Seewölfe Paket 29

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„Hölle“, sagte Silvestro. „Bald sind wir in Üsküdar.“
„Dort wohnen die Haydars“, entgegnete sein Bruder. „Wußtest du das nicht?“
„Ja, doch. Aber wir können uns in Üsküdar nicht zeigen.“
„Nicht die ganze Bande“, sagte Dario. „Wir werden uns zu dritt im Ort bewegen. Du und ich. Und Brodzu.“
„Wo ist das Haus dieser Pfeffersäcke?“ wollte Brodzu wissen.
„Das ist mir nicht bekannt“, antwortete Dario. „Aber auch das werden wir bald erfahren.“
„Wir schleichen uns in den Palast der Türken“, sagte Silvestro. „Und dann murksen wir jeden ab, der uns in die Quere gerät.“
„Vergiß das Geld nicht“, sagte Dario. „Ich will es mir holen.“
„Was glaubst du, was ich will?“ zischte Silvestro.
„Die Gelegenheit ist doch eigentlich günstig“, sagte Brodzu. „Wir schnappen uns nicht nur die Säcke, sondern den ganzen Reichtum dieser Bastarde. Wir plündern die ganze Burg aus.“
„Jawohl“, brummten, die anderen Kerle.
Der Gedanke, eine noch größere Beute zu reißen, als ursprünglich vorgesehen war, verlieh ihnen Auftrieb. Anfangs hatten sie angenommen, daß sie mit den beiden Haydars leichtes Spiel haben würden. Fast hatten sie sie eingeholt und gefaßt, doch dann waren ihnen diese verfluchten Bastarde, diese Giaurs, aufgetaucht.
Die Sarden konnten nicht verkraften, daß ihnen die fette Beute entgangen war und einige ihrer Kumpane ins Gras gebissen hatten. Drei! Ein hoher Preis für das Unternehmen, das ihnen im Endeffekt eine Niederlage gebracht hatte.
Aber es wäre falsch gewesen, jetzt ganz aufzugeben und zum Schlupfwinkel zurückzukehren. Das Eisen mußte geschmiedet werden, solange es noch halbwegs heiß war. Das wußten Dario und Silvestro Porceddu am allerbesten.
Vor ihren Kerlen durften sie sich jetzt keine Blöße geben, denn das wurde sofort als Schwäche ausgelegt. Die Entscheidung, der Dubas bis nach Üsküdar zu folgen, war richtig – nicht nur wegen der Rachepläne.
Die Porceddu-Brüder mußten ihren Anhängern beweisen, daß sie immer noch so verwegen und kaltblütig waren, wie sie bislang immer unter Beweis gestellt hatten.
Von einer Anhöhe aus beobachteten die Kerle durch ihre Fernrohre, wie die Dubas in den Hafen von Üsküdar einlief und an einer Pier vertäut wurde. Türken liefen auf den Segler zu. Es schien sich um Haydars Leute zu handeln.
Dario Porceddu konnte sehen, wie der Kaufmann ihnen durch Gesten und Rufe Befehle gab. Die Untertanen halfen ihrem Herrn und dessen Sohn an Land. Sie nahmen die Geldsäcke in Empfang. Und sie dienerten vor den verdammten Bastarden an Bord der Dubas.
„Das dauert noch ein wenig“, sagte Dario. „Los, wir reiten runter in die Stadt.“ Er drehte sich zu den anderen um. „Ihr wartet hier auf uns. Sollten unerwartet Soldaten auftauchen, zieht ihr euch zurück, klar?“
„Klar“, erwiderten die Kerle.
„Silvestro, Brodzu“, sagte Dario. „Beeilen wir uns, sonst verlieren wir die Hurensöhne aus den Augen.“
Silvestro hämmerte seinem Pferd die Hacken in die Weichen. Wie der Leibhaftige in Person jagte er auf die Häuser zu. Sein Bruder schüttelte den Kopf. Wollte Silvestro um jeden Preis auffallen? Nun, er konnte ihn nicht mehr zurückhalten. Dario folgte Silvestro. Brodzu trieb ebenfalls sein Pferd an und ritt hinter den Brüdern her.
