehen. Ich bin oft hintergangen worden. Meine eigenen Landsleute haben mich verraten, verkauft, geschlagen, den Spaniern überantwortet. Siabu, der Batak, war einer von ihnen. Er gab dem Kommandanten des Verbandes den Hinweis, ich könnte auf Otonedjus Insel Zuflucht gesucht haben.“
Hasard beobachtete ihn unentwegt, keine Regung im Gesicht des Piratenführers entging ihm. „Das begreife ich durchaus. Mir ist es in meiner Heimat ähnlich ergangen – England übrigens, nicht Spanien.“
„Ich hasse die Spanier, was ich von den Engländern halten soll, weiß ich nicht.“
„Wie kann ich dir die Gelegenheit dazu geben, mehr über unsere Zielsetzung zu erfahren?“ fragte Hasard.
Die Züge des Tigers verhärteten sich. „Du gibst vor, unser Freund zu sein. Das mußt du unter Beweis stellen. Wenn dein Herz wirklich für uns schlägt, gehst du allein auf die Insel zurück – Rempang. Kein Mann hat bisher seinen Fuß auf dieses Stück Land gesetzt, ohne dem Tiger zu begegnen. Ich spreche jetzt von Bulbas, dem grausamen Einzelgänger und Amokläufer.“
„Hast du die Explosion gehört? Wir haben ihn durch eine Pulverladung verscheuchen müssen.“
„Der Amokläufer wird dich deswegen hassen. Noch einmal läßt er dich nicht entwischen.“
Amok – dieses Wort stammte aus dem Malaiischen und bedeutete soviel wie „Raserei“. Diese und einige andere Vokabeln hatte der Seewolf während seiner Fahrten zwischen dem Reich der Mitte und den vielen Inseln dieses Erdteils erlernt, es waren aber nicht viele.
„Nicht alle Tiger hassen die Menschen“, entgegnete Hasard.
„Bulbas wurde vor einigen Jahren von Spaniern angeschossen.“
„Du auch?“
„Suche nicht nach der Gleichheit der Begebenheiten, es lohnt sich nicht“, erwiderte der schwarzbärtige Mann, und seine Miene wurde noch finsterer. „Hör mir nur zu. Die Spanier betreten Rempang nicht mehr, sie haben Angst und wissen dem Tiger nicht beizukommen. Meine Männer und ich, wir haben Bulbas’ Reich bisher auch gemieden, weil wir den Tiger als unser Kampf symbol achten und verehren. Doch vorletzte Nacht hat sich etwas Unvorhergesehenes ergeben, wie ich leider erst heute mittag erfahren habe.“
Er klatschte in die Hände. Die Decksleute entließen daraufhin einen hageren Mann aus ihren Reihen, den Hasard zuvor noch nicht gesehen hatte. Etwas geduckt enterte dieser Malaie das Achterdeck. Hasard hob die Augenbrauen, als er die kaum verheilten Wunden auf seinem nackten Oberkörper sah.
„Ein kleiner Stamm wie der von Otonedju wurde vor zwei Tagen von einer Insel vertrieben – von den Spaniern“, erklärte der Tiger. „Das Gros der Männer, Frauen und Kinder floh mit Auslegerbooten. Unwissend der Tatsache, daß Bulbas auf Rempang haust, landeten sie auf der Insel. Sie wollten sich eine neue Existenz aufbauen. Bulbas hielt grausige Mahlzeit. Dieser Mann entkam schwimmend ins Meer, wir fischten ihn auf.“
Hasard sah wieder auf den mageren Malaien, der ein paar Worte ausstieß und unverständliche Gesten beschrieb.
