Seewölfe Paket 29

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„Die Bastarde!“ zischte Dario Porceddu seinem Bruder zu.
Brodzu hatte schon das Messer in der Hand.
„Stirb, du Hurensohn!“ stieß Brodzu aus. Er wollte sein Messer auf Hasard schleudern.
Dario und Silvestro trafen unterdessen Anstalten, sich auf Balat Haydar zu stürzen. Der junge Mann hob in diesem Augenblick den Kopf.
Hasard handelte gedankenschnell. Sein rechter Fuß zuckte hoch und traf Brodzus Unterarm. Brodzu stöhnte auf. Der Seewolf sprang auf ihn zu und rammte ihm beide Fäuste mit voller Wucht gegen die Brust. Brodzu prallte zurück.
Ben und Shane waren bei Balat. Shane schlug Dario Porceddu die Faust ans Kinn, und der Sarde flog gut zwei Yards zurück. Er stieß gegen eine Säule und sank zu Boden. Silvestro wollte Shane mit dem Messer angreifen, aber es war Ben, der ihn daran hinderte. Ein Tritt beförderte Silvestro zu Dan. Dan hieb dem Kerl blitzschnell die Handkante auf die Schulter. Silvestro stöhnte auf und sank in die Knie.
Balat war vor Entsetzen wie gelähmt. Hasard eilte zu ihm, griff ihm unter die Achseln und zog ihn einfach weg. Er entfernte ihn aus dem unmittelbaren Gefahrenbereich.
Inzwischen waren auch die Wächter heran. Philip junior versuchte, ihnen den Sachverhalt auseinanderzusetzen, aber sie hörten nicht auf ihn. Für sie war die Lage klar. Giaurs waren gesetzeswidrig in die Moschee eingedrungen und brachen einen Streit vom Zaun. Ein Attentat! Sie griffen harmlose Muselmanen an. Man mußte sie festnehmen und vor den Kadi zerren – oder sie am besten gleich töten.
Die Türken, die eben noch in ihrem Gebet versunken gewesen waren, sprangen auf und schrien durcheinander. Weitere Wachen stürmten herbei. Plötzlich war der Teufel los.
Dario, Silvestro und ihr schwarzbärtiger Kumpan nutzten das Durcheinander. Sie sahen, daß es keinen Sinn mehr hatte, weiterzukämpfen. Balat Haydar war für sie ein unerreichbares Ziel geworden. Er war von den Bastarden und den Moscheehütern umringt, und es stießen immer mehr Türken hinzu.
„Weg!“ zischte Dario.
Es ging um die nackte Haut. Die drei Banditen mußten ihren Kopf retten. Nur Schnelligkeit konnte ihnen helfen. Sie waren noch benommen von den Hieben, die sie hatten einstecken müssen, aber sie konnten schon wieder laufen. Und so rappelten sie sich auf und liefen weg – durch die Moschee zum Ausgang, die Treppenstufen hinunter und ab in die nächste Gasse.
Hasard und seine Männer wollten die drei Banditen zurückhalten, aber die Wächter ließen sie nicht passieren. Schon blitzten die Säbel auf und hoben sich drohend über die Köpfe der Arwenacks.
Jetzt war es Balat Haydar, der die Initiative ergriff.
„Halt!“ rief er. „Erdreistet euch nicht, diese Männer anzugreifen! Sie haben mir soeben das Leben gerettet!“
„Sie sind Giaurs!“ brüllte einer der Wächter.
„Sie sind Freunde!“ stieß der junge Kaufmann hervor. „Sie haben meinen Vater und mich heute schon einmal vor dem Schlimmsten bewahrt! Banditen haben uns verfolgt! Die Sarden!“
„Die Sarden?“ murmelten die Türken. Entsetzt blickten sie sich nach allen Seiten um.
„Die drei, die eben weggelaufen sind, sind die Führer der Bande“, erklärte Philip junior. „Ihr könnt sie noch fassen.“
Endlich begriffen die Moscheewächter.
„Alarm!“ schrie ihr Anführer. „Banditen in der Stadt! Sarden! Faßt sie! Enthauptet sie! Riegelt alles ab!“ Er stürzte ins Freie, gefolgt von seinen Leuten.
