Seewölfe Paket 7

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Der Nebel legte sich jedoch in noch dichteren Schwaden über die Bengkalis-Bucht, griff auch nach der Siedlung und dem Hafen und ließ am Nachmittag jeden Versuch, den Schatz der „Santa Trinidad“ zu heben, scheitern. Ja, eins der Boote, das sich durch die milchigen Schleier dem Korallenriff näherte, lief sogar auf und mußte geborgen werden, wobei fast ein zweites Unglück passierte.
Entmutigt kehrten Lozano, Escribano und die anderen Spanier in den Hafen zurück. Trotz do Velhos neuerlichen Drängens gab Lozano aber nicht nach. Er lehnte es ab, die Karavellen dem Kommando des Portugiesen zu unterstellen. Do Velho drohte Konsequenzen an, aber Lozano verwies auf den Nebel, der jedes Seeunternehmen verbot.
Sotoro kam unterdessen auch im Kerker nicht wieder zu sich.
Ein Arzt bemühte sich, den Malaien wieder auf die Beine zu bringen, aber auch, als er den Blutfluß zum Stillstand gebracht hatte, fruchteten seine weiteren Bestrebungen nichts.
Der Stadtkommandant und der Hafenkapitän ließen in do Velhos Beisein und in Gegenwart aller anderen Offiziere die vier Kameraden des Tigers vernehmen. Das einzige, was Uwak, der Atjeh, aus ihrem Munde vernahm, war, daß sich Seewölfe wie malaiische Rebellen in der Vornacht in die Bucht von Rempang verholt hätten, um vor dem Sturm sicher zu sein. Hier waren sie von dem Tiger Bulbas bedroht worden, der jedem Menschen Angst einjagte und durch keine List zu erlegen war. Daher hätten sie statt an Land auf den Schiffen nächtigen müssen.
Bei allen rauhen Methoden, die die Spanier anwendeten – mehr holten sie aus den Malaien, eingeschworenen Blutsbrüdern einer alles überlagernden Idee, nicht heraus.
7.
Am späten Nachmittag schob sich ein einmastiger, schmaler Praho mit nur einem Ausleger den Selat Pandjang hinauf, jenem Meeresarm, der von Süden her auf die langgestreckte Bengkalis-Bucht zu verlief. An Bord befanden sich Hasard und Dan O’Flynn, als Eingeborene verkleidet, sowie Yaira, die sich in Männerkleidung gehüllt hatte, Kutabaru, der Häuptling der Orang Laut, und Tiku – so hieß der Unterführer Sotoros, mit dem der Seewolf sich auf spanisch verständigen konnte.
Wie vereinbart, hatten die Prahos die „Isabella“ am Frühnachmittag in der Bucht des Nordwestufers der Insel Rangsang eingeholt. Nur sechs schwer bewaffnete Bewacher waren auf Rempang bei Bulbas zurückgeblieben, alle anderen schlossen sich dem Seewolf an.
Nach kurzer Beratung hatte es auch für die Freibeuter Sotoros, für Otonedjus Stammesangehörige und für die Wassernomaden festgestanden, daß Sotoro und die anderen vier Rebellen nach Bengkalis verschleppt worden waren.
Hasard hatte den Plan entwickelt, alle hatten zugestimmt.
Dan hatte er auf dessen Drängen hin auch in die Verkleidung eines Bataks steigen lassen, Yaira jedoch hatte der Seewolf nicht mitnehmen wollen. Doch das Mädchen hatte Hasard erklärt, daß sie nach den Gesetzen ihres Stammes persönlich für die Befreiung des Mannes, den sie liebe, sorgen müsse.
Nach einigem Hin und Her hatte Hasard nachgegeben, obwohl er immer noch davon überzeugt war, daß es zu riskant für das Mädchen war, mit nach Bengkalis zu fahren.
Tikus Ortskenntnisse waren hervorragend. Besser als jeder Atjeh, Kubu, Weddide oder Mann von der Halbinsel Malakka wußte er auf der Insel Sumatra Bescheid, denn er stammte aus dieser Gegend. So führte er den Praho sicher in ein dichtes Mangrovendickicht nur wenige Meilen östlich der spanischen Siedlung – trotz des Nebels, der wie eine breiige Masse immer tiefer auf das Wasser des Selat Pandjang herabsackte und auch den Utan, den Regenwald, einhüllte.