„Seine Brüder und Schwestern sind nicht alle gerissen worden“, erläuterte der Tiger von Malakka ernst. „Rund zwei Dutzend sind nach seiner Darstellung in die Berge geflüchtet und haben vielleicht irgendwo in Erdlöchern Unterschlupf gefunden. Bulbas umschleicht sie und wird auch sie aufstöbern. Du und deine Männer habt ihn gestört, aber jetzt nimmt er die Jagd wieder auf.“
„Und du willst, daß ich eine Mutprobe ablege?“
„Wenn du ein aufrichtiger Freund der Malaien bist, kehrst du auf die Pulau Rempang zurück und hilfst den wehrlosen Menschen aus der Klemme. Allein.“
„Ist es das, was du plantest?“
„Ja. Deswegen sind wir hier.“
Hasard blickte zu Otonedju und Yaira. Sie verstanden kein Wort Spanisch, aber der Inhalt dessen, was der Tiger von Malakka gesagt hatte, war ihnen bewußt. Ihre Gesichter waren von tiefem Ernst gezeichnet.
„Ich versuche es“, sagte der Seewolf. „Aber ich werde alles tun, um Bulbas nicht zu töten.“
Vor Anbruch der Dunkelheit kehrte Hasard mit einer Jolle in den schmalen Flußlauf der Insel zurück – allein. Der Verband von zwölf Piratenschiffen hatte sich zur „Isabella“ gesellt, unter dem heiligen Versprechen des Tigers von Malakka, sich völlig neutral und friedfertig zu verhalten.
Hasard glaubte fest daran, sich auf das Wort des Tigers verlassen zu können.
Und nun zu dir, Bulbas, dachte er, während er mit dem Boot an derselben Stelle landete wie wenige Stunden zuvor.
Der Tiger war unendlich gerissen, das hatte der malaiische Freibeuter dem Seewolf versichert, das hatte Hasard auch schon selbst festgestellt.
Statt ihn, Carberry und die vier anderen anzugreifen, hatte er sich an Jeff Bowie herangepirscht, um diesen als ersten zu zerfetzen. Und was die völlig verstörten und zutiefst eingeschüchterten Eingeborenen betraf, die irgendwo im Inselinnern hockten, so hatte er ihnen nicht nur die Boote zerstört, er schnitt ihnen auch fortwährend jeden Fluchtweg ab.
Dies alles tat Bulbas, der Amokläufer, aus abgrundtiefem Haß gegen die Menschen. Würde er sich nie ändern? Es gab keine Hoffnung, aber Hasard widerstrebte es dennoch, ihn zur Strecke zu bringen.
Zum Teufel mit der Überheblichkeit, dachte er, wie leicht kann er dich erledigen!
Hatten die auf der Insel Eingeschlossenen das Erscheinen der Schiffe verfolgen können? Hofften sie auf Rettung? Zumindest hatten sie das Detonieren der Höllenflasche vernommen. Würden die Krieger sich vorwagen, bis zum Südufer hinunter, um auf sich aufmerksam zu machen und um Rettung zu flehen?
Bulbas lauerte ihnen auf.
Diese Erwägung trieb den Seewolf voran. Nicht weit von seinem Landeplatz entfernt hörte er auf, mit dem Cutlass auf das Dickicht einzuhauen. Er hatte seinen Pfad weit genug getrieben und suchte sich einen mächtigen Baum aus, den er hochklimmen konnte.
Der Flußlauf befand sich unweit des Baumriesen. Er hatte sich an dieser Stelle zu einem verhalten dahingurgelnden Bach verengt. Das Gewässer nahm einen wesentlichen Teil in Hasards Planung ein.
Bevor er den Baum erkletterte, löste er die Taurollen, die er sich über eine Schulter geschlungen hatte. Zu beiden Seiten des Baches legte er Schlingen, die er sorgfältig knotete und nach einem ausgeklügelten System oben mit den tiefsten Baumästen verband. Nachdem er sie getarnt hatte, daß sie wie Lianen anmuteten, setzte er mit einem Sprung wieder auf das andere Bachufer zurück und kletterte in den Baum hinauf.
Die ganze Zeit über hatte er höllisch aufgepaßt, nicht von dem vierbeinigen Mörder überrascht zu werden. Aber Bulbas zeigte sich nicht. Hatte er den Feind noch nicht bemerkt? Hasard gab sich keinen Illusionen hin. Bulbas hatte seine Landung verfolgt, aus irgendeinem Versteck heraus. Er wußte, wohin sich der Feind gewandt hatte und wartete nur noch den günstigsten Zeitpunkt ab, um über ihn herzufallen, ohne eine donnernde Flasche zwischen die Läufe zu erhalten.
