Seewölfe Paket 7

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Auf den Planken der Kuhl standen der Kapitän, der Seemann Fisher und Reverend Thornton, der leise murmelte. Dann hoben sie zu dritt eine Gestalt auf, schoben sie über das Schanzkleid und ließen sie ins Meer gleiten.
Beim Aufklatschen des Körpers war Blake hellwach.
„Wer – wer war das?“ stammelte er.
Der Kapitän, bärtig, hohlwangig, sah ihn aus tief in den Höhlen liegenden Augen lange an.
„Endicot“, sagte er schwer. „Endicot war es.“
„Aber Endicot war doch gestern noch – noch gesund.“
„Gesund? Gestern? Wann war gestern, Mann? Er lag sicher schon zwei Tage tot in seiner Koje. Gehen Sie nach unten, Blake, legen Sie sich hin!“
Blake schüttelte eigensinnig den Kopf.
„Ich will nicht nach unten, Sir, da unten verreckt man nur. Ich will lieber an Deck krepieren. Darf ich einen Schluck Wasser haben, Sir?“
Endicots Tod hatte ihn aufgewühlt, er spürte, wie er am ganzen Körper zitterte. Himmel, was war bloß mit ihm los? Er hatte Endicot doch noch gesund gesehen, oder war er selber schon verrückt?
„Heute abend“, sagte der Kapitän, „heute abend gibt es einen Schluck Wasser, jetzt nicht.“
Blake starrte auf die Stelle im Wasser, wo die Leiche verschwunden war. Ab und zu perlte es dort, winzige kleine Bläschen stiegen auf und zerplatzten, wenn sie die Oberfläche erreichten.
Er wollte sich abwenden, doch in seinem Magen krampfte sich etwas zusammen, ihm wurde speiübel, und mit einem leisen Schrei erbrach er sich, bis es seinen Magen umkrempelte. Er zuckte und bebte, und sein Hals brannte wie Feuer.
Danach ließ er sich erschöpft an Deck sinken. Ihn wunderte nicht einmal die Gleichgültigkeit des Kapitäns, der ihn nur stumm ansah, die Schultern hob und davonging.
Alle waren sie gleichgültig und apathisch geworden, gleichgültig gegenüber den Kameraden, apathisch gegen alles, was um sie herum passierte.
Nur der Haß gegen Thornton war noch da. Sie alle haßten ihn, sie vertrugen seine scheinheiligen Sprüche nicht mehr, aber niemand brachte die Kraft auf, ihn zu verprügeln oder ihn einfach über Bord zu schmeißen, wie es ihnen in Gedanken vorschwebte.
Dabei hatte alles so verheißungsvoll begonnen.
Im Juli 1584 waren sie im Verband mit zwei anderen Schiffen von England ausgelaufen. Drei Kauffahrer mit dem inoffiziellen Auftrag, spanische Goldschiffe aufzubringen, dem brutalen Geschäft der Spanier etwas Einhalt zu gebieten, Handelsniederlassungen zu gründen und neue Inseln zu entdecken, diesmal auf dem Seeweg um Afrika herum.
Das erste Schiff hatten sie bei der Rundung um den großen Kontinent in einem Sturm verloren. Die See hatte das Schiff voller Wut zertrümmert und nur zwei Leute am Leben gelassen.
Einen Seemann und Reverend Thornton, den sie selbst an Bord genommen hatten, der jetzt dick, fett und behäbig herumstand und allen ein Dorn im Auge war.
Das zweite Schiff war schon vor Monaten spurlos verschwunden. Sie hatten nie wieder etwas von ihm gehört, es blieb verschollen.
Die „Black Pearl“ war noch übrig, mit einer Mannschaft, die vom Tod gezeichnet war, die dahinsiechte und starb, seit sie sich in diesem verdammten Meer ohne Ende befanden.
Es hatte Aufstände an Bord gegeben, Schlägereien. Die Männer waren mit den Messern aufeinander losgegangen, als der Proviant und das Wasser rigoros gekürzt wurden. Kapitän Stan Ellen hatte sich nur mit Mühe und Not durchsetzen können.