Unbeirrt ließ Tiku den Praho ins Gestrüpp schlüpfen und lenkte ihn noch ein Stück auf einem Wasserarm voran, der so schmal war, daß der Ausleger und die freie Rumpfseite die Ufer ständig zu berühren drohten.
Dann gab Tiku seinen vier Begleitern ein Zeichen. Sie verließen den Praho, vertäuten ihn und tarnten ihr Fahrzeug mit Mangroven, Bambus und den riesigen Blüten der Raflesia, einer Dschungelblume.
Auch der beste Fährtenleser konnte den Praho jetzt nicht mehr entdekken.
Unbemerkt konnten die fünf sich nun an die Ortschaft heranschleichen. Bengkalis war keine festungsgleich angelegte Stadt wie Manila. Die Anordnung der Häuser, die Hasard in der nebeldurchsetzten Dämmerung erkannte, erinnerte ihn eher an Porto Bello, die spanische Niederlassung auf dem Isthmus von Panama.
Es war also kein Kunststück, sich bis in das Herz der Siedlung zu schleichen. Tiku und Kutabaru benötigten keinerlei Tarnung, sie fielen in ihrem Aufzug nicht weiter auf und riefen unter der bunt zusammengewürfelten Bevölkerung aus Eingeborenen und Spaniern keinen Argwohn hervor.
Yaira hatte ihre Haare hochgesteckt und unter einer Kopfbedekkung aus rotem, von hellen Fäden durchwirktem Tuch verborgen. Sie sah in ihrer Männerkleidung wie ein Junge aus, ein Umstand, der Hasard in gewisser Weise an die Erlebnisse mit dem chinesischen Mädchen Ch’ing-chao Li-Hsia“, „Flüssiges Licht im beginnenden Sommer“, erinnerte.
Hasard und Dan hatten sich mit der einfachen, groben Kleidung der Fischer von Sumatra angetan. Auf den Köpfen trugen sie eine Art Mischung aus Hut und Mütze, ein Zwischending, das keiner genau zu definieren vermochte. Es war ganz aus hartem Stroh geflochten und ließ sich – was der wesentliche Vorteil war – tief in die Stirn ziehen.
Als die Nacht sich von See her in die Siedlung schlich und im Verbund mit dem Nebel eine kaum durchdringbare Sphäre bildete, hatten die fünf den Hafen erreicht und sahen die Viermast-Galeone „Candia“ an der Pier liegen.
Sie registrierten des weiteren, daß auf der Reede ein paar Segelschiffe an ihren Ankerketten schwojten. Wie viele und welche Art von Fahrzeugen, das ließ sich in der schwärzlichen, nur hier und dort von Lichttupfern durchsetzten Nebelsuppe jedoch nicht erkennen.
Tiku sonderte sich für eine Weile von der Gruppe ab. Als er zurückkehrte, hatte er mit ein paar Eingeborenen gesprochen und erfahren, daß sich die gefangenen Rebellen nicht mehr an Bord der „Candia“, sondern im Kerker der Stadtkommandantur befanden. Ohne Mißtrauen zu erregen, hatte er sich daraufhin nach dem Weg zur Stadtkommandantur erkundigt.
Knappe zehn Minuten später hatten sie die Stadtkommandantur vor sich. Sie entpuppte sich als ein großer und wuchtiger Bau aus groben Quadersteinen, bei dessen Errichtung man sich offenbar alle erdenkliche Mühe gegeben hatte, architektonische Schönheiten zu mißachten. Mit anderen Worten, es war die häßlichste Konstruktion, die Hasard seit langem gesehen hatte.
Vor dem Tor lungerten ein paar Neugierige herum, die darauf warteten, daß man die Gefangenen wieder ins Freie brachte, vielleicht zu ihrer Hinrichtung oder Gott weiß wohin. Der Seewolf überließ diese Leute ihrem Müßiggang. Er nahm jetzt die Initiative in die Hand. Wie die Kommandantur im einzelnen angelegt war, glaubte er begriffen zu haben. Ähnliche, wenn auch ansehnlichere Klötze kannte er ja schon aus den Häfen der Spanier. Der Grundriß wiederholte sich in den wesentlichen Zügen. In dieser Beziehung war es mit der Phantasie der Dons nicht weit her.