In Nu herrschte in Üsküdar das reine Chaos. Die Nachricht, daß gefährliche Banditen in die Stadt, ja, sogar in die Moschee eingedrungen waren, verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Die Bürger verbarrikadierten sich in ihren Häusern. Soldaten rannten durch die Gassen.
Und plötzlich wurde auch bekannt, daß ein Stoffhändler erstochen worden war. Sein Gehilfe hatte die Leiche entdeckt. Dort also hatten die Banditen die Kleidung geraubt, mit der sie vermummt gewesen waren.
Kemil Haydar traf mit vier Dienern bei der Moschee ein. Er atmete auf, als er seinen Sohn in Begleitung der Seewölfe vor dem Eingang erkannte.
„Allah sei gepriesen“, sagte er. „Ich habe gerade erfahren, was geschehen ist. Es war ein unverzeihlicher Fehler von mir, dich allein zur Moschee zu schicken, Balat.“
„Nein“, entgegnete der Seewolf. „Wir haben einen Fehler begangen. Wir sind nicht aufmerksam genug gewesen. Wir hätten merken müssen, daß uns die Kerle folgten.“
„Hölle und Teufel“, sagte Dan O’Flynn. „Ich muß wohl Tomaten auf den Augen gehabt haben.“
Es war dunkel geworden. Die Männer sahen zu den Soldaten und Wächtern, die von allen Seiten zusammenliefen.
„Ich hoffe, sie werden es schaffen, diese Banditen zu stellen“, sagte Kemil Haydar.
Hasard schüttelte den Kopf. „Die Sarden haben bereits einen zu großen Vorsprung. Es hat deshalb keinen Sinn, daß auch wir sie verfolgen.“
„Kehren wir lieber zur Dubas zurück“, sagte Ben drängend. „Donegal und die anderen werden sich fragen, was passiert ist.“
„Ja, geht zu euren Freunden“, sagte Kemil Haydar. „Wir erwarten euch dann morgen früh.“ Er legte seinen Arm um die Schulter seines Sohnes und zog ihn mit sich fort. „Du bist heute zweimal neu geboren, Balat. Es kann nur Allah gewesen sein, der uns diese Männer geschickt hat, sonst wären wir beide verloren gewesen.“
Hasard, Ben, Shane, Dan und Philip blickten den beiden noch nach, wie sie mit den Dienern in einer Gasse verschwanden. Dann gingen sie zum Hafen.
Old O’Flynn und die Crew hatten natürlich die Soldaten gesehen, die auch am Kai zusammenliefen. Lichter flammten auf. Der Schein von Fackeln tanzte durch die Gassen. Der Alte ließ vorsichtshalber die Waffen bereithalten, obwohl es nicht so aussah, als ob der Aufruhr ihnen galt. Aber man konnte ja nie wissen.
Endlich trafen Hasard und seine vier Mannen auf der Pier ein.
„Beim Henker!“ wetterte Old O’Flynn. „Schockschwerenot, wo seid ihr bloß gewesen und was ist geschehen?“
„Eins nach dem anderen“, erwiderte der Seewolf und enterte an Bord. „Daß uns nichts zugestoßen ist, seht ihr ja. Also beruhigt euch.“
„Wer regt sich denn auf?“ fragte Carberry. „Ich bin die Ruhe in Person. Von mir aus kann der Himmel runterfallen, auch das kann mich nicht mehr erschüttern.“
Hasard berichtete, was sich zugetragen hatte. Die Mannen fluchten und schimpften. Sie konnten nicht fassen, daß die Sarden um ein Haar den jungen Haydar gefangengenommen oder gar getötet hätten.
„Die größte Schuld habe ich“, sagte Dan. Er war ziemlich niedergeschlagen.
„Unsinn“, erwiderte der Seewolf. „Von Schuld kann nicht die Rede sein. Und Fehler können passieren. Keiner ist perfekt, merkt euch das. Ich finde, es ist sinnlos, sich darüber jetzt noch den Kopf zu zerbrechen. Die Hauptsache ist, daß wir Balat Haydar beschützt haben. Im übrigen haben wir jetzt noch einen zusätzlichen Grund und Anlaß, diesen Porceddu-Kerlen einen Denkzettel zu verpassen.“
„Ja, ganz meine Meinung“, sagte der Profos. „Aber wie erwischen wir diese Halunken?“
„Wir besuchen sie in ihrem Schlupfwinkel“, sagte Hasard. „Was haltet ihr davon?“
Die Mannen waren sofort Feuer und Flamme.