Die Nacht also.
Hasard kniete auf einer Gabelung, die genügend Platz bot, um es Stunden, vielleicht die ganze Nacht, auf dem luftigen Posten auszuhalten. Zwei Waffen hatte er mitgenommen: den Radschloß-Drehling und Batutis Pfeil und Bogen. Die Pfeile im Köcher waren in einer intensiven Zusammenarbeit des Kutschers und des Gambia-Mannes mit einer Substanz versehen worden, die sich beim Eindringen in den Körper eines Opfers sofort ausbreitete und in den Blutkreislauf floß.
Hasard vertraute auf dieses Wundermittel.
Die Nacht tauchte die Insel Rempang nahezu übergangslos in Finsternis. Die Umgebung des Seewolfs erwachte zu allerlei Aktivitäten. Zikaden zirpten, Frösche quakten, Nachtvögel stimmten ihr Konzert an, große Insekten summten vorbei. Es riß nicht ab.
Einmal vernahm Hasard ein Grollen wie aus weiter Ferne. Bulbas hatte sein Nahen angekündigt. Er würde sich nicht wieder melden.
Hasard packte den Radschloß-Drehling unwillkürlich fester. Sechs Schuß steckten in der Trommel, aber würden sie reichen, wenn der Tiger ihn überlistete? An den Bogen und die Pfeile war in jenem Fall überhaupt nicht mehr zu denken. Hasard fragte sich, ob er nicht zu leichtsinnig gehandelt hatte, als er es abgelehnt hatte, auch Höllenflaschen aus der Werkstatt Ferris Tuckers mitzunehmen. War das nicht wieder zu großes Selbstvertrauen gewesen? Im äußersten Notfall hatte er keine Chance, sich den Mörder fernzuhalten. Sechs Schüsse konnten genug sein, um Bulbas zu fällen, oder aber der Tiger verdaute sie, ohne ernsthaft in seinen Bewegungen behindert zu werden.
Es kam aufs richtige Zielen an.
Aber im Dunkeln ließ es sich schlecht zielen.
Ein feines Knacken im dichten Unterholz – und Hasard wußte, daß der Tiger zur Stelle war. Sehen konnte er ihn immer noch nicht. Wäre es nicht vorteilhaft gewesen, chinesischen Schnee von der „Isabella“ mitzubringen? Oder vielleicht einen Brandsatz? Hasard hätte die Umgebung in gleißendes Licht tauchen können, Bulbas wäre geblendet und verwirrt gewesen.
Das war es eben. Auch hier galt das Gebot der Fairneß. Bei allem Selbsterhaltungstrieb wollte der Seewolf dem Todfeind eine reelle Chance lassen, sich gegen ihn zu behaupten.
Bulbas zeigte sich völlig überraschend.
Sein Grollen flog auf den Baum zu. Hasard sah den mächtigen Leib, schwarz, braun und weiß gestreift. Bulbas mußte einen Nachbarbaum erklommen haben, nur so hatte er den Schlingen entgehen können.
Auf allen vieren landete er auf dem Ast, der von Hasards Gabel fortstrebte. Der Ast schwang bedenklich auf und ab, Hasard verlor fast den Halt. Er kämpfte um sein Gleichgewicht.
Bulbas fauchte, brüllte und glitt auf ihn zu. Er war ein zähnefletschender, krallenbewehrter Kämpfer, der auch dem hartgesottensten Mann das Fürchten beibrachte.
Schießen? Hasard besann sich auf seinen Plan. Er wich ein Stück zurück und ließ sich dann aus der Gabel zu Boden fallen. Gleichzeitig griff er nach dem Bogen und ließ den Radschloß-Drehling am Lederriemen herabbaumeln. Er landete, fing den Aufprall in den Kniekehlen ab und zog einen Pfeil aus dem Köcher.
Warum, dachte er, warum hast du das nicht eher getan?