So schlich er der kleinen Gruppe voran zur rückwärtigen Partie des großen Gemäuers. Wie erwartet lief der nach Norden versetzte Flügel in einem Söller und einem Wehrgang aus, wobei der Wehrgang eine gewaltige Mauer krönte, hinter der sich garantiert ein quadratischer Innenhof ausdehnte.
„Und von dort aus geht es in den Kerker hinüber“, raunte Hasard den Freunden zu. „Dafür lege ich meine Hand ins Feuer oder verwette meine Stiefel.“
„Pst!“ zischte Dan O’Flynn. „Auf dem Wehrgang habe ich die Umrisse von zwei Posten gesichtet.“
„Die müssen wir ausschalten, wenn wir zu Sotoro und den anderen vier wollen“, flüsterte Hasard. „Ein Tor gibt es an dieser Seite nicht, alles, was wir tun, muß also zwangsläufig auf die Überquerung der verdammten Mauer ausgerichtet sein. Ein Glück, daß es dunkel ist und wir den Nebel zu unserem Schutz haben. Wir pirschen uns einer nach dem anderen zur Mauer. Tiku, übersetze das bitte Kutabaru und Yaira.“
Wenig später huschten fünf Schatten in kurzen Abständen auf die Mauer zu und preßten sich gegen die grobgehauenen, feuchten Quader, ehe die Posten sie erspähen konnten. Die erste Etappe war zurückgelegt. Hasard bereitete sofort die nächste vor.
Einen Enterhaken und ein Tau hatte er vorsichtshalber von Bord der „Isabella“ mitgenommen. Den Enterhaken hatte er unter seiner bauschigen Kleidung zu verstecken gewußt, das Tau hatte er sich um die Taille geschlungen. Geschickt brachte er die Hilfsmittel nun zum Vorschein. Dan grinste, als er sah, daß sein Kapitän die spitzen Enden des Enterhakens mit Rohlederpuffern umwickelt hatte. Ihre Greiffähigkeit wurde dadurch nicht gemindert, wohl aber das Geräusch, das die Eisenspitzen verursachten, wenn sie irgendwo aufschlugen.
Hasard fackelte nicht lange. Jede Sekunde war kostbar. Er streckte den rechten Arm von sich, ließ den Haken am Tau wirbeln und schleuderte ihn schließlich unter den gebannten Blicken von Dan, Yaira, Tiku und Kutabaru in die Höhe.
Fast schluckten Nacht und Nebel die Umrisse des Enterhakens. Dann hatte es den Anschein, als habe der Haken Halt gefunden, und die fünf wollten bereits aufatmen.
Doch die Eisenkralle taumelte aus der Luft über ihren Köpfen zu Hasard herab. Der Seewolf konnte einen Fluch kaum unterdrücken. Aber er riß sich zusammen, ließ den Haken erneut schwingen, und warf ihn noch einmal mit vehementer Geste zur Mauer hoch.
Diesmal hatte er Erfolg. Der Haken kehrte nicht zu ihm zurück. Lächelnd zerrte er an dem Tau und prüfte, ob es sein Körpergewicht auch wirklich tragen konnte. Das Ergebnis war positiv, und Hasard schwang sich hinauf. Er hangelte völlig lautlos an dem Tau hoch und verharrte erst wieder, als er sich dicht unterhalb zweier wuchtiger Zinnen befand.
Der Enterhaken hatte sich – ohne einen Laut zu verursachen – hinter die Innenkante der Schießscharte geklemmt. Der Seewolf wollte schon frohlocken und sich auf den Wehrgang schwingen, als er Stimmen vernahm. Er erstarrte und verhielt sich mucksmäuschenstill.
Der Doppelposten!
Die Soldaten marschierten von rechts heran, doch dann blieb der eine stehen, soviel vernahm Hasard. Er hörte auch, was der Don zu seinem Kameraden sagte.