Die meisten Männer lagen apathisch in den Kojen. Diejenigen, die sich noch einigermaßen bei Kräften befanden, verfluchten und beleidigten den Kapitän, schimpften auf die Steuerleute und verdammten sie, weil sie den Kurs nicht fanden, weil kein Land mehr gesichtet wurde, weil niemand wußte, wo sie sich befanden.
Blake schlief wieder ein, träumte wirres Zeug und schwitzte.
Als er zum zweiten Male die Augen aufschlug, schloß er sie schnell wieder und blinzelte. Er tat so, als schlafe er.
Reverend Thornton lungerte am Wasserfaß herum. blickte immer wieder aus seinen schmalen Augen über das ausgestorbene Deck und musterte Blake ausgiebig.
Thornton rief ihm leise etwas zu, doch Blake reagierte nicht. Will doch mal sehen, ob dieser scheinheilige Kerl nicht wieder heimlich Wasser zapft, dachte er. Aus halbgeschlossenen Lidern beobachtete er den Reverend, der auf und ab ging.
Dann bückte er sich, blickte noch einmal nach allen Seiten, öffnete den hölzernen Hahn und ließ sich grünliche, von Fäden durchzogene Brühe in die hohle Hand laufen, die er gierig trank.
Mit einem Wutschrei sprang Blake auf die Beine, stürzte auf Thornton zu und hieb ihm die Fäuste in den fetten Bauch.
Der Reverend taumelte zurück, hob matt die Hand und erhielt einen Schlag ins Gesicht, der ihn über Deck schlittern ließ.
In diesem Augenblick, gerade als Thornton am Schanzkleid ächzend zusammenbrach, erschien der Kapitän.
Sein Gesicht war maskenhaft starr, seine grauen Augen funkelten voll verhaltener Wut.
„Was geht hier vor?“ rief er scharf. Er blickte zu Blake und dann zu Thornton, der sich gerade erhob.
Zwei andere Männer erschienen gleichfalls an Deck. Der erste Offizier Wintham und der Rudergänger Hentrop. „Er klaut Wasser, Sir“, sagte Blake mit erstickter Stimme, bereit, sich sofort wieder auf Thornton zu stürzen.
„Stimmt das, Reverend?“ fragte Ellen kalt.
Thornton massierte seinen fetten Hals, hob die Augen anklagend gegen den Himmel und sah den Kapitän nicht an.
„Der Herr möge ihm seine Unbesonnenheit vergeben“, salbaderte er, „schlägt er dich auf die eine Wange, so halte die andere auch noch hin.“
„Das kannst du haben!“ brüllte Blake voller Zorn und stürzte sich von neuem auf Thornton. Bevor Ellen ihn zurückreißen konnte, prasselten harte Schläge auf Thorntons Körper.
„Genug jetzt!“ fluchte Ellen und riß Blake zurück. „Ich will wissen, ob das stimmt.“
„Natürlich nicht“, sagte Thornton weinerlich. „Der Hahn tropfte. Ich sah es zufällig und wollte ihn zudrehen.“
Wintham und Hentrop nahmen eine drohende Haltung ein. Blake wurde immer noch festgehalten, er schäumte vor Wut.
„Er lügt, der verdammte Hund!“ brüllte Blake und riß sich los. „Er säuft dauernd Wasser, wenn er glaubt, daß niemand an Deck ist. Und der Hahn hat nicht getropft, ich beschwöre es.“
„Das wird sich gleich herausstellen“, sagte Ellen.
Mit hölzernen Schritten ging er auf das Faß zu, bückte sich und sah auf die Planken.
Der Hahn hatte getropft, jedenfalls konnte man das annehmen, wenn man nur einen Blick auf die Planken warf. Ellen war da aber gründlicher und so entging ihm nicht, daß sich die Tropfen an einer anderen Stelle befanden, als hätte jemand die Hand unter den Hahn gehalten und sie dann weggezogen. Die Wasserspuren wiesen von dem Faß fort.
Ausdruckslos sah er den Reverend an.