Bulbas war grollend über ihm und schickte sich an, herabzuspringen und ihn unter seinem Gewicht, seinen scharfen Krallen zu begraben.
Hasard bewegte sich rückwärts und mußte aufpassen, nicht in die Schlinge zu geraten. Er legte den Pfeil auf die Bogensehne, spannte und schoß – der Pfeil zischte über Bulbas weg.
Der Tiger brüllte auf, Haß loderte in seinen gelben Lichtern. Er duckte sich sprungbereit. Hasard taxierte die Distanzen, drehte sich halb und sprang über den Bachlauf.
Bulbas sank aus dem Baum aufs Ufer, sein Aufsetzen geschah nahezu lautlos. Er schob sich auf den Menschen zu, flach, die Muskeln gespannt.
Dann spürte er die Nähe des Wassers und verhielt.
Hasard hatte einen zweiten Pfeil aufgelegt und ließ ihn schwirren. Die Spitze bohrte sich in Bulbas’ Schulterfleisch und hatte genug Schwung und Druck, sein Fell zu durchdringen. Grausig klang das Brüllen des Tieres in Hasards Ohren.
Bulbas flog über den Bachlauf, und nur ein gewaltiger Sprung zurück ins Dickicht rettete den Seewolf. Er fiel, rappelte sich wieder auf und nahm mit fliegenden Fingern einen dritten Pfeil.
Bulbas, der Mörder, der Amokläufer, schlich auf ihn zu.
Dann aber verfing er sich in der Schlinge.
Hasard nutzte seine Verwirrung, um den dritten Pfeil in seinen Hals zu schießen. Im nächsten Augenblick mußte er wieder ausweichen und zurückspringen, denn der Tiger wollte sich blind vor Zorn auf ihn werfen.
Eine Wurzel stoppte Hasard. Er strauchelte und fiel auf den Rücken. Der heiße, beißende Atem der Bestie war vor ihm. Eine Pranke raste auf ihn nieder und traf seine rechte Schulter. Siedender Schmerz durchzuckte den Körper des Seewolfs.
Es ist aus, dachte er, diesmal ist es wirklich aus.
Aber Bulbas konnte nicht mehr weiter. Die Schlinge hatte sich zusammengezogen und hielt seine Hinterläufe fest. Zwei Pfeile steckten in ihm, das Betäubungsmittel wirkte jetzt. Lasch setzte er seine Pranke auf den Boden und ließ ein langgezogenes Stöhnen ertönen. Dann sank er auf die Seite. Seine Läufe regten sich noch träge, aber dann hörte auch das auf.
Hasard blutete, war zerschunden und mit Schmutz besudelt. Aber die Verzweiflung glitt von ihm ab. Er sprang auf und stieß den alten Kampf- und Siegesschrei der Seewölfe aus.
„Arwenack! Ho, Ar-we-nack!“

1.
Rasch und unregelmäßig, fast fliegend ging der Atem des jungen Kriegers. Immer wieder verhielt er und lauschte in den nächtlichen Dschungel. Mangrovenblätter umschlossen schwer und ledrig seine Gestalt, als wollten sie ihn niederringen und erwürgen.
Geräuschvolle Aktivitäten belebten den Regenwald von Rempang, aber es war nicht das Zirpen und Quaken, das Schlagen der Nachtvögel, das Rascheln und Knacken, das den Inselmalaien beunruhigte.
Der Tod nahte schleichend, lautlos.
Mannigfache Gefahren lauerten in dem erstickenden Wildwuchs der feuchten, schwartigen Pflanzen, aber nur die eine fürchteten die Orang Laut, die Seemenschen, wirklich. Sie ließ jegliche andere Bedrohung neben sich verblassen, jede Giftschlange, jeden angriffslustigen Affen, jeden Stich, jede Krankheit, von Insekten oder von bösen Geistern übertragen.
Bulbas, der Einzelgänger. Bulbas, der größte und am schönsten gezeichnete Tiger, den es auf Inselindien je gegeben hatte, war der unumschränkte Herrscher des Urwalds.