Silvestro stieß die übelsten Flüche aus, während er dahinraste. Seit einiger Zeit fiel ihm auf, daß Dario ihn zu übertrumpfen versuchte. Dario wollte das Ruder ganz an sich reißen und das alleinige Kommando übernehmen. Und irgendwann würde er ihn, Silvestro, ausbooten. Jetzt gab er ihm schon vor der versammelten Meute Befehle!
Im stillen beschloß Silvestro, auf der Hut zu sein. Sein Bruder mochte glauben, daß er nur ans Huren und Saufen dachte. Aber Silvestros Verstand war nach wie vor klar. Wenn jemand ein Komplott gegen ihn schmiedete, so war er der erste, der es spürte. Und er würde sich dagegen zu wehren wissen.
Wenn Dario weiterhin den großen Macher spielte, der die Anweisungen gab, dann würde es zum offenen Konflikt zwischen ihnen kommen. Und Silvestro schreckte vor nichts zurück. Auch nicht davor, den eigenen Bruder zu töten.
Ein paar Kinder liefen vor den Reitern davon, als diese auf die ersten Häuser des nördlichen Stadtrandes zupreschten. Dann waren die Gassen wie leergefegt. Nur hinter den Fenstern der Häuser waren hier und dort Gesichter zu erkennen. Neugierige, verängstigte Augen beobachteten die Sarden.
Dario, Silvestro und Brodzu kümmerten sich nicht darum. Sie führten ihre Pferde auf einen Hof und banden sie fest, als gehöre der Hof ihnen. Zu Fuß setzten sie ihren Weg fort. Es war zu gefährlich, durch Üsküdar zu reiten. Leicht konnten sie an eine Patrouille der Stadtgarde geraten, die sie anhielt und ausfragte.
Und wenn die Soldaten sie erkannten, hatten sie kaum noch eine Chance, Üsküdar lebend zu verlassen. Zu dritt konnten die Banditen es höchstens mit fünf, sechs Gegnern aufnehmen, nicht mit einer kompletten Garde.
Folglich war es ratsam, sich vorsichtig zu bewegen. Die drei Sarden schlichen durch die Gassen und Gänge zum Hafen. Vor einem dunklen Tor aus verfolgten sie, wie eine Abordnung ihrer Gegner die Dubas verließ und mit den Haydars und deren Dienern zum Kai marschierte.
„Gut“, flüsterte Dario. „Wir sind gerade noch rechtzeitig erschienen.“
„Wir warten, bis sie an uns vorbei sind“, raunte Silvestro. „Dann klemmen wir uns hinter sie.“
„Soll ich hierbleiben und den Zweimaster im Auge behalten?“ fragte Brodzu.
„Nein, das ist nicht nötig“, erwiderte Dario. „Solange die Kerle an Land sind, wird der Zweimaster nicht auslaufen. Und wir sollten uns auf keinen Fall trennen.“
Ihre Gegner hatten den Kai erreicht und verschwanden in einer Gasse. Dario, Silvestro und Brodzu verharrten noch eine Weile, dann pirschten sie an der Mauer entlang und huschten auf die Gasse zu. Sie achteten darauf, ob man sie von Bord der Dubas aus beobachtete. Aber das schien nicht der Fall zu sein.
Die drei Banditen tauchten in der Gasse unter. Ein Blick genügte ihnen, und sie waren sicher – sie hatten die Gegner wieder vor sich. Jetzt konnten sie ihnen nicht mehr entkommen.
5.
Die Gruppe der Arwenacks bestand aus Hasard, Ben Brighton, Big Old Shane, Philip junior und Dan O’Flynn. Für die Zeit ihrer Abwesenheit hatte Old O’Flynn das Kommando über den Zweimaster übernommen. Der Rest der Crew wartete auf die Rückkehr der fünf Mannen und nahm die Gelegenheit wahr, sich ein wenig im Hafen von Üsküdar umzuschauen.
Der alte O’Flynn und die Männer an Bord der Dubas behielten die Piers und den Kai unablässig im Auge. Aber von den Banditen war nichts zu sehen. Die Porceddus und ihre Kerle mochten die Dubas verfolgt haben, aber in die Stadt wagten sie sich offenbar nicht – aus triftigen Gründen.