„Seit Sie an Bord sind, Reverend“, sagte er sehr ruhig, „wird es hier immer schlimmer. Sie kaschieren Ihre Diebstähle mit frommen Worten, stehlen Brot und Wasser, ohne sich den Teufel darum zu scheren, daß Sie dadurch den anderen etwas wegnehmen. Dieses Schiff ist ein halbes Wrack, die Mannschaft ein undisziplinierter zerlumpter Sauhaufen, der langsam krepiert, weil es an allem mangelt. Und Sie schüren den Haß, säen Zwietracht und klauen. Ich werde heute abend ein Bordgericht einberufen, Reverend. Das Urteil kann ich schon vorwegnehmen. Die Männer werden dafür plädieren, daß Sie einen Ehrenplatz erhalten.“
Ellens Daumen stach nach oben, wo die schlaffen Segel hingen.
„Dort oben an der Rah!“ sagte er. „Lassen Sie ihn in die Piek bringen, Mister Wintham!“ befahl er knapp. „Und zwar sofort.“
In Thorntons Augen trat Furcht, seine Lippen öffneten sich, und man sah seine gesunden kräftigen Zähne.
Er schielte nach oben und schüttelte sich.
„Ihr Ottern und Schlangengezücht!“ schrie er bleich. „In der finstersten Hölle sollt ihr schmoren und verflucht sein ein Leben lang, dazu verdammt, ruhelos über die Weltmeere zu segeln, bis daß der …“
„Aber, aber, Reverend“, höhnte Wintham. „Steht das etwa alles in der Heiligen Schrift?“
Sie packten ihn und schleppten ihn nach vorn in die Piek.
„Erzähl deine Sprüche den Ratten“, sagte Blake, nachdem sich das schwere Schott hinter Thornton geschlossen hatte und er von innen wütend dagegenhämmerte.
„Dieser Halunke!“ schimpfte der Erste. „Der hat uns von morgens bis abends beklaut, um sich einen dicken Bauch anzufressen. Aber dafür wird er bezahlen.“
Als sie an Deck zurückkehrten, merkten sie wieder überdeutlich, wie trostlos und verzweifelt ihre Lage war.
Kein Windhauch rührte sich, das Meer lag da wie ein riesiges Tuch, ohne Bewegung, ohne Leben, scheinbar tot und ausgestorben. Und hoch über ihnen brannte ein greller Ofen so heiß und niederträchtig, daß er die Konturen des Schiffes verzerrte und alles verschwimmen ließ. Mitunter sah es so aus, als befinde sich das Schiff unter Wasser und nicht darüber.
„Verfluchte Seefahrt“, stöhnte der Erste, „verfluchte Sonne, verfluchtes Meer. Wo, zum Teufel, sind wir bloß?“
„Im Vorhof der Hölle“, antwortete Blake dumpf. Irgendein Fremdkörper im Mund störte ihn, und er griff mit Daumen und Zeigefinger danach. Ein leichter Ruck, und er hielt einen Zahn in der Hand und spuckte Blut.
„Skorbut nennen sie das“, sagte er. „Eine Krankheit, von der man behauptet, sie rotte ganze Schiffsbesatzungen aus. Man müßte Obst essen, viel Obst, dann wird es wieder.“
Der Erste, ein hartgesichtiger dürrer Mann, schlug ihm auf die Schulter.
„Eine gute Idee“, sagte er. „Ich hole ein silbernes Tablett und werde euch Früchte bringen, herrliche, kalte, saftige Früchte, soviel ihr wollt. Und hinterher gibts einen feinen Brandy, um das alles runterzuspülen. Einverstanden?“
Blake quälte sich ein verzagtes Lächeln ab.
„Fahr zur Hölle mit deinem Obst und den Früchten, Erster. Und laß dich schön knusprig braten!“
Am Abend, als die Sonne lange Schatten warf und die Hitze kaum spürbar zurückging, wurde Reverend Thornton an Deck gebracht.
Er lächelte, als wäre nichts geschehen und nickte hoheitsvoll. Vor dem Wasserfaß an Deck blieb er stehen, dann blickte er nach oben zu den Rahen.
