Seewölfe Paket 7

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Der Haß konzentrierte sich auf Stan Ellen.
Niemand respektierte ihn, sie respektierten sich gegenseitig längst nicht mehr, und Blake oder Hentrop war es völlig egal, ob der Alte brüllte, tobte, fluchte oder befahl.
Auch der Erste mischte kräftig mit.
„Frisches Wasser“, höhnte er, „Früchte, Inseln, was? Wo sind denn deine Inseln, Kapitän? Deine Scheiß-Roteiros haben uns keinen Schritt weitergeholfen, wir segeln immer noch fast auf Ostkurs, wir sollten auf Südost gehen, da ist Land, das fühle ich ganz deutlich.“
Ellen gab keine Antwort. Aus rotgeränderten Augen sah er den Ersten an. Er ließ sich beleidigen und beschimpfen, ihm war es einerlei, er hatte genauso genug wie die anderen auch.
„Drehen Sie das Stundenglas um, Wintham“, sagte er mit schwerfälliger Stimme.
„Was geht mich das Stundenglas an, was schert mich die Zeit! Wir haben genug davon, Zeit wie Sand an den Stränden. Dreh es selbst um, wenn du willst!“
„Wo wollen Sie hin, Blake?“ fragte Ellen.
„Mir was zu fressen holen“, sagte Blake.
Ellen lachte sarkastisch. „Möchte wissen woher.“
„Aus der Vorpiek, da sind Ratten.“
Blake riß einen Belegnagel aus der Nagelbank und marschierte schwerfällig nach vorn. Wintham folgte ihm.
„Mensch, daran hab ich gar nicht gedacht“, sagte er. „Klar, da vorn tummeln sich Ratten, Fleisch, das man rösten kann. Aber ob da überhaupt noch eine Ratte lebt?“
„Die überleben uns alle. Anfangs fressen sie uns die Vorräte weg, und wenn nichts mehr da ist, fressen sie Holz oder ernähren sich sogar von Tauwerk, Stiefeln und anderen Ratten. Die können überall leben, die stellen sich um, wenn sie nichts Richtiges mehr haben.“
Ellen, der selbst am Ruder stand, rief ihnen etwas nach, aber die beiden Männer drehten sich nicht einmal um.
Sie waren ganz von dem Gedanken besessen, Ratten zu fangen, sie wollten überleben, auch wenn es ein Scheißleben war.
Blake ging jedoch vorher noch einmal in den Mannschaftsraum. In der engen Koje lag einer, der sich halb aufgerichtet hatte und ihn anstarrte.
„Wasser!“ rief er.
„Geh an Deck!“ schrie Blake ihn an. „Du bist nicht kränker als wir anderen auch.“
„An Deck werde ich sterben“, klagte der Mann.
„Besser an Deck krepieren als hier unten. Los, ’raus mit dir! Du willst dich nur drücken, ich beobachte dich schon eine ganze Weile.“
„Jesus Christus“, jammerte der Mann, „hilf mir doch, nur einen Schluck Wasser. Ich habe kaum noch Zähne im Maul, und wenn das so weitergeht …“
Blake riß den Mann mit einem Ruck aus der Koje und ignorierte Winthams grimmigen Blick, der ihm gefolgt war.
„Pack dich jetzt an Deck!“ schrie Blake. „Dort oben wirst du solange bleiben, bis du Land siehst oder verreckst.“
Der Mann taumelte in panischer Angst an ihm vorbei und konnte zu Blakes Verwunderung sogar laufen.
„Faulenzer, Drückeberger!“ schrie der Bootsmann und sah sich wild um. Aber von den anderen rührte sich keiner, sie waren wirklich am Sterben – und niemand konnte ihnen helfen.
Er ging wieder zurück, nahm aus der verwaisten Kombüse eine Lampe mit und zündete sie an. Damit marschierte er, dicht gefolgt von Wintham, zur Vorpiek und riß das Schott auf.
Der blakende Schein erhellte die Vorpiek nur dürftig. Es stank entsetzlich hier drin. Träge Brühe schwappte über die Grätings, er hörte ein warnendes Pfeifen.
Ratten! Ein flüchtiger Blick genügte ihm, um zu erkennen, daß es mindestens zwanzig waren, die sich hier vor langer Zeit eingenistet und vermehrt hatten. Seit sie kaum noch etwas zu fressen hatten, war ihr Paarungsdrang zurückgegangen.
Er hängte die Lampe an einen Balken, sprang auf die Gräting und schlug mit dem Belegnagel zu.