So übersahen die Arwenacks im Büchsenlicht die drei Gestalten, die den Haydars und den fünf Mannen folgten. Aber auch Dan O’Flynn, der immer wieder über die Schulter zurückblickte, entdeckte die Verfolger nicht.
„Bist du sicher, daß wir die Kerle nicht im Nacken haben?“ fragte der Seewolf im Dahinschreiten.
„Ich kann nichts Verdächtiges erkennen“, erwiderte Dan. Er kniff die Augen etwas zusammen. Viele Menschen waren in den Gassen unterwegs, doch es handelte sich ausnahmslos um Einheimische. Von den sardischen Banditen war nichts zu sehen.
Philip junior sprach die Haydars auf die Sarden an.
Kemil Haydar schüttelte lächelnd den Kopf. „Nein, so dumm sind die Kerle nicht, daß sie sich freiwillig in die Falle begeben. Ihre Gesichter sind überall bekannt. Es braucht sie nur ein Soldat der Stadtgarde zu erkennen, und schon sind sie geliefert.“
Hasard und seine Männer waren beruhigt. Was der Kaufmann sagte, leuchtete ihnen ein. Sicherlich lauerte die Porceddu-Bande vor den Toren der Stadt – irgendwo im Wald – und brütete finstere Rachepläne aus.
Bald hatten die Männer das Wohnhaus der Haydars erreicht. Ein richtiger Palast im Zentrum von Üsküdar – mit Arabesken, Säulen, Marmorfußböden und vielen üppigen Verzierungen. Ben und Shane setzten ehrfürchtige Mienen auf.
„Das ist ja ein richtiges Schloß“, sagte Ben.
„Prunkvoller als Arwenack Castle“, fügte Shane hinzu.
Hasard grinste. „Die Geschäfte unserer neuen Freunde scheinen gut zu laufen.“
Kemil und Balat Haydar luden die fünf Mannen durch Gesten ein, an eins der Fenster in der Eingangshalle zu treten. Von hier aus konnte man auf den Innenhof blicken. Auf der gegenüberliegenden Seite befanden sich die Stallungen. Dort waren soeben die beiden Pferde eingetroffen.
„Seht ihr“, sagte Kemil Haydar mit einem verschmitzten Lächeln. „Die Tiere sind eher eingetroffen als wir.“
„Na, die haben bestimmt Hunger“, sagte Dan.
„Lieber Kapitän Killigrew, ich möchte Sie und Ihre Männer zu einem Umtrunk einladen“, sagte Kemil Haydar. Es klang feierlich.
„Das nehmen wir gern an“, entgegnete der Seewolf.
„Ich weiß schon“, murmelte Sahne. „Es gibt Fruchtsaft und Datteln. Oder süßen Kuchen.“
Kurz darauf saßen die Männer in einem saalähnlichen Raum auf Kissen und ließen sich von den Dienern der Haydar-Familie bewirten. Milch und Säfte wurden serviert, dazu Gebäck.
Aber das kannten die Arwenacks bereits zur Genüge. Alkohol existierte im Orient offiziell überhaupt nicht. Der Koran verbot den Genuß von Wein und Schnäpsen. Nur hier und dort konnte man unter der Hand einen „ordentlichen Tropfen“ erstehen.
Kemil Haydar erkundigte sich im Verlauf der Unterhaltung, die nun begann, höflich nach der Herkunft der Arwenacks. Hasard gab ihm bereitwillig Auskunft und berichtete von den Reisen, die er mit seiner Crew unternommen hatte. Staunend hörten Vater und Sohn zu. Sie erfuhren vieles, was sie noch nicht gewußt hatten.
Anschließend erzählte Kemil Haydar seinen Gästen alles über die sardischen Banditen, was in Üsküdar über sie bekannt war. Es ging das Gerücht, daß sie in den Dodullu-Bergen in einem verwunschenen Gemäuer hausten, in der Burg des Scheitans.
Aber noch nie hatte sich jemand getraut, dort nach dem Rechten zu sehen. Es war eine Gegend, die von den Einheimischen gemieden wurde.
„Ich habe einen Berufskollegen in Beylerbey“, erklärte Kemil Haydar. „Er hat eine hübsche Tochter. Sie heißt Salome. Seit etwa zwei Wochen ist sie spurlos verschwunden. Banditen haben sie entführt.“
„Warum sucht dieser Kaufmann seine Tochter nicht?“ fragte der Seewolf.