„Da soll ich hängen“, sagte er salbungsvoll, „ich, ein Mann Gottes! Der Herr möge euch verzeihen.“
Er grinste wieder und sprach weiter: „Aber wie steht es geschrieben? Auge um Auge, Zahn um Zahn.“
Blitzschnell hob er den rechten Fuß und trat zu. Unter dem Hieb flog der Zapfen aus dem Faß, und grünliches Wasser ergoß sich in einem dünnlichen Strahl über Deck.
Dabei lächelte Thornton immer noch.
Den Männern fuhr es siedendheiß durch die Knochen. Hentrop sprang mit einem Schrei des Entsetzens auf, stieß Thornton zur Seite und stürzte sich auf das Faß. Mit dem Finger dichtete er es ab, damit nicht noch mehr der kostbaren Flüssigkeit verlorenging.
Jemand lief mit einem Gefäß herbei und fing die Tropfen auf, bis der Zimmermann einen neuen Hahn brachte und ihn vorsichtig an die Stelle des alten hineintrieb. Der Rest des Wassers wurde äußerst vorsichtig wieder in das Spundloch gegossen.
Harte Fäuste stießen Thornton nach vorn. Er sah in steinerne Gesichter, aber er sah auch unauslöschlichen Haß in den Augen der abgezehrten Männer lodern, einen Haß, der ihn frösteln ließ und der ihm sagte, daß von nun an keiner mehr das geringste Mitleid mit ihm haben würde.
Fast alle hatten sich an Deck versammelt, wie er sah.
Harte, eiskalte Kerle, die ihn innerhalb kürzester Zeit erbarmungslos an die Rah hängen würden. Vielleicht hätten sie Nachsicht mit ihm gehabt, aber nach dem, was er sich gerade geleistet hatte, war das vorbei.
Er mußte seinen letzten Weg antreten.
Das Grinsen verging ihm, er spürte Hitzewellen durch seinen Körper jagen, entsetzliche Angst kroch in ihm hoch, als sie ihn in den Kreis der schweigenden Männer trieben.
Stan Ellen sah ihn kalt an, aus seinen grauen Augen loderte verhaltene Wut.
„Fassen wir uns kurz“, sagte er knapp. „Thorntons Verfehlungen sind jedem bekannt. Sie haben die Kameraden bestohlen, Thornton, Sie klauen Wasser und Proviant, sie haben durch Ihre Anwesenheit die Atmosphäre dieses Schiffes tödlich vergiftet. Wir können nicht mehr auf engem Raum mit Ihnen zusammenleben.“
„Sie können einen Gottesmann nicht hängen lassen“, ächzte der Reverend, „das wird Sie Ihr Leben lang begleiten.“
„Fast bezweifle ich, daß Sie Reverend sind, Thornton.“
„Aber – meine Soutane!“ rief Thornton. „Sie ist gerettet worden, sie trieb auf dem Wasser, und – und sie paßt mir.“
„Das beweist gar nichts. Ihr Name war weder mir noch einem meiner Leute bekannt. Ihren Händen nach zu urteilen, sind Sie Decksmann.“
„Weil ich immer geholfen habe“, verteidigte sich Thornton. „Ich konnte nicht mitansehen, wenn andere arbeiten und ich nur so herumstand.“
„Aber hier konnten Sie das. Hier haben Sie nie einen Finger gerührt, wenn die anderen schufteten. Genug jetzt, das tut nichts zur Sache, verhandeln wir weiter, und stimmen wir ab.“
Thornton sah sich gehetzt nach allen Seiten um. Der einzige Fluchtweg, der ihm blieb, war das Wasser. Darin jedoch schwammen dunkle Schatten, große Leiber.
Haie, die sich den Teufel darum scherten, ob er nun Reverend war oder nicht.
„Er soll hängen!“ riefen die meisten.
Ein paar andere enthielten sich der Stimme. Einen Reverend hängt man nicht, meinten sie, das war ihnen suggeriert worden, sie würden damit ein Tabu verletzen.
Es ging hin und her. Ein Teil der Crew wollte ihn an der Rah baumeln sehen, ein anderer Teil war dagegen, und zwei oder drei Männer hatten keine Meinung. Sie plädierten dafür, daß man ihn auspeitschen oder kielholen solle.
Für Stan Ellen, der ohne weiteres als Kapitän seinen Tod beschließen konnte, war es nicht einfach, sich zu entscheiden.