Legenden wurden über ihn erzählt, schaurige Geschichten, doch die Orang Laut hatten, als sie vor den Spaniern geflüchtet waren, nicht geahnt, daß der Amokläufer ausgerechnet auf dieser Insel anzutreffen war. Als sie ihm dann begegnet waren, tief im Dschungel, hatte der Tiger vier von ihnen gerissen. Einem fünften Mann war trotz seiner Verletzungen die Flucht zum Wasser gelungen, den anderen jedoch hatte Bulbas den Weg zurück zu den Prahos abgeschnitten – Männer, Frauen, Kindern.
Halb wahnsinnig vor Angst hatten sie Zuflucht in Höhlen und Erdlöchern der höhergelegenen Inselregion gesucht.
Der junge Krieger packte seine Waffen fester. In der linken Hand hielt er den Kris, den schlangenförmig gewundenen Krummdolch der Malaien. Die Finger der Rechten umspannten das Heft eines mit Akribie scharfgeschliffenen Parangs, eines Kurzschwerts, dessen Klinge sich nach vorn leicht verbreiterte.
Mit beiden Waffen konnte der Eingeborene ausgezeichnet umgehen, aber er wußte wie seine Stammesbrüder, daß Kris und Parang im Kampf gegen den Tiger ebenso lächerlicheVerteidigungsmittel waren wie Speer, Pfeil und Bogen oder Blasrohr. Bulbas war so schnell, so gewandt, daß es bisher niemandem gelungen war, ihm etwa einen giftigen Pfeil unter das Fell zu jagen.
Der junge Mann pirschte weiter.
Überall konnte Bulbas lauern. Vielleicht befand er sich bereits ganz dicht hinter seinem Widersacher. Oder duckte er sich hier, linker Hand, sprungbereit im Gebüsch? Und rechts? Konnte er nicht auch rechts sein und das dolchscharfe, nadelspitze Gebiß mordgierig entblößen, die krallenbewehrten Pranken heben?
Kurz zuvor glaubte der Krieger jenes unheimliche Grollen vernommen zu haben, das Bulbas’ Kommen ankündigte.
Schweiß bedeckte das Gesicht und den Körper des jungen Orang Laut, und er ertappte sich dabei, wie er zitterte.
Ja, er hatte Angst.
Sie wurde von der Gewißheit genährt, diesem mächtigen Gegner von vornherein unterlegen zu sein. Freiwillig hatte der Krieger sich gemeldet, aber in diesem Augenblick erschrak er vor dem eigenen Mut. Doch er bezwang seine aufsteigende Panik. Die Wassernomaden, sein Stamm, hatten ihn als Retter in der Not vorgeschickt, sie warteten darauf, daß er sich auf ein mörderisches Duell mit Bulbas einließ.
Als menschlicher Köder sollte der junge Mann die Aufmerksamkeit des Tigers auf sich lenken, während die Brüder und Schwestern des Stammes den Durchbruch zur See wagten. Dort unten, im Süden von Rempang, hatten sie am späten Nachmittag Schiffe gesichtet, große und kleine Prahos sowie einen stolzen Dreimaster in der Konstruktionsart der weißen Männer, die die Malaien wie den Tod haßten. Die Prahos schienen jedoch das Geschehen zu bestimmen, und so hatte der Häuptling der Orang Laut befunden, daß man von diesen Ankömmlingen Hilfe erhoffen könne.
So schnell wie möglich wollten sie ans Ufer stürzen und zu den Schiffen schwimmen.
Im Interesse der Gemeinschaft konnten sie sich dabei um den jungen Krieger nicht mehr kümmern. Er mußte fallen, wenn die anderen leben sollten.
Ein Opfer war nötig.
Der junge Mann hatte die Niederungen der Insel erreicht und strebte durch Sumpfgesträuch voran, als ihn ein Laut zusammenfahren und erneut verharren ließ. Dieser Ton gehörte nicht zu den Geräuschen der Fauna des Regenwaldes, er schälte sich kraß aus dem nächtlichen Konzert und schwebte durchdringend und beherrschend über der Szene. Nein, das war kein Orang-Utan, kein behaarter Waldmensch, der dort rief – das konnte nur ein richtiger Mensch sein.