„Er hat ein großes Aufgebot zusammengestellt“, erwiderte Kemil Haydar. „Und er hat tagelang nach ihrem Verbleib geforscht. Doch es ist ihm und seinen Männern nicht gelungen, auch nur eine Spur des armen Mädchens zu finden.“
„Warum haben sie nicht in der Burg des Scheitans nachgesehen?“ wollte Philip junior wissen.
„Keiner kennt den genauen Weg dorthin“, erwiderte der Kaufmann.
„Das kann doch nicht möglich sein“, sagte Dan O’Flynn.
„Und doch ist es so“, versetzte Haydar. „Es ist ihnen nicht gelungen, das Gemäuer zu finden.“
„Ich glaube eher, sie haben Angst, die Burg zu finden“, sagte Shane.
„Ein Vater, der seine verschwundene Tochter sucht, tut doch alles, um sie zurückzuholen“, erwiderte der Seewolf. „Ich verstehe die Zusammenhänge auch nicht ganz.“
Der Kaufmann stieß einen Seufzer aus. „Bei Allah und dem Barte des Propheten, ihr habt ja recht. Mein Freund aus Beylerbey hätte sich bis in die Höhle des Löwen gewagt. Doch seine Begleiter haben nicht mitgespielt. Sie fürchten den Fluch des Scheitans. Und allein konnte Salomes Vater nicht in die Burg eindringen.“
Hasard und seine Männer tauschten Blicke. „Wir würden es uns schon zutrauen, das Mädchen zu befreien und den Porceddus einen Denkzettel zu verpassen, den sie nicht vergessen“, sagte Hasard. „Ich werde mit meiner Crew darüber sprechen.“
„Es sind noch mehr Gefangene in der Burg“, sagte der Kaufmann.
„Und die Behörden von Üsküdar unternehmen nichts?“ fragte Ben Brighton verblüfft.
„Doch, es sind schon Soldaten in die Berge geritten“, erwiderte Kemil Haydar. „Aber auch sie haben nichts ausrichten können. Sie sind zurückgekehrt, ohne auch nur eine Fährte der Banditen zu entdecken.“
„Ein schwaches Bild“, sagte Dan. „Ich kann es verstehen, daß die Türken abergläubisch sind. Das sind die meisten Seeleute auch. Aber es muß doch einen Weg geben, die Gefangenen der Sarden zu befreien. Man kann doch nicht darauf warten, daß die Porceddus und ihre Hunde sie umbringen.“
„Wir kehren an Bord der Dubas zurück“, sagte der Seewolf. „Und dort beratschlagen wir.“ Er richtete seinen Blick auf Kemil Haydar. „Wären Sie bereit, uns Pferde zur Verfügung zu stellen, mein Freund?“
„Pferde, Waffen, Männer“, erwiderte der Kaufmann. „Alles, was Sie wollen. Und natürlich würden mein Sohn Balat und ich Sie begleiten.“
„Wir sehen uns morgen früh wieder“, sagte der Seewolf und erhob sich.
Kemil Haydar klatschte in die Hände. Ein Lakai erschien. Er trug ein rotes Kissen auf den Händen. Auf dem Kissen war ein glitzernder Gegenstand zu erkennen – eine Öllampe aus Gold.
„Dies ist mein Dankes-Geschenk für Sie und Ihre tapferen Männer, Kapitän Killigrew“, sagte der Kaufmann. „Die Lampe gehört zum privaten Schatz meiner Familie. Es ist ein sehr altes Stück. Ich weiß, daß Sie das Geschenk in Ehren halten und pflegen werden.“
Hasard hob ablehnend die Hand. „Das kann ich nicht annehmen.“
„Sie müssen es tun“, entgegnete Kemil Haydar. Um seine Mundwinkel zuckte es leicht. „Ich würde es als eine Beleidigung empfinden, wenn Sie dieses ehrlich gemeinte Geschenk zurückweisen würden.“
„Dad“, sagte Philip junior. „Du mußt es wirklich akzeptieren. Du kennst doch die Bräuche und Sitten im Orient.“
Der Seewolf atmete tief durch. Schließlich nickte er. „Also gut, Kemil, ich danke Ihnen.“
„Wir haben Ihnen zu danken.“ Vater und Sohn verneigten sich.