Carberry grinste wie der Leibhaftige und sagte: „Aber wenn du mich nicht mitnimmst, Sir, mustere ich auf der Stelle ab.“
Hasard ließ Mac Pellew zwei Flaschen Brandy holen. Im Schein der Bordlaterne hockten sich die Männer zusammen und beratschlagten, wie das Unternehmen am nächsten Tag ablaufen sollte.
Es würde nicht ganz leicht sein, die Burg des Scheitans zu finden und dort einzudringen. Man mußte sich entsprechend darauf vorbereiten.
Dario, Silvestro und Brodzu liefen um ihr Leben. Sie hatten die Soldaten im Nacken. Jeden Augenblick konnten jene, die hinter ihnen her waren, aufholen. Oder aus einer Seitengasse sprangen weitere Gardisten hervor. Oder es stürmten den drei Banditen sogar noch Türken entgegen. Dann waren sie geliefert.
Doch einen Verbündeten hatten die Sarden – die Dunkelheit. Im Laufen warfen sie die Tarnkleidung ab. Ihre dunklen Monturen ließen sie zu Schemen in der Finsternis werden.
„Schneller!“ zischte Dario.
„Kannst du fliegen?“ stieß sein Bruder aus.
Brodzu äußerte lieber gar nichts. Er hastete dahin. Sein Atem ging pfeifend und unregelmäßig. Er spürte Stiche in den Seiten. Er war daran gewohnt, stundenlang auf dem Rücken eines Pferdes zu reiten, nicht aber seine eigenen Beine zu benutzen. Er schwitzte. Sehr lange würde er diese Hetzerei nicht mehr durchhalten, das wußte er.
Aber jetzt hatten die Banditen den Platz erreicht, an dem sie ihre Pferde zurückgelassen hatten. Sie stolperten auf den Hof und banden die Zügel ihrer Tiere los. Fluchend schwangen sie sich in die Sättel.
Plötzlich waren Türken auf dem Hof.
„Das sind die Banditen!“ schrie einer von ihnen. „Sie werden in der Stadt gesucht!“
„Packt sie!“ brüllte ein anderer. „Laßt sie nicht entwischen!“
„Sie sind Mörder!“ kreischte irgendwo eine Frau.
Die Türken waren mit wenigen Sätzen bei den Banditen. Aber Dario, Silvestro und Brodzu hatten ihre Pistolen gezückt. Wild feuerten sie um sich. Die Schüsse krachten, die Türken heulten und fluchten.
Die Brüder Porceddu und ihr schwarzbärtiger Kumpan galoppierten vom Hof. Hinter ihnen brachen zwei der Türken getroffen zusammen.
Das Trio raste durch die Nacht. Rasch erreichten sie den ersten Hang, der sie zu den bewaldeten Hügeln hinaufführte. Dann preschten sie auf die Stelle zu, wo sie sich von ihrer Meute getrennt hatten. Dario rief das vereinbarte Losungswort. Als Antwort ertönte ein Pfiff.
„Was ist passiert?“ rief einer der wartenden Banditen. „Wir haben Schüsse gehört!“
„Großartig“, erwiderte Dario spöttisch. „Schwerhörig seid ihr also nicht.“
„Fast hätten wir uns den Haydar-Bastard geschnappt“, erklärte Silvestro. „Aber das erzählen wir euch später. Los, Beeilung jetzt! Wir haben die Stadtgarde am Hals! Wir müssen hier verschwinden, bevor uns die Hunde entdecken!“
Dario, Silvestro und Brodzu setzten sich an die Spitze der Meute. Dann tauchten die Reiter in der Nacht unter. Wenig später erschienen tatsächlich berittene Gardisten im Wald. Aber sie konnten keine Spur von den Banditen finden. Zwar suchten sie alles mit Hilfe von Fackeln ab. Doch es gab keinen einzigen Hufabdruck auf dem harten Untergrund. Die Soldaten mußten die Jagd abbrechen.