Sein Ruf erklang in einer Sprache, die der junge Krieger niemals zuvor vernommen hatte, auch aus dem Mund der Spanier nicht.
„Arwenack!“
Dennoch glaubte der Eingeborene etwas zu begreifen, denn keine Verzweiflung, sondern eindeutiger Triumph schwang in dieser fremden Stimme.
Der Krieger besiegte sein Mißtrauen, die Zuversicht, in der feindlichen Umgebung einen Bundesgenossen und Mitstreiter zu finden, war größer als jeder Argwohn. Selbst wenn dieser Mann dort ein verhaßter Weißer war, würde die allgegenwärtige Gefahr des Tigers sie eine Art Burgfrieden schließen lassen.
„Ar-we-nack!“
Wieder gellte der Schrei, und der Malaie beschleunigte seinen Schritt. Mit der scharfen Schneide des Parangs drosch er widerspenstiges Blatt- und Zweigwerk nieder und schuf sich immer wieder einen Durchlaß, eine Bresche, die ihn näher an den nächtlichen Rufer heranführte. Dann endlich teilte er den letzten Vorhang, der sie beide trennte, und blickte auf einen schmalen Wasserlauf.
Mit verhaltenem Gurgeln bewegte sich das Wasser des Flüßchens dahin. Ein bleicher Mond schickte sein Licht in Streifen in die Selvas, gerade so viel, daß der Malaie Einzelheiten erkennen konnte.
Ein großer Mann stand hochaufgerichtet am diesseitigen Ufer des Flüßchens. Sein schwarzer Haarschopf war wild zerzaust, seine Kleidung zerrissen und blutig, sein Körper schmutzig und von einer erschreckenden Wunde an der rechten Schulter gezeichnet. Sein Zustand hinderte ihn aber nicht daran, immer wieder zu lachen und dieses Wort auszustoßen, das ein Schlacht- und Siegesruf zu sein schien:
„Arwenack, ho, Arwenack! Kommt, Freunde, auf was wartet ihr noch? Ich habe den Bruder in der Falle, er kann uns nicht mehr gefährlich werden!“
Der Malaie gewahrte, was zu den Füßen dieses schwarzhaarigen Teufels in Menschengestalt lag – und erstarrte.
Er bemerkte nicht, wie Philip Hasard Killigrews Blick ihn traf und abtastete.
Der junge Krieger war viel zu gebannt, er befand sich in einem beinah tranceartigen Zustand der Benommenheit. Dort – kaum zu glauben – lag Bulbas, der Mörder, der Menschenfresser, und es steckten nicht nur zwei Pfeile in seinem Fell, seine Hinterläufe wurden auch durch ein dickes Tau zusammengehalten. Die Tauschlinge saß stramm, das helle, gut sichtbare Band führte zu einem tiefhängenden Ast jenes Baumes hinauf, dessen Stamm vom anderen Ufer emporstrebte, und war dort verknotet.
Wäre Bulbas nicht betäubt gewesen – er wäre dennoch besiegt gewesen, denn die Fessel erlaubte ihm kein Fortkommen mehr. Er hätte nur noch höchst schimpflich auf den Vorderläufen herumhüpfen können, wäre dabei jedoch erheblich durch das Tau behindert und wahrscheinlich in das Wasser gezerrt worden, das er so sehr haßte und mied.
Die verkrampfte Haltung des Malaien lockerte sich ein wenig. Sein Blick wanderte höher und blieb auf dem freundlichen Gesicht des Seewolfs ruhen. Allmählich nahm ein Lächeln auf den Zügen des Kriegers Gestalt an.
Hasard bedeutete ihm durch Zeichen, er solle nähertreten.
„Die Gefahr ist gebannt“, sagte er dabei, obwohl er keine Hoffnung hatte, daß der Inselmalaie ihn verstand. „Bulbas wird keine Menschen mehr reißen. Ein anderer Tiger nimmt nun die Insel Rempang in seinen Besitz – ein zweibeiniger.“
Hasard grinste, weil er sich in etwa vorstellen konnte, welche Bedeutung Rempang von nun an für den „Tiger von Malakka“ hatte.