Die erste Ratte fiel tot auf die Gräting, die anderen flohen. Einige flitzten zwischen seinen Beinen hindurch, eine andere sprang den Ersten an, der aufschreiend zurückwich, und der Rest verschwand irgendwo.
„Verdammt, halte sie doch auf!“ schrie Blake.
Aber die pfeifende Schar war schon an Deck und suchte sich neue Verstekke.
Blake donnerte das Schott der Piek zu und leuchtete mit der Lampe in jede Ritze und Ecke.
„Schau mal her, Erster!“ sagte er rauh. „Sieh dir das an!“
„Die fressen das ganze Schiff auf“, sagte der Erste erschreckt. „Himmel, die haben ja ganze Gänge gefressen!“
Blake nickte grimmig und leuchtete mit der Lampe weiter.
Ja, es gab Gänge im Schiff, kleine Tunnel, die vom Querschott der Piek bis in die Laderäume führten. Überall war Holz angefressen, benagt, abgespänt worden, und überall gab es diese Gänge. Da konnte einem angst und bange werden.
„Gesoffen haben sie das Bilgewasser“, stellte Blake fest. „Und sie sind nicht daran krepiert.“
„Willst du damit sagen, wir sollten es versuchen?“
„Warum nicht? Besser als gar nichts. Ratten fressen, Bilgewasser saufen, Hauptsache, wir überleben.“
„Aber – genausogut können wir Salzwasser saufen. Weißt du, was in der Brühe alles schwimmt?“
„Bilgewasser“, zählte Blake auf, „besteht aus Schmutz- und Schwitzwasser, und natürlich ist auch ein bißchen Seewasser dabei, das durch die Nähte leckt.“
„Tote Ratten schwimmen in der Brühe“, sagte der Erste angeekelt, „ab und zu schifft mal einer ’rein, wenn er hier eingesperrt ist, wie unser netter Priester etwa, oder – äh …“
Er sprach nicht weiter, als Blake die Ratte am Schwanz aufhob und sie in den Gang vor das Schott warf, nachdem sie es wieder geöffnet hatten.
„Du wirst der erste sein, der sie mir aus den Fingern reißt“, verkündete Blake und deutete auf die Ratte. „Und spätestens morgen schleicht ihr euch alle in die Bilge und sauft das Wasser. Mal sehen, was stärker ist: euer Ekel oder euer Selbsterhaltungstrieb.“
Stunden später schwamm das Fell der Ratte längst irgendwo hinter ihnen im Meer, hatte jeder einen winzigen Fetzen Fleisch im Magen und schlichen die ersten tatsächlich unter den fadenscheinigsten Ausreden nach vorn.
Blake stand jetzt am Steuer und lachte, bis ihm Tränen über das Gesicht liefen und sein Gelächter in ein haltloses Schluchzen überging.
„Sauft nicht die Bilge leer“, sagte er keuchend, „laßt mir auch noch einen Schluck übrig.“
Sogar Stan Ellen scheute sich nicht, Bilgewasser zu trinken. Besser, als vor Durst krepieren, war seine Devise. Die Brühe schmeckte zwar zum Kotzen, und es würgte sie bei jedem Schluck, doch später störte sich niemand mehr daran.
„Der Mensch wird zum Tier“, sagte Ellen, „sobald es ums nackte Überleben geht. Er scheut dann auch vor dem Letzten nicht zurück.“
„Und was ist das Letzte?“ fragte Blake.
„Man frißt seine eigenen Artgenossen“, erwiderte der Kapitän ausdruckslos.
Die Männer sahen sich beklommen an, schüttelten stumm die Köpfe und waren insgeheim doch davon überzeugt, daß Ellen recht hatte. Sie waren ja schon auf dem besten Weg dazu.
Sie beteten gemeinsam und flehten ihren Gott an, daß er ein Einsehen haben möge und sie endlich zum Land führen solle, aber es änderte sich nichts.
Sie waren von Wasser umgeben, von einem Himmel, der mit dem Meer manchmal zusammenschmolz, und in dem es nur noch sengende Hitze gab, nichts anderes.
Das Glück hatte sie verlassen, und Gott und die Welt verflucht segelten sie dahin, in einer lauen Brise, die kaum die Segel blähte, von einer Kalme zur anderen, endlos, wie Verdammte der Meere, für die es keinen Hafen mehr gab.
Selbst Ratten fingen sie nicht mehr, obwohl die in Scharen herumliefen. Aber diese listigen Nager waren gewitzt und hatten sich ihren Feinden längst angepaßt. Sie verkrochen sich in ihre Gänge und ließen sich nicht blicken, solange jemand draußen auf der Lauer lag.