Die Sarden jagten durch die Dunkelheit. Keiner sprach ein Wort, während sie dahinpreschten. Nur Brodzu stieß einmal einen Fluch aus, als sein Pferd zu straucheln begann. Es gelang ihm aber, das Tier wieder voll in seine Gewalt zu bekommen.
Wie ein drohender Klotz ragte die Burg des Scheitans in der Dunkelheit auf. Dario rief die Parole, und die Banditen, die als Wachtposten indem Gemäuer zurückblieben waren, öffneten das Tor. Die Meute ritt auf den Hof. Dario zügelte sein Tier und glitt aus dem Sattel.
„Ihr braucht nicht so blöd zu glotzen!“ fuhr er die Wächter an. „Der Überfall ist schiefgelaufen!“
„Keine Beute“, fügte Silvestro hinzu. „Wir können noch von Glück sagen, daß wir mit heiler Haut zurückgekehrt sind.“
„Wie kann das angehen?“ fragte einer der Kerle.
Brodzu klopfte ihm mit der Rechten auf die Schulter. „Laß nur, ich erklär’s dir gleich noch. Was wir jetzt brauchen, ist was zu saufen.“
„Wo sind die Weiber?“ fragte Silvestro heiser.
„In ihren Kammern, wie üblich“, erwiderte einer der Posten.
„In einer halben Stunde will ich sie alle im großen Saal haben“, sagte Silvestro Porceddu. „Schleppt zwei Fässer Wein herbei. Der Wein soll in Strömen fließen.“
„Was feierst du?“ fragte Dario. „Unsere Niederlage?“
„Halt bloß dein großes Maul!“ sagte Silvestro gehässig.
„Wir sollten uns besser einen Plan zurechtlegen, wie wir die Haydars und die Kerle von dem Zweimaster doch noch erledigen können“, sagte Dario.
Silvestro sah seinen Bruder an, als wolle er ihm an die Gurgel springen. „Ach ja? Was denkst du wohl, was ich vorhabe? Wenn ich eine Gallone Wein im Bauch habe, fange ich mit dem Nachdenken an. Wußtest du das nicht? Wie gut kennst du mich eigentlich?“
„Wir könnten heute nacht in den Hafen von Üsküdar schleichen und den Zweimaster versenken“, sagte Dario.
„Zu früh“, entgegnete sein Bruder. „Die Türken sind heute nacht auf der Hut. Wir haben ein paar von ihnen abserviert. Glaubst du, die lassen die Stadt und den Hafen unbewacht?“
„Das bestimmt nicht“, brummte Brodzu.
„Was schlägst du vor, Silvestro?“ fragte Dario.
„Fällt dir nichts ein, du Klugscheißer?“
Dario holte tief Luft. „Hör zu, laß uns jetzt nicht streiten. Das hat keinen Sinn. Das würde den Absichten der Hurenknechte und Bastarde in Üsküdar nur entgegenkommen.“
Silvestro war wieder etwas versöhnlicher gestimmt. „Ja, schon gut. Also, wir sollten heute nacht und morgen den ganzen Tag über abwarten. Je mehr Zeit vergeht, desto besser.“
„Und die Fremden hauen mit der Dubas ab“, sagte Brodzu.
Silvestro schüttelte den Kopf. „So schnell läßt Haydar die Kerle doch nicht reisen. Er hat ihnen einiges zu verdanken. Erst haben sie ihm und seinem Sohn das Leben gerettet. Dann haben sie auch noch verhindert, daß wir dieses Bürschchen packen und entführen. Der Pfeffersack wird sie mindestens zwei, drei Tage bewirten.“
„Das leuchtet mir ein“, sagte Dario.
„Mir auch“, murmelte Brodzu.
„Ja, so wird’s sein“, sagte ein anderer Bandit.
„Und wir kehren nach Üsküdar zurück, wenn keiner mehr mit unserem Besuch rechnet“, sagte Silvestro Porceddu. „Die Türken und diese Seefahrer sollen denken, daß sie uns endgültig verjagt haben. Wenn sie sich richtig sicher fühlen, schlagen wir wieder zu. Dann sind sie nicht mehr so wachsam. Wir werden den Zweimaster versenken und allen die Gurgel durchschneiden. Wir stecken das Haydar-Haus in Brand – aber erst, nachdem wir uns das ganze Geld geholt haben.“
„Eine gute Idee“, sagte Brodzu.