„Und ich sage dir, da war etwas. Ich hab’s gehört, ganz deutlich sogar. Ein Füßescharren oder so ähnlich.“
„Oder so ähnlich“, ahmte ihn der andere nach, während er näher auf den Seewolf zuschritt. „Wenn du so sicher bist, dich nicht getäuscht zu haben, mußt du doch auch wissen, was das für ein Geräusch war.“
„Ich finde, einer von uns sollte ’runtersteigen“, ließ sich nun der erste vernehmen.
„Und ganz um den Bau herumlaufen?“
„In der Milchsuppe ist von hier oben aus wenig zu erkennen …“
„Ach hör doch auf. Du siehst Gespenster, das ist es.“
Der erste Soldat stieß eine unflätige Verwünschung aus, die Yaira zweifellos in Verlegenheit gebracht hätte, hätte das Mädchen sie verstanden.
Hasard gewahrte, wie der zweite Sprecher hinter den Zinnen erschien. Blieb der Kerl jetzt stehen und beugte sich aus der Schießscharte, war es um den Seewolf geschehen. Dann brauchte der Spanier nur noch mit der Muskete anzulegen, da nutzte kein noch so eiliges Abwärtshangeln etwas.
Gewiß, Hasard konnte ihm zuvorkommen und mit der Pistole auf ihn feuern. Aber damit verfehlte er den Zweck der Übung. Durch eine solche Aktion hätte er die komplette Kommandantur, in der bekanntlich auch die Stadtgarde zu Hause war, wachgetrommelt. Wie man es auch drehte – er mußte scheitern, falls der Posten ihn entdeckte.
Aber der Soldat schritt weiter. Seine Stiefel schlugen hart auf die steinerne Plattform des Wehrganges.
Hasard regte sich. Er zog sich affengewandt das letzte Stück Tau hoch, war in der Schießscharte und glitt auf den Wehrgang. Auf den Fußspitzen pirschte er dem davonmarschierenden Wächter nach. Er brachte es fertig, keinen Laut zu verursachen, und erreichte den Mann.
Einen Arm schlang er ihm von hinten um den Kopf und preßte die Hand auf dessen Mund. Mit der anderen Hand schlug er so zu, wie Sun Lo, der Mönch von Formosa, es ihm beigebracht hatte. Schwielig waren Hasards Handkanten noch nicht geworden, aber das brauchten sie auch nicht zu sein, um einen Gegner ins Reich der Träume zu schicken.
Der Soldat sank zu Boden. Hasard mußte aufpassen, daß der Brustpanzer nicht auf dem Gestein schepperte. Den Helm nahm er seinem schachmatt gesetzten Kontrahenten ab und stülpte ihn sich selbst über, nachdem er sich seiner Batak-Fischermütze entledigt hatte.
Zügig schritt er nun auf den anderen Posten zu. Der hatte es aufgegeben, von den Zinnen in die Tiefe zu blicken, und setzte jetzt seinen Weg fort. Er wollte etwas zu der vor ihm aus dem Dunst wachsenden Gestalt sagen, doch als er bemerkte, daß dieser Mann nicht mit seinem Kameraden identisch war, blieb ihm das Wort im Halse stecken. Er wollte die Arme hochreißen, eine Waffe zücken, doch der Seewolf fällte ihn mit beiden Fäusten.
Hasard überzeugte sich, daß auch dieser Mann nicht so rasch wieder zu sich kam, dann schlich er zu der Schießscharte, in der der Enterhaken klemmte. Er beugte sich weit vor und stieß einen leisen Pfiff aus.
Daraufhin kletterte Dan O’Flynn herauf. Er begutachtete die beiden besinnungslosen Soldaten, grinste und wollte etwas Anerkennendes zu Hasard sagen. Der aber wehrte mit der Hand ab.
„Sag den anderen Bescheid“, raunte er. „Sie sollen auch hochklettern. Ich schätze, daß wir den Hof unbehelligt passieren können, aber wir beide, Dan, unternehmen auf jeden Fall ein kleines Bäumchen-wechsledich-Spiel.“
Dan tickte den einen Ohnmächtigen mit der Stiefelspitze an. „Verstehe. Wir bilden sozusagen die Vorhut, die jeden aus dem Weg räumt, der uns in die Quere gerät. Tiku, Kutabaru und das Mädchen halten uns den Rücken frei, indem sie uns nachpirschen.“
„Du hast es mal wieder erfaßt, Dan.“
„Bin doch nicht auf den Kopf gefallen.“
„Ich hoffe, daß du dir auch innerhalb der nächsten Minuten nicht die Rübe quetschst“, gab Hasard leise zurück, „denn es wird heiß, höllisch heiß.“
8.