Hasard nahm das Geschenk entgegen. Die goldene Lampe war so blank, daß sich sein Gesicht darin spiegelte.
„Vater“, sagte Balat Haydar. „Ich möchte noch in die Moschee gehen und Allah dafür danken, daß er seine schützende Hand über uns gehalten hat.“
„Tu das, mein Sohn“, erwiderte der Kaufmann.
Balat verabschiedete sich von allen und verließ das Haus. Hasard und seine Mannen versprachen Kemil Haydar noch einmal, daß sie am nächsten Morgen wiederkommen würden. Dann traten auch sie aus dem palastähnlichen Gebäude auf die Straße.
Der Seewolf schaute Balat Haydar nach. Er konnte gerade noch sehen, wie der junge Mann in einer Gasse verschwand.
„Ganz allein?“ sagte Hasard nachdenklich. „Ist das nicht riskant?“
„Was denn?“ fragte Ben Brighton.
„Daß er keinen Begleiter mitnimmt. Zum Schutz.“
„Hier in der Stadt herrscht doch keine Gefahr für ihn“, sagte Big Old Shane.
„Trotzdem“, sagte der Seewolf. „Ich habe so ein merkwürdiges Gefühl. Besser, wir gehen ihm nach. Bis zur Moschee ist es sicher nicht sehr weit. Von dort aus können wir dann direkt zum Hafen zurückkehren.“
Die Brüder Porceddu und ihr Kumpan Brodzu hatten ihre Feinde bis zu dem Wohnhaus der Haydars verfolgt. Sie beobachteten, wie die Männer der Dubas und die Kaufleute im Inneren verschwanden. Die Banditen standen im Eingang einer Gasse. Hier konnten sie in der zunehmenden Dunkelheit nur von jemandem entdeckt werden, der direkt an ihnen vorbeiging.
Die Kerle berieten.
„Wir dringen in die Bude ein“, sagte Silvestro mit verkniffenem Gesicht. „Dort murksen wir einen nach dem anderen ab.“
„Zu gefährlich“, erwiderte sein Bruder. „Laß uns lieber warten.“
„Ah! Hast du etwa Angst?“
Dario sah Silvestro an. Fast wirkte es, als wolle er sich auf ihn stürzen. Doch Brodzu stieß plötzlich einen warnenden Laut aus. Zwei Gestalten schritten unmittelbar am Eingang der Gasse vorbei – türkische Soldaten.
Die Sarden zogen sich zurück. Zu spät. Die Soldaten, Mitglieder der Stadtgarde, hatten die Köpfe gedreht und waren auf sie aufmerksam geworden.
„Heda“, sagte der eine. „Stehenbleiben!“
Dario gab seinen beiden Begleitern einen Wink. Silvestro hatte schon sein Messer in der Hand. Doch es hatte keinen Sinn, sich mit den Soldaten anzulegen. Es konnten sich noch andere Gardisten in der Nähe befinden.
Aus Erfahrung wußte Dario, daß man im Handumdrehen ein ganzes Dutzend von ihnen auf dem Pelz haben konnte. Sie riskierten, im Kerker zu landen. Und was sie dann erwartete, ließ sich ohne Scharfsinn ausrechnen: das Schwert des Henkers.
Dario, Silvestro und Brodzu ergriffen die Flucht. Sie stürmten die Gasse entlang und bogen in einen schmalen Seitengang ein. Von hier aus eilten sie auf einen winzigen Hof. Hinter sich hörten sie das Trappeln der Soldatenstiefel.
Brodzu deutete auf eine Tür. Silvestro versuchte, sie aufzustoßen. Doch die Tür war verriegelt. Silvestro und Brodzu warfen sich mit den Schultern dagegen, da gab der Riegel nach. Sie drückten die Tür auf. Rasch schlüpften sie durch den Spalt ins Innere. Dario folgte ihnen, nachdem er noch einen prüfenden Blick über die Schulter zurückgeworfen hatte.