„Ja, hört sich nicht schlecht an“, pflichtete Dario ihm bei. „Wir müssen nur die Geduld aufbringen, solange zu warten.“
Silvestro grinste. „Das dürfte uns nicht schwerfallen. Wir haben hier ja unseren Zeitvertreib.“
Die Wachtposten hatten sich von den anderen Banditen erzählen lassen, was sich am Bosporus und in Üsküdar zugetragen hatte. Einer von ihnen trat jetzt auf die Brüder Porceddu zu.
„Was sind das für Fremde?“ fragte er. „Woher kommen diese Kerle, die euch angegriffen haben?“
„Keine Ahnung“, erwiderte Dario. Er hob die Schultern und ließ sie wieder sinken.
„Ich bin doch kein Hellseher“, sagte Silvestro unwirsch. „Türken sind sie auf keinen Fall. Sie sind Giaurs, also Europäer wie wir.“
„Griechen? Italiener?“ wollte der Kerl wissen.
„Eine bunt zusammengewürfelte Horde“, erklärte Brodzu. „Wenn ich mich nicht täusche, haben sie sogar einen Nigger dabei, so einen schwarzen Hund. Ja, und einen Papagei und einen Affen habe ich auch an Bord des verfluchten Kahns gesehen.“
„Sie haben also Wunderwaffen?“ fragte ein anderer Wächter der Burg.
„Wunderwaffen gibt’s nicht“, entgegnete Silvestro barsch. „Schreib dir das hinter die Löffel.“
„Aber – was ist mit den explodierenden Flaschen?“ fragte ein Kerl, der unmittelbar neben Brodzu stand.
Brodzu stieß einen grunzenden Laut aus. „Ich sehe das so. Die Hunde füllen die Flaschen mit Pulver und Blei ab, stecken eine Lunte rein und zünden sie an. Dann schmeißen sie die Flaschen zu ihrem Gegner rüber.“
„Genial“, sagte ein Bandit. „Warum machen wir das nicht auch?“
„Du Idiot, ich kopiere nichts von einem Todfeind“, antwortete Dario. „Jeder hat seine eigene Kampfmethode. Diese Burschen haben unsere Methode nur noch nicht richtig kennengelernt.“
„Also schön“, sagte Silvestro Porceddu. „Ich gehe jetzt erst mal nach oben. Wir treffen uns dann im Saal.“
Er stapfte davon. Dario, Brodzu und die anderen blickten ihm nach. Sie verspürten jetzt ebenfalls Durst. Ja, der Wein würde sie aufmuntern und die Müdigkeit aus ihren Knochen vertreiben. Hunger hatten sie auch – nicht nur auf Brot, Wurst und Käse, sondern auch auf die Frauen.
Dario Porceddu dachte wieder an Salome. Du gehörst mir, dachte er, und du wirst meine ergebene Sklavin sein. Sonst geht es dir schlecht.
6.
Am nächsten Morgen verließ der Seewolf mit einer Abordnung seiner Mannen die Dubas. Dieses Mal waren Ferris Tucker, Don Juan de Alcazar, Carberry und Hasard junior bei ihm. Sie schritten durch das Hafenviertel und die Altstadt, neugierig beäugt von den Türken, die aus allen Himmelsrichtungen zusammenliefen.
Allerdings war der Anlaß für das Treiben nicht die Anwesenheit der „Giaurs“, sondern die Tatsache, daß an diesem Tag Markt abgehalten wurde. Alles, was Beine hatte, traf sich am Basar. Hasard und seine Kameraden sahen sich das bunte Durcheinander eine Weile an. Dann begaben sie sich zu Kemil Haydar und dessen Sohn Balat.
Die ganze Zeit über schauten sich die Arwenacks prüfend nach allen Seiten um. Doch dieses Mal gab es keine Schatten, die ihnen folgten. Im übrigen patrouillierten überall die Soldaten der Garde. Die Porceddus und ihre Spießgesellen wären wahnsinnig gewesen, wenn sie sich bei den jetzt herrschenden Zuständen erneut nach Üsküdar getraut hätten.