Ein Mann, der an der Rah baumelte, trug nicht gerade zur Verzierung des Schiffes bei. Seit hier unsichtbar Skorbut und Fieber an Bord wüteten, wollte er die Gemüter nicht noch mehr mit einer Leiche im Großmast belasten. Sie hatten so schon genug Tote zu beklagen.
„Thornton wird ausgesetzt“, entschied er nach einer Weile. „Seine Chancen, irgendwo Land zu erreichen, sind so groß wie unsere Aussichten, zu überleben.“
Fast alle stimmten ihm augenblicklich zu und wirkten sichtlich erleichtert.
„Zehn Hiebe und dann ab mit ihm!“ schrie einer.
„Aussetzung ist eine harte Strafe“, belehrte Ellen den Sprecher. „Da braucht es der Schläge nicht mehr. Er ist gesund und kräftig, und er hat eine Chance. Zehn Hiebe können ihn schwer verwunden, und ich will ihn nicht unnötig quälen. Mit der Aussetzung ist er genug bestraft. Ende der Diskussion!“
Der Kapitän rief den Schiffszimmermann und erteilte ihm genaue Anweisungen.
Thornton, der sich bisher mit keiner Silbe geäußert hatte, wurde für den Rest der Nacht zurück in die Piek gebracht, wo sie ihn anketteten.
2.
Am anderen Morgen hatte sich immer noch nichts geändert. Es war wie in den vergangenen Tagen auch. Die Sonne stieg aus dem Meer und begann alles zu versengen.
Der Zimmermann und zwei Seeleute hatten ein kleines Floß gezimmert und es über Bord gehievt. Ellen hatte darauf bestanden, daß das Floß ein kleines Segel erhielt. Als Ruder befand sich eine kleine Pinne auf dem Floß.
„Man sollte dem Kerl nichts zu saufen geben“, sagte einer der Seeleute, die fürs Hängen plädiert hatten. „Der Kerl hat doch genug auf Vorrat gesoffen und gefressen.“
„Er kriegt das, was ihm zusteht, also auch Wasser und Proviant“, sagte der Kapitän. „Wir sind Christen und keine Mörder, verstanden?“
Sie holten Thornton aus der Piek. Als er in der Kuhl stand, sah er schluckend auf das kleine Floß, das winzige Wasserfäßchen und den Beutel mit Proviant.
Er nahm es ziemlich gelassen hin. Lieber wollte er auf dem Floß hokken, als oben an der Rah hängen.
Jemand brachte seine Klamotten und warf ihm das Bündel vor die Füße.
„Das ist alles, was wir von dem Schiff gerettet haben“, sagte er verächtlich. „Deine Dienstkleidung, deine angebliche, und einen Stiefel. Den kannst du dir einmal links und einmal rechts anziehen, ganz wie du willst.“
Der Kapitän trat auf ihn zu und sah ihn ruhig an.
„Sie werden jetzt aus unserem Gesichtskreis verschwinden“, sagte er kalt. „Mit der Pinne bewegen Sie sich so schnell wie möglich von uns fort. Sollten Sie in einer Stunde nicht aus unserer Nähe verschwunden sein, werde ich mit Musketen auf Sie feuern lassen, Thornton.“
Der Reverend gab keine Antwort. Verbissen starrte er auf das winzige Ding im Wasser.
„Das Wasser reicht nicht einmal drei Tage“, murmelte er nach einer Weile.
„Unser Wasser reicht auch nicht länger. Verschwinden Sie jetzt, die Leute werden schon ungeduldig.“
Ellen zog ein Messer aus seinem Gürtel und schleuderte es auf das Floß. Im Holz blieb es stecken.
Thorntons Haß auf die Crew und ihren Kapitän wuchs ins Unermeßliche. Er hatte hektische rote Flecken im Gesicht, als er über das Schanzkleid kletterte und auf das bedrohlich schwankende Floß stieg. Vorsichtig balancierte er es aus, dann griff er nach der kleinen Pinne und wandte den Männern das Gesicht zu.