Offenbar waren die Soldaten in der Gasse weitergelaufen. Sie hatten nicht bemerkt, daß die drei Männer in den Gang abgebogen waren. Doch das war kein Anlaß zu großen Hoffnungen. Bald würden sie umkehren und alles absuchen. Und dann stießen sie zwangsläufig auch auf den kleinen Hof und sahen in allen Häusern nach, ob sich hier jemand versteckt hatte.
Dario, Silvestro und Brodzu standen in einem Warenlager, das mit Kleidung und Stoffen bis unter die Decke vollgestopft war. Sie atmeten tief durch und blickten sich in dem Raum um – da stand plötzlich ein kleiner Mann mit einem Fes vor ihnen und fuchtelte mit den Händen.
„Was wollt ihr hier?“ stieß das Männchen wütend hervor. „Was habt ihr hier zu suchen? Wie seid ihr überhaupt reingekommen?“
„Zu viele Fragen“, entgegnete Dario.
„Ich rufe die Garde!“
„Nein.“ Dario schüttelte den Kopf. „Das wirst du nicht tun.“
Etwas blitzte in seiner Hand auf. Das Messer. Es zuckte durch die Luft – und das Männchen brach röchelnd zusammen. Dario hatte gut gezielt und ebenso perfekt getroffen. Das Messer steckte im Hals des Mannes.
„Rasch!“ zischte Silvestro. „Weg mit dem Kerl!“
Sie verbargen die Leiche unter Stoffballen. Dario hatte sich eingehender umgeschaut und deutete auf einen Stapel Kleidung.
„Da müßte für uns was dabeisein!“ raunte er. „Schnell!“
Kurz darauf verließen drei Gestalten in langen türkischen Gewändern das Gebäude, in dem sich das Lager befand, durch die Vordertür. Keiner behelligte die Banditen. Jeder trug einen Fes. Sie mischten sich unter das Volk und fielen keinem auf – auch nicht den beiden Soldaten, die an ihnen vorbeimarschierten und sich nach allen Seiten umschauten.
Dario grinste seinem Bruder zu. „Wie haben wir das hingekriegt?“ flüsterte er.
Silvestro war jetzt besser gelaunt. Er grinste ebenfalls.
„Wie in alten Zeiten“, entgegnete er.
Nur wenige Minuten verstrichen, und sie standen wieder dem Palast der Haydar-Familie gegenüber. Dario stieß Silvestro mit dem Ellenbogen an. Ein junger Mann verließ das Gebäude – Balat Haydar.
„Na so was, wen haben wir denn da?“ raunte Brodzu.
„Das Söhnchen vertritt sich die Füße“, murmelte Dario.
„Ganz allein“, fügte Silvestro leise hinzu.
„Ist das was?“ fragte Brodzu.
Dario nickte. „Und ob. Den greifen wir uns.“
„Es wird mir ein Vergnügen sein, ihm die Kehle durchzuschneiden“, sagte Silvestro.
„Heb dir das für später auf“, erwiderte Dario mit verhaltener Stimme. „Erst nehmen wir das Bürschchen nur gefangen. Er ist die beste Geisel, die es gibt. Mit ihm als Gefangenen dringen wir bei Papa Haydar ein und verlangen die Herausgabe sämtlicher Gelder. Wenn wir die Gelder haben, räumen wir mit dem ganzen Pack auf.“
Silvestros Augen flackerten. „Du glaubst, daß das wirklich klappt?“
„Ja.“
„Dann los“, erwiderte Silvestro. „Ich bin einverstanden.“
Sie hefteten sich an Balat Haydars Fersen, ohne daß dieser etwas davon bemerkte. Allmählich holten die drei Sarden etwas auf. Der Abstand zwischen ihnen und ihrem auserkorenen Opfer schrumpfte zusammen. Doch bevor sie ihn ganz erreichten, verschwand Balat im Inneren einer großen Moschee.
Dario grinste hämisch. „Ist das nicht herrlich? Söhnchen betet zu Allah und bittet ihn darum, daß alle bösen Buben krepieren mögen. Aber ich glaube, wir stören ihn ein bißchen dabei.“
Brodzu kicherte. „Ja, irgendwie können wir das nicht zulassen. Er wird wohl nur Schlechtes über uns sagen.“
„Los“, sagte Silvestro. „In unserer Verkleidung erregen wir nicht den geringsten Verdacht. Man wird uns für echte Moslems halten.“
„Die Idee mit den Klamotten war wirklich gut“, meinte Brodzu.