„So dumm sind die nicht“, sagte der Seewolf, als er sich mit seinen Mannen über das Thema unterhielt. „Sie geben ihre Rachepläne gewiß nicht auf. Aber sie werden eine Weile abwarten, bis sie wieder zuschlagen.“
Ferris Tucker grinste breit. „Und in der Zwischenzeit kommen wir ihnen zuvor, wie?“
„So stelle ich mir das vor“, entgegnete Hasard.
„Höllenflaschen habe ich genug zur Verfügung“, meinte der rothaarige Riese.
„Das weiß ich.“ Der Seewolf blieb im Eingang des prunkvollen Hauses stehen und wandte sich zu seinen Begleitern um. „Ich schätze, wir werden dieses Mal aber auch ein paar Brandsätze mitnehmen. Wir wissen ja nicht genau, mit wie vielen Gegnern wir es zu tun haben.“
Das wußte auch Kemil Haydar nicht. Der Kaufmann empfing sie in seinem mit Brokat und Samt tapezierten Privatgemach. Lakaien bewirteten die Gäste – wieder mit Fruchtsäften und anderen süßen Sachen.
„Keiner weiß über die Stärke der Bande Bescheid“, erklärte der Kaufmann, nachdem sie die üblichen Höflichkeiten ausgetauscht hatten. „Man kann sie nur schätzen. Ich glaube, es sind an die drei Dutzend Kerle.“
„Es können aber auch vier Dutzend sein“, gab der Seewolf zu bedenken. „Wenn sie zu einem Überfall ausrücken, bleiben bestimmt einige Kerle in der Burg des Scheitans zurück. Sie müssen den Schlupfwinkel bewachen. Das dürfen wir nicht vergessen.“
„Und sie müssen auch auf die Gefangenen aufpassen“, sagte Don Juan.
„Wie viele Frauen und Mädchen befinden sich in der Gewalt der Bande?“ erkundigte sich Ferris Tucker bei dem Kaufmann.
Kemil Haydar zuckte mit den Schultern. „Auch darüber kann man nur Vermutungen anstellen. Keiner hat die Zahl der Verschwundenen genau verfolgt.“
„Tolle Zustände“, urteilte der Profos. „Wir haben also im Grunde von nichts eine Ahnung und wissen auch nicht einmal, wo sich die Burg der Kerle genau befindet.“
„So ist es“, erwiderte der Kaufmann. „Ihr müßt die Burg suchen. Ich werde euch natürlich begleiten, und auch Balat wird mit dabeisein. Den Weg in die Dodullu-Berge kenne ich. Dort werden wir uns bei Tag umsehen, und vielleicht treffen wir jemanden, der uns weiterhilft.“
Hasard schüttelte den Kopf. „Nein, das kommt nicht in Frage. Ich halte es für einen Fehler, wenn ihr mitkommt. Die Porceddus werden nicht zögern, Sie beide kaltblütig aus dem Weg zu räumen, Kemil.“
„Auch ihr setzt euer Leben aufs Spiel“, entgegnete Haydar.
Don Juan de Alcazar lächelte. „Das ist schon richtig. Aber wir sind gewohnt, eine Menge zu riskieren. Ihr hingegen seid keine Kämpfer. Ich will Ihnen genauer erklären, was mein Kapitän meint. Die Porceddus haben sicherlich Späher und Kundschafter, die die Umgebung der Burg im Auge behalten. Angenommen, die entdecken uns. Dann kann jeder Heckenschütze zwei bis drei von uns aus dem Sattel schießen.“
„Und wenn es euch erwischt“, sagte der Seewolf zu dem Kaufmann, „tragen wir die Verantwortung dafür.“
Kemil Haydar sagte verwirrt: „Aber – genauso ergeht es mir, wenn euch etwas zustößt!“
„Nein, nein“, widersprach der Profos. „Wir nehmen das auf unsere Kappe. Wir haben mit diesen Porceddu-Kerlen ein persönliches Hühnchen zu rupfen. Und wir wollen die Ladys aus dem Gemäuer befreien. Wenn sie uns Ihre Pferde überlassen, Mister Kemil, haben Sie uns schon einen sehr großen Gefallen getan.“
„Aber das ist doch selbstverständlich“, erwiderte Haydar. „Ich werde euch auch Waffen und Geld zur Verfügung stellen.“
Der Seewolf hob die rechte Hand. „Das ist nicht erforderlich. Waffen haben wir selbst genug. Geld ebenfalls. Und ich schätze, daß wir in den Dodullu-Bergen nicht sehr viel Gelegenheit haben, etwas davon auszugeben.“
Ferris, der Profos, Don Juan und Hasard junior grinsten.