Aber man hörte, wie sie nagten, zerrten, knabberten, wie sie das Schiff langsam, aber sicher fraßen. Nicht mehr lange, dann würde der erste Wassereinbruch erfolgen.
„Ob Thornton verhungert oder verdurstet ist?“ fragte der Rudergänger, als er über die See blickte.
Blake zuckte mit den Schultern.
„Der Halunke hat doch immer Glück. Ich wette, der liegt längst dick und vollgefressen an irgendeinem Strand herum und lacht sich eins ins Fäustchen.“
„Soviel Glück kann man gar nicht haben“, widersprach Hentrop.
5.
Thornton hatte jedoch dieses Glück.
Er glaubte es erst selbst nicht, aber eines Morgens, als er fieberte und der Durst ihn fast ausgehöhlt hatte, sah er Land.
Aus rotgeränderten Augen blickte er zum Horizont.
Land, ein schmaler Strich nur, aber offenbar dicht bewachsen, das glaubte er ganz deutlich zu sehen.
Aber zu oft schon hatten ihn Luftströmungen getäuscht, heiße Winde ihn genarrt und Trugbilder vorgegaukelt, und immer wenn er sich einem Schiff oder einer Insel genähert hatte, löste sich alles in flirrende Luft auf.
Er wußte nicht mehr, wann er das letzte Mal etwas gegessen oder getrunken hatte. Es mußte Ewigkeiten her sein.
Schwankend richtete er den Oberkörper auf und blickte aus fiebrigen Augen zu dem schmalen Strich.
Eine frische Brise, die stetig von Nord wehte, trieb ihn voran. Er hatte sich der See überlassen und dem gleichmäßig wehenden, fast handigen Nordwind. Weshalb sollte er einen anderen Kurs steuern, wenn er doch nicht wußte, wo Land zu finden war?
Der Landstrich begann vor seinen Augen zu flirren und zu flimmern. Er versuchte krampfhaft, nicht wieder ohnmächtig zu werden, sonst trieb er womöglich an dem Land vorbei.
Doch kurze Zeit später stand das Land kopf, und vor seinen entzündeten Augen kreisten blutige Nebel.
Bittend streckte er die Arme aus, doch der rötliche Abgrund zog ihn unbarmherzig wieder zu sich heran. Knieend fiel er um und blieb liegen.
Er erwachte erst wieder, als er einen leichten Ruck verspürte. Eine kleine Welle warf das Floß auf einen weißen Strand.
Auf Händen und Knien kroch Thornton an Land und weiter über den feinkörnigen Sand auf den Grünstreifen zu, der sich dicht vor ihm sattgrün und saftig ausbreitete wie ein Teppich.
Der Länge nach ausgestreckt rupfte er Blätter und Pflanzen, fraß sie wie eine Kuh schließlich direkt vom Boden, kaute und mampfte und spuckte den grünlichen Brei wieder aus. Von neuem begann er zu grasen, zu kauen und zu schmatzen, bis sein Magen alles wieder von sich gab.
Danach fühlte er sich besser, stand schwankend auf, fiel wieder um, weil er das Stehen nicht mehr gewöhnt war, und spürte, wie verkrampft und abgestorben seine Knochen waren.
Unendlich langsam kehrten seine Kräfte zurück, nachdem er ein paar Stunden in dem satten Grün geschlafen hatte.
Als er zum zweiten Male erwachte, störte es ihn längst nicht mehr, daß sein Körper von eitrigen Pusteln übersät war und sich so heiß anfühlte wie die Sonne hoch über ihm.
Er drang in dichten Dschungel ein und ignorierte jede Gefahr, die es dort geben konnte. Ihm war alles egal, er wollte nichts weiter als Trinkwasser oder ein paar Früchte, sonst hieb der lausige Schnitter mit der Sense nach ihm, der ihn auf seiner ganzen Reise begleitet hatte.
Er wußte auch nicht, ob er auf einer Insel oder auf dem Festland gelandet war. Daß es hier Wilde geben könnte, fiel ihm nicht im Traum ein.
Irrend und suchend marschierte er an unbekannten Pflanzen vorbei, hörte das Kreischen irgendwelcher Tiere und wäre fast in einen Tümpel gefallen. Dunkle Schwärme erhoben sich fluchtartig aus dem braunen Wasser und flogen davon.
Er ließ sich fallen, hielt das Gesicht ins Wasser und trank die warme Brühe gierig in langen Zügen, bis sein Magen erneut rebellierte.
Seine Lippen waren entsetzlich geschwollen und aufgeplatzt. Vorsichtig betastete er sein vom Salzwasser verkrustetes Gesicht.
Dann wusch er sich, riß sich die zerfetzte Hose vom Körper und sprang in den Tümpel.