Lucio do Velhos Wunsch war natürlich stattgegeben worden. So stieg er vom Kommandantur-Hauptgebäude aus die rohen Stufen in den unterirdischen Kerker hinunter, während oben erneut zwei der malaiischen Freibeuter in Gegenwart des Stadtkommandanten, des Hafenkapitäns, Escribanos und Lozanos verhört werden sollten.
„Lassen Sie sich von dem Tiger nicht täuschen“, hatte Uwak, der Atjeh, ihn gewarnt.
„Deswegen will ich ihn besuchen – weil ich mich nicht täuschen lasse“, hatte do Velho auf seine unnachahmbare Art zurückgegeben.
Nachdem er die beiden Posten am einzigen Zugang des Kerkers hinter sich gebracht hatte, schritt er zwischen den düsteren Zellen auf einem durch blakende Pechfackeln erhellten Gang entlang. Dabei überlegte er, welche Fluchtmöglichkeiten der Tiger von Malakka hatte. Falls er sich seiner Ketten entledigen konnte, würde es ihm dann jemals gelingen, eine der beiden zum vergitterten Eingang des Kerkers führenden Treppen zu passieren? Wie sollte er die beiden Posten überwältigen, wie durch die Kommandantur ins Freie gelangen? Unmöglich. Und die zweite Treppe, die auf den hinteren Innenhof hinausstrebte? Nun, dort gab es kein Tor in der Mauer, und der Wehrgang wurde ständig durch Soldaten unter Aufsicht gehalten.
Sotoro saß gewissermaßen hermetisch eingeschlossen. Der portugiesische Kommandant trat vor die enge Zelle des Malaien und wünschte sich inständig, schon bald auch den Seewolf in einer derartigen Situation zu sehen – festgekettet, auf einem Bündel Stroh ausgestreckt, völlig ermattet, zerlumpt, verletzt, verlaust.
Einem schwer zu beschreibenden Antrieb folgend, entnahm do Velho eine der Fackeln ihrem eisernen Halter, und hielt die Flamme dicht vor das Gitter von Sotoros Zelle.
Der Tiger von Malakka rührte sich nicht. Sein Kopf hing bedenklich nach hinten über, sein Mund war halb geöffnet, die Augen hielt er fest verschlossen, seine Brust schien sich nicht mehr zu heben und zu senken.
Do Velho war unwillkürlich versucht, an den Tod des Mannes zu glauben. Dann aber besann er sich. Er kehrte zu den Wachtposten am Eingang zurück, ließ sich die Schlüssel aushändigen, gab ihnen ein paar knappe Anweisungen und suchte dann wieder die Gittertür von Sotoros Verlies auf.
Ohne zu zögern schloß er sie auf. Er trat neben die reglose Gestalt, ließ die Fackel ein Stück sinken und betrachtete seinen kostbaren Gefangenen noch einmal ganz genau.
Minuten verstrichen so. Schließlich sagte Lucio do Velho in reinstem, unverfälschtem Kastilisch: „Wir wissen, daß du Spanisch kannst wie deine eigene Muttersprache. Ich bin auch sicher, daß du mich in diesem Moment hörst und jede meiner Gesten studierst. Du mußt dich zwingen, nicht die Augen zu öffnen. Mein lieber Freund, ich bin selbst ein geborener Darsteller. Laß dir deshalb sagen, daß deine Anstrengungen zumindest mir stümperhaft erscheinen.“
Er erhielt keine Erwiderung.