„Fluch über euch, ihr Kanalratten!“ schrie er. „Der Teufel persönlich soll euch in die Tiefe ziehen!“
Er schrie und geiferte in ohnmächtiger Wut, drohte mit der Pinne und spie ins Wasser. Seine Flüche hallten über das totenstille Meer. Er paddelte davon, obszöne Verwünschungen ausstoßend, fluchend wie ein Kutscher. Und immer wieder hob er die Pinne und drohte herüber.
Da krachte ein Musketenschuß.
Der Erste hatte ihn abgefeuert, und man sah deutlich die kleine Fontäne aus dem Wasser steigen, knapp einen Yard vom Floß entfernt.
Von da an schwieg der Reverend verängstigt, zog das Genick ein und paddelte das leichte Floß wie ein Wilder voran.
„Wenn das ein Reverend ist“, sagte der Erste, „dann bin ich die Königin von England.“
Sie standen am Schanzkleid und starrten dem Mann nach, den sie alle haßten, und doch fragte sich fast jeder insgeheim beklommen, wie Thornton wohl zumute sein mochte – allein auf einem winzigen Floß, inmitten eines schier unermeßlichen Meeres, in totaler Kalme. Nein, er hatte keine Chance, Land zu erreichen, sie selbst hatten wahrscheinlich auch keine mehr.
Noch am Mittag sahen sie ihn als winzigen Punkt, der sich nicht mehr bewegte und auf dem Meer wie festgenagelt schien.
Auch Thornton starrte zu dem Schiff hinüber. Das lächerlich kleine Segel hing schlaff an dem kleinen Mast. Um ihn herum herrschte eine Hitze wie in einem Backofen. Er stierte auf das Wasserfaß, verkniff es sich aber, davon zu trinken. Er wollte so lange warten, bis er es vor Durst nicht mehr aushielt. Das hier war sein eigenes Wasser, und damit mußte er sparen. Hier konnte er nicht heimlich trinken und es auf andere schieben oder jede Schuld entrüstet von sich weisen.
Verflucht, ich habe keinen Kompaß, dachte er, ich muß mich also am Stand der Sonne orientieren und die Himmelsrichtungen bestimmen.
Wenn wirklich wieder einmal der Wind blies, mußte er sich mit dem Wind treiben lassen, entweder immer weiter aufs Meer hinaus oder vielleicht einer Insel entgegen.
Er sah in dem Proviantbeutel nach. Darin befand sich ein knochenhartes Stück Schiffszwieback, in dem die Maden bohrten, dann zwei Händevoll harter Bohnen und ein Stück Salzfleisch. Das war alles, was der Beutel enthielt.
Thornton streckte sich auf dem Floß aus und legte seinen Kopf unter das kleine Segel. Er lag auf dem Trockenen, aber bei der kleinsten Bewegung des Wassers würde ihn die Salzbrühe von allen Seiten umspülen, wenn das Wasser durch die Ritzen quoll.
Ein paarmal schlief er ein und stöhnte laut im Schlaf. Wenn er aufschrak und trübe übers Meer blinzelte, sah er die „Black Pearl“ nur noch als verschwommenen Schatten auf dem Wasser.
Mit einem Ruck richtete er sich auf. Hatte sich die Luft bewegt, oder war das eine Täuschung?
Ein heißer Lufthauch streifte ihn von neuem, und wilde Hoffnung keimte in ihm auf.
Er konnte sich das nicht erklären, aber er war deutlich von der Galeone abgetrieben worden, ohne daß er sich mit der Pinne vorwärtsbewegt hätte.
Gab es hier eine leichte Strömung, die das kleine Floß langsam forttrug?
Er rieb sich die Hände und lachte leise. Sollten die da drüben vor die Hunde gehen. Bald schon hatte er sie aus den Augen verloren, wenn die Strömung ihn weitertrug.
Oder war es umgekehrt? Bewegte eine Strömung die Galeone fort, und er selbst blieb immer an derselben Stelle?
Er wußte es nicht, döste wieder und wachte auf, als es feucht in seinem Kreuz wurde.
Die Schatten waren länger geworden, und er befand sich allein auf dem Meer. Von dem Schiff war nichts mehr zu sehen, keine Spur, selbst am dunstigen Horizont war das Schiff nicht mehr zu erkennen.