Thornton hatte eine eiserne Kondition. Als er den Tümpel verließ und seine Hose wieder anzog, war er ein neuer Mensch, dem jetzt nichts mehr fehlte, als etwas zu essen.
Er ging den Weg zurück, vergaß aber nicht, ihn zu markieren, indem er Blätter abriß, Äste knickte oder Pflanzen niedertrampelte, um den Tümpel wiederzufinden.
Er fand auch Früchte, die er zwar nicht kannte, sie aber voller Gier in den Mund steckte. Eine der Früchte schmeckte so sauer, daß er einen leisen Schrei ausstieß, als er sie mit seinen aufgeplatzten Lippen berührte. Aber ein paar andere, groß wie eine Faust und von dunkelgelber Farbe, schmeckten hervorragend, und er hörte nicht mehr auf zu essen.
Dann sah er wieder den Strand vor sich und stellte fest, daß er viel zu weit durch Dickicht und Gestrüpp geirrt war, denn sein Floß befand sich fast eine halbe Meile entfernt.
Er vergaß auch hier nicht, Markierungen anzubringen, um den Tümpel mit dem lebensnotwendigen Naß nicht zu verlieren.
Er zog das notdürftig zusammengezimmerte Floß höher auf den Strand, band das kleine Faß los und steckte sich das Messer ein. Den einen Stiefel besaß er nicht mehr, er hatte ihn unterwegs voller Wut ins Meer geworfen, aber die Soutane hatte er noch. Er hängte sie sich über die Schulter, sah sich noch einmal um und ging weiter.
Eine geheimnisvolle Kraft trieb den ausgemergelten Mann weiter am Strand entlang, eine Kraft, die einfach Neugier war, Forscherdrang, weil er wissen wollte, wo er sich befand.
Nach seiner Schätzung war eine Stunde vergangen, als er die Landzunge umrundete.
Sprachlos vor Staunen und andächtig blieb er stehen, um das ungewohnte Bild in sich aufzunehmen.
Er befand sich an der nördlichen Spitze einer langgezogenen Bucht, die einen außergewöhnlich breiten Strand aufwies. Unglaublich weiß schimmerte er in der Sonne. Die Bucht war vor auflandigen Winden geschützt, denn auf der anderen Seite erhoben sich Berge, die den Wind brachen.
Dicht dahinter befand sich Urwald, sattgrün leuchtend, und die Wedel hoher Kokospalmen schienen zu flüstern. Er hörte das leise Murmeln, mit dem winzige Wellen an den Strand liefen, dort hinaufleckten und langsam ins Meer zurückglitten.
Das Eindrucksvollste an der ganzen Bucht aber war der Wasserfall, der von aufragenden Felsen nicht weit vom Strand donnernd und rauschend in die Tiefe stürzte. Reines klares Wasser, dachte er wie betäubt, das aus einer Quelle in den Bergen stammte.
Jetzt hatte alle Not ein Ende, er, der Ausgesetzte, hatte das Paradies gefunden.
Und die anderen? Die mag der Teufel holen, dachte er fröhlich. Er warf das kleine Fäßchen in den Sand, breitete die Arme aus und erklomm die Stelle, wo sich der Wasserfall befand.
Er stellte sich seitlich darunter und ließ sich berieseln.
Hinter dem Wasserfall war der Fels glatt geschliffen und sehr glitschig. Alles war mit üppig wuchernden Lianen bedeckt.
Jetzt hatte er das, was er wollte, wovon er in den einsamen Stunden auf dem Floß immer geträumt hatte. Jetzt lag es direkt vor ihm, das Paradies, in dem es keinen Hunger und keinen Durst mehr gab.
Er konnte trinken und essen, soviel er nur wollte, er konnte sich Kokosnüsse holen, kleinen Vögeln nachstellen oder Schildkröten suchen, von denen es hier genügend gab.
Und eine Behausung? Brauchte er vorläufig nicht. Es war warm und angenehm, und wenn es ihm zu heiß wurde, konnte er ins Meer gehen und baden oder sich unter den Wasserfall stellen, um sich abzukühlen.
Im Sand fanden sich auch keine Spuren von Menschen oder größeren Tieren. Wahrscheinlich war es eine Insel, auf der er gelandet war.
Vielleicht war er sogar im Umkreis von Hunderten von Meilen der einzige Mensch weit und breit.
Er hatte Glück gehabt, er lag satt und faul am Strand eines unbekannten Garten Edens, hatte sich den Bauch vollgeschlagen und seinen brennenden Durst gelöscht.
Schade, daß er sich nicht bei Kapitän Ellen für dieses Paradies bedanken konnte.
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