„Ich könnte dir das Gesicht mit der Fackel versengen“, hob do Velho wieder an zu sprechen. „Aber solche Methoden halte ich nicht für angebracht. Unter uns, ich finde sie ekelhaft. Deshalb habe ich die Kommandantur auch verlassen, wo man sich jetzt auf eine Weise mit deinen Kumpanen befassen wird, die alles Bisherige übersteigt. Es liegt in deiner Hand, diese Unmenschlichkeiten abzubrechen, Sotoro. Ich will dich jetzt nicht auf die milde Art zwingen, ein Geständnis abzulegen und deine Pläne zu offenbaren. Ich will dir ein Geschäft vorschlagen. Es lautet: Du hilfst mir, den Seewolf zu fassen, und ich gewähre dir die Freiheit. Ich will nicht die gesamte Inselwelt absuchen, ich will diesem Killigrew eine gezielte Falle stellen.“
„Wer bist du?“ fragte Sotoro, ohne die Augen zu öffnen.
Do Velho sagte es ihm. Er konnte kaum seinen Triumph darüber unterdrükken, diesen schwarzbärtigen, dunkelhäutigen Rebellen zum Sprechen gebracht zu haben. Wenn es auch nur ein bescheidener Anfang war, die Hauptsache war, daß er sein Schweigen gebrochen hatte.
„Lucio do Velho“, versetzte Sotoro auf die Erläuterungen des Portugiesen hin. „So heißt also der Kommandant des großen Viermasters. Weißt du, wer das Feuer gelegt hat, das die Galeone explodieren ließ, die wir Rebellen geentert hatten?“
„Einer von euch.“
„Nein. Warum sollten wir uns selbst in die Luft jagen? Es war der Kapitän. Ich sah ihn noch von Bord springen, diesen feigen Hund. Ja, ich beobachtete ihn, wie er das Weite suchte.“
„Wir haben ihn aber nicht mit den Schiffbrüchigen aufgefischt“, erwiderte do Velho überrascht.
„Dann hat ihn ein fliegendes Trümmerstück bei der Explosion getroffen, eine Spiere oder ein Balken. Geschieht ihm recht. Siehst du, wie ihr seid? Durch und durch feige und verlogen. Auf was wartest du? Zieh mir die Fackel doch durchs Gesicht. Du wirst mich nicht schreien hören.“
Do Velho schüttelte den Kopf. „Rede keinen Unsinn, Sotoro. Ich verfolge ein bestimmtes Ziel. Bei mir konzentriert sich alles auf den Seewolf. Ich will, wie gesagt, ein Geschäft mit dir abschließen.“
Sotoro lachte auf. „Wer garantiert mir denn, daß du mich wirklich freiläßt, wenn ich einwillige?“
„Ich könnte es dir schriftlich geben …“
„Auf eure Dokumente gebe ich nichts, Portugiese.“
„Dann verrate ich dir etwas, das du leicht gegen mich verwenden könntest“, erwiderte do Velho. Er setzte eine Verschwörermiene auf und senkte die Stimme. „Du hast doch an Bord meines Schiffes vernommen, wie der Kommandant Francisco Lozano von den Diamanten von Kra gesprochen hat, nicht wahr?“
Der Tiger richtete sich von seinem erbärmlichen Lager auf. Die Ketten rasselten. „Diamanten von Kra? Nein. Du vergißt, daß Escribano mich niederschlug.“
„Dann war die Ohnmacht also nicht vorgetäuscht?“
„Ich bin erst vor etwa einer halben Stunde wieder zu mir gekommen.“
Do Velho holte tief Luft. „Gut, ich will glauben, daß es der Wahrheit entspricht. Also hör mir gut zu. Die Spanier haben die geheimen Diamantminen des Isthmus entdeckt und deinen Leuten entrissen. Die Malaien arbeiten jetzt als Sklaven in den Minen. Lozano erhofft sich von einem peinlichen Verhör, durch das dich der Stadtkommandant mangeln wird, Auskunft über weitere versteckte Minen der Eingeborenen, wo du doch von Kra stammst. Sicherlich gibt es noch viele Quellen, aus denen sich die edlen Steine holen lassen …“
„Hunde“, stieß Sotoro hervor.
Lucio do Velho berichtete ihm über das Unglück der „Santa Trinidad“, beschrieb auch, wo das passiert war, und fügte hinzu: „Und ich werde dir auch sagen, wo meine liebenswerten Verbündeten, die Spanier, auf der Landenge von Kra die Diamanten verschiffen, damit du dort später einen Schlag landen kannst. Du siehst, ich bin bereit, mich in deine Hand zu begeben, wenn du mir den Seewolf auslieferst. Eine Hand wäscht die andere, so kann man es auch ausdrücken.“
Ja, dachte Sotoro, und falls ich dich zum Seewolf führe, wirst du nach seiner Festnahme nichts Eiligeres zu tun haben, als mich zu töten, so sieht die praktische Endlösung aus.