Jetzt erfüllte ihn wilde Freude, denn er sah, daß das Segel nicht mehr wie ein trockener Lappen am Mast hing, sondern sich ganz leicht bewegte. Und das Wasser, das ihm ins Kreuz gedrungen war, stammte von winzigen kleinen Wellen, die der schwache Luftstrom erzeugte.
Er nahm einen Schluck Wasser, denn seine Kehle war ausgedörrt, und die Zunge hing ihm wie ein trokkener Schwamm im Mund. Er nahm nur soviel, um sich den Mund zu spülen, die Lippen zu benetzen und sich ein wenig zu erfrischen.
Danach suchte er sehr aufmerksam die Umgebung ab und hielt Ausschau nach weiteren Anzeichen von Wind oder Wolken.
Es dauerte nochmals bis zum späten Nachmittag, bis sich das Segel leicht bauschte und sein plumpes Fahrzeug vorantrieb.
Zwei Tage und zwei Nächte trieb der Reverend Thornton auf dem Meer, vegetierte auf seinem kleinen Floß dahin, trank ab und zu einen Schluck Wasser, das ihm Übelkeit bescherte, und aß von dem knochenharten Zwieback. Das Salzfleisch rührte er nicht an, sein Genuß würde nur noch mehr Durst hervorrufen.
Am dritten Tag flog ihm ein handlanger Fisch aufs Floß. Er schnellte aus dem Wasser, fiel auf das Floß, zappelte und blieb liegen.
Thornton packte ihn gierig, zerriß ihn mit zitternden Fingern und aß ihn roh auf.
Etwas später fühlte er sich hundeelend und glaubte, seinen eigenen Augen nicht mehr zu trauen.
Nixen stiegen aus dem Wasser, mit Seetang behangene Gestalten tauchten auf und grinsten ihn an.
Mitunter stand das Wasser kopf, dann war der Himmel tief unter ihm, und das Meer befand sich in unerreichbaren Höhen. Er glaubte, sich dort hoch oben entlangsegeln zu sehen.
Den Anfall wurde er erst gegen Mittag los, da klärten sich seine Gedanken, und die Welt schien wieder in Ordnung zu sein.
Doch etwas später begann es von neuem. Thornton sah ein Schiff, einen spanischen Zweidecker, der den Kurs änderte und auf ihn zulief.
Das ist die Rettung, dachte er, oder es ist wieder ein Trugbild, das sich auflösen wird.
Doch das Schiff löste sich nicht auf. Es segelte ihm beharrlich entgegen, ging etwas später in den Wind und braßte vierkant.
Thorntons Herz klopfte vor Erwartung. Gleich würde er Wasser kriegen, Verpflegung, vielleicht in einer Koje schlafen können.
Und die Leute von der „Black Pearl“ konnte er auch noch in die Pfanne hauen, wenn er den Spaniern eine rührselige Geschichte erzählte.
Sie warfen ihm einen Tampen hinunter, banden das Floß fest und ließen ihn über die Jakobsleiter aufentern.
Thornton sprach schlecht spanisch, aber zur Verständigung reichte es.
„Meine Retter“, murmelte er erschöpft und ließ sich auf die Planken sinken.
Der Kapitän, ein kleiner dicklicher Mann mit wäßrigen Augen, sah ihn verächtlich an.
„Ein Engländer“, sagte er abfällig. „Hat man dich ausgesetzt, Amigo?“
Teufel, dachte Thornton, vor dem Burschen muß ich mich in acht nehmen, der hat mich anscheinend gleich durchschaut, dem kann ich nicht allzuviel vorflunkern. Auf das gespielte Theater vom total erschöpften Mann schien der auch nicht hereinzufallen.
Blitzschnell erfand er eine haarsträubende Geschichte.
„Ich bin Priester“, sagte er schwach. „Gott segne euch, er soll auch die nicht verdammen, die mich ausgesetzt haben. Ja, man hat mich ausgesetzt“, sagte er klagend. „Ausgesetzt, weil ich das Morden und Töten nicht länger mit ansehen konnte. Ich schäme mich für meine Landsleute, Capitan.“