Arwenack – der Kampfruf der Seewölfe war bis zu dem wartenden Schiffsverband hin zu vernehmen gewesen. Ben Brighton hatte beim erstenmal noch eine besorgte Miene geschnitten, weil er angenommen hatte, daß Hasard sich mit dem Schrei in den Zweikampf mit Bulbas gestürzt hatte. Dann aber war der Ruf zum zweiten, dritten Male herübergedrungen, und alle Männer der „Isabella VIII.“ hatten ihn eindeutig als Triumph auszulegen gewußt.
Sie jubelten, fierten auf Bens Befehl hin die Boote ab und enterten auf den hölzernen Sprossen der Jakobsleitern ab.
„Nichts wie hin!“ brüllte Carberry. „Los, ich kenne die Richtung, wir müssen in die versteckte Mündung des kleinen Flusses eindringen, und von dort aus haben wir’s nicht mehr weit bis zu Hasard. Hey, ich hab’s ja gewußt, daß er es schafft, diesem gestreiften Kater das Fell über die Ohren zu ziehen!“
Ferris Tucker ließ sich neben ihm auf einer Bootsducht nieder. „Ed, hör auf“, entgegnete er. „Du warst genauso skeptisch wie wir alle. Du wolltest nicht, daß Hasard allein zum Verband des ‚Tigers von Malakka‘ fuhr, du warst auch dagegen, daß er diese Mutprobe auf sich nahm. Habe ich recht?“
„Meinetwegen. Aber das können wir jetzt vergessen.“ Der Profos wartete, bis die Bootsbesatzung komplett war, dann drückte er seine Fäuste gegen die Bordwand der Galeone und sorgte dafür, daß die Distanz groß genug wurde, um die Steuerbordriemen bedienen zu können. „Ferris“, brummte er. „Hast du ein paar Höllenflaschen mitgenommen?“
„Nein, diesmal nicht.“
„Verdammter Klamphauer, man weiß nie, wozu die Dinger gut sind …“
„Hasard hat es uns untersagt, irgendwelche Waffen mitzuführen, falls wir übersetzen.“
„Das muß ein weiterer Beweis für den ‚Tiger‘ sein, daß unsere Absichten friedlich sind“, mischte sich jetzt der junge O’Flynn ein.
Carberry antwortete mit einer wegwerfenden Geste. „Zum Teufel mit der ganzen Fairneß. Ich weiß nicht, was wir dem Himmelhund noch alles beweisen sollen. Meiner Meinung nach haben wir bereits viel zuviel getan, und er wird uns bei nächster Gelegenheit zum Dank eine volle Breitseite auf die Jacke husten. Dann sieht wohl auch der Seewolf ein, daß die Verbrüderungs- und Verbündungsversuche keinen Zweck haben.“
Ben Brighton hatte sich im Nachbarboot aufgerichtet, weil auf dem Achterdeck des größten, dreimastigen Prahos, den sie gerade passieren wollten, die Gestalt des „Tigers“ hinter dem Schanzkleid hochgewachsen war.
„Ihr landet auf der Insel?“ rief der schwarzbärtige Mann in seinem hervorragenden, reinen Kastilisch. „Das war nicht verabredet.“
„Hast du die Rufe unseres Kapitäns nicht gehört?“ rief Ben zurück.
„Doch. Arwenack.“
„Willst du mir erzählen, du wüßtest nicht, was das bedeutet?“
„Ich habe das Wort Arwenack heute nacht zum erstenmal in meinem Leben vernommen“, verkündete der Malaie halsstarrig.
Und Ben antwortete um eine Spur energischer: „Arwenack ist die alte Stammfeste der Killigrews über dem Hafen von Falmouth. Von daher leitet sich unser Schlacht- und Siegesruf ab. Arwenack!“
„Arwenack!“ brüllten die Männer in den Booten. Sie verspürten den unbändigen Drang, sich auf irgendeine Weise Luft zu verschaffen, und es juckte ihnen in den Fäusten.