Laut entgegnete er: „Wie willst du das dem Stadtkommandanten, dem Hafenkapitän und den anderen Halunken dort oben erklären?“
„Ich schaffe dich heimlich fort. Noch heute nacht. Deine vier Mitstreiter werde ich auch mit an Bord der ‚Candia‘ nehmen. Verlaß dich darauf, ich habe den Einfluß, das fertigzubringen, ohne daß beispielsweise Escribano oder Lozano mir ins Handwerk pfuschen.“
„Du handelst auf eigene Faust?“
„Ich riskiere das.“
Der Tiger von Malakka tat, als überlege er angestrengt. Dann nickte er. „Gut. Ich bin einverstanden. Meine Sache ist mir mehr wert als die Freundschaft des Seewolfes. Löse meine Ketten, dann folge ich dir.“
Do Velho lächelte plötzlich. „Hocherfreut, Sotoro. Aber ich sehe es als meine Pflicht an, dich vor Dummheiten zu warnen. Ich habe Vertrauen in deine Klugheit, doch du sollst wissen, daß die Wachtposten am Ausgang des Kerkers mit schußbereiten Musketen dastehen. Ich habe ihnen aufgetragen, sie sollen wie die Luchse aufpassen.“
„Ich bin kein Narr, Portugiese“, sagte Sotoro. „Ich unternehme keinen Fluchtversuch. Ich weiß, daß ein Ruf von dir genügt, und ich bin ein toter Mann. Halte dich an unseren Pakt, befreie auch meine vier Brüder, und ich breche mein Wort nicht.“
Do Velho suchte den passenden Schlüssel für die Kettenschlösser des Malaien aus dem Bund, bückte sich und ließ tatsächlich die Schlösser aufschnappen, die die im Mauerwerk des Verlieses verankerten Ketten um Sotoros Hand- und Fußgelenke gespannt hielten. In diesen Sekunden war der Portugiese sich der Gefahr bewußt, in der er schwebte, aber er wollte den Tiger auf diese Probe stellen.
Sotoro dankte durch ein knappes Kopfnicken und erhob sich schwerfällig. Do Velho brauchte nicht zu wissen, daß Sotoro die Stunden des Alleinseins dazu genutzt hatte, durch konzentrierte Ruhe zu regenerieren und sich auf alle Eventualitäten vorzubereiten.
In Lucio do Velhos Rücken ertönte eine Stimme. Sie bediente sich eines sauberen Spanisch, wie man es von einem Soldaten Seiner Allerkatholischsten Majestät, König Philipp II., eigentlich auch erwarten sollte.
„Senor …“
Do Velho drehte sich um und sah einen behelmten, gepanzerten Posten in der Zellentür stehen, erkannte aber zu spät, daß das Gesicht dieses Kerls erhebliche Übereinstimmungen mit der Physiognomie des Seewolfes aufwies.
Do Velho wollte reagieren, aber Sotoro trat ihm mit voller Wucht in den Rücken. Die Fackel fiel zu Boden und loderte hoch auf. Do Velho stolperte auf Hasard zu und wurde von diesem aufgefangen. Dan, der neben den Seewolf getreten war, zielte mit der Muskete direkt auf den Bauch des Portugiesen.
„Danke, Amigo, daß du uns die Mühe abgenommen hast“, sagte Hasard verhalten, während er den Todfeind in einem schraubstockartigen Griff hielt. „Wir hätten wirklich viel Zeit verloren, wenn wir erst lange mit Schlüsseln hätten hantieren müssen. Ich warne dich, Portugiese. Wage es nicht, zu schreien. Du bist ein toter Mann, wenn du auch nur ‚A‘ sagst.“
Sotoro glitt auf sie zu. „Allmächtiger, Seewolf, du hast doch wohl nicht etwa gehört und geglaubt, was ich diesem Hundesohn versprochen habe?“