Die Banditen schritten auf den Eingang der Moschee zu. Sie schauten sich noch einmal nach allen Seiten um. Aber nirgends war auch nur der Schatten eines Gardisten zu entdecken. Sie waren hier völlig ungestört. Mit gezügelter Hast betraten sie das Innere des Bethauses. Kühle schlug ihnen entgegen.
Auf dem mit Teppichen ausgelegten Boden der Moschee knieten die Betenden. Sie verneigten sich in Richtung Mekka, bis ihre Stirn den Boden berührte.
Dario, Silvestro und Brodzu hatten keine Schwierigkeiten, Balat Haydar unter den Gläubigen zu entdecken. Der junge Mann kniete etwas weiter rechts, halb hinter einer Säule versteckt.
Dario grinste seinen Bruder und Brodzu an. Sehr gut – sie würden Balat überwältigen und wegschleppen, ohne daß einer der anderen Türken es registrierte. Zu dritt hatten sie leichtes Spiel mit ihm. Ein Hieb, und er war bewußtlos.
Das Trio würde nicht einmal Geräusche verursachen. Alles sollte sich lautlos abspielen, mit der nötigen Diskretion sozusagen. Schließlich befand man sich in einem Gotteshaus.
Hasard, Ben, Shane, Dan und Philip junior folgten Balat Haydar in einiger Entfernung durch die Gassen von Üsküdar. Einmal verloren sie ihn fast aus den Augen. Aber Dan entdeckte ihn wieder. Der Seewolf wahrte weiterhin die Distanz. Er wollte auf keinen Fall, daß der Sohn des Kaufmannes darauf aufmerksam wurde, daß sie ihn beschatteten.
Dan war der erste, der auf die drei Fes-Träger aufmerksam wurde.
„Seht mal“, sagte er. „Die drei Türken da. Ich glaube, die sind auch hinter Balat her.“
„Vielleicht sind es Freunde von ihm“, sagte Ben Brighton.
„Möglich ist es“, sagte Hasard. Er beobachtete die drei Männer mit den langen Gewändern und dem Fes. Es entging ihm nicht, daß sie die Köpfe zusammensteckten und auf Balat deuteten.
Die Moschee tauchte vor den Mannen auf. Balat betrat sie – und kurz nach ihm verschluckte der Eingang auch die drei Fes-Männer.
„Das ist mir nicht ganz geheuer“, sagte der Seewolf. „Los, hinterher!“
„Dad“, sagte Philip. „Du weißt, daß es Ungläubigen untersagt ist, eine Moschee zu betreten.“
„Das ist mir bekannt“, entgegnete sein Vater. „Aber das ist mir jetzt egal. Außerdem bin ich kein Ungläubiger. Ich glaube ja an einen Gott.“
„Trotzdem sind wir für die Türken Giaurs“, sagte Dan. „Hoffentlich geht das gut.“
Sie stiegen die wenigen Treppenstufen zum Eingang der Moschee hoch. Dann betraten sie das Kirchenschiff. Hasard wurde sofort wieder auf die drei Fes-Träger aufmerksam. Sie steuerten nach rechts – dorthin, wo Balat kniete und betete.
„Achtung!“ raunte der Seewolf seinen Mannen zu.
Von links näherten sich im selben Moment zwei Moscheewächter. Sie waren ganz in Weiß gekleidet, trugen als Waffen Säbel und zeigten finstere Mienen. Allein die Anwesenheit von Giaurs versetzte sie in Zorn. Kein Ungläubiger durfte Allahs Tempel beschmutzen und gegen die Gesetze des Korans verstoßen.
Hasard schritt auf Balat zu. Hinter ihm waren Ben und Shane, dann folgte Dan. Philip junior wandte sich den Wächtern zu und sagte etwas auf türkisch. Die Aufpasser erwiderten etwas Barsches. Einer von ihnen gestikulierte heftig.
Vor Hasard drehten sich die drei Fes-Träger halb um und blickten zu den Wächtern. Dann sahen sie zu Hasard. Der Seewolf erkannte zwei der Gesichter wieder. Die Banditen! Sie waren ihnen also doch bis nach Üsküdar gefolgt.