„Nein“, sagte der Schiffszimmermann. „Kneipen und Hurenhäuser gibt’s da oben bestimmt nicht.“
„Also“, sagte Hasard zu dem Kaufmann. „Unser Plan sieht folgendermaßen aus. Wir wählen die Pferde aus. Es sollten mehr als fünfzehn sein, falls das möglich ist.“
Kemil Haydar nickte bedächtig. „Es ist möglich. Ich kann Ihnen auch dreißig Tiere geben.“
„Nein“, entgegnete der Seewolf. „So viele brauchen wir nicht. Ein Dutzend meiner Männer werden an Bord der Dubas bleiben. Der Zweimaster darf nicht ohne Aufsicht und Bewachung bleiben.“
„Ich könnte meine Diener damit beauftragen“, sagte der Kaufmann.
„Nicht nötig“, antwortete Hasard. „Vielen Dank. Wir reiten nach Osten – dort befinden sich die Dodullu-Berge. Wir haben den ganzen Tag über Zeit, nach der Burg zu forschen. Wie weit ist es von hier bis in die Berge?“
„Zwei Stunden müßt ihr für den Ritt rechnen, bei anhaltendem Trab.“
„Also müssen es an die fünfzehn bis zwanzig Meilen sein“, rechnete der Seewolf aus. „Weiter müssen wir einige Zeit für die Suche veranschlagen.“
„Wenn wir das Gemäuer am Nachmittag finden, haben wir Glück“, sagte Don Juan.
„Dodullu ist übrigens auch ein Dorf“, erklärte der Kaufmann. „Ein winziges Nest zwischen den Felsen. Möglich, daß ihr dort Auskunft erhaltet, wo die Burg steht.“
„Wir werden unser Glück versuchen“, sagte Hasard. „Im Dunkelwerden legen wir dann los. Wir dringen in die Burg ein und reden ein paar Wörtchen mit den Porceddu-Kerlen.“
Carberry rieb sich grinsend die Hände. „Ich glaube, das wird eine feine Unterhaltung. Aber sicher, ich freue mich schon darauf.“
Kemil Haydar warf ihm einen verwunderten Blick zu und sagte: „Ich wünsche euch viel Glück bei eurem Vorhaben. Aber wollt ihr nicht wenigstens Balat als Helfer und Dolmetscher mitnehmen?“
Wieder lehnte der Seewolf ab. „Wir finden uns schon allein zurecht. Außerdem habe ich ja meine beiden Söhne als Übersetzer.“ Daß er Balat Haydar eher als eine Belastung bei dem Unternehmen angesehen hätte, sprach er natürlich nicht aus. Aber so war es – wenn die Mannen auch noch auf einen Begleiter aufpassen mußten, waren sie in ihrer Beweglichkeit eingeschränkt.
„Ja, das ist wahr, das sehe ich ein.“ Der Kaufmann sah Hasard junior an. „Wo habt ihr jungen Männer überhaupt so gut die türkische Sprache gelernt?“
„Das ist eine lange Geschichte“, antwortete Hasard junior. „Ich glaube, ich erzähle sie lieber, wenn wir von unserem Ausflug zurückkehren. Sonst verlieren wir jetzt zuviel Zeit.“
„Gewiß.“ Kemil Haydar erhob sich. „Laßt uns jetzt die Pferde auswählen, Freunde.“
Etwas später standen sie im Stall und prüften die Pferde eines nach dem anderen. Der Seewolf und seine vier Mann waren zufrieden. Es waren gute Tiere, sie standen allesamt gut im Futter. Sie würden den Tagesritt mit Leichtigkeit überstehen, ohne viel zu ermüden. Im übrigen waren die Pferde das Reiten im Bergland gewohnt. Auch das war von größter Wichtigkeit.
Ferris, der Profos und Don Juan begaben sich mit den Pferden, die von Lakaien des Kaufmanns geführt wurden, zum Hafen. Hasard und sein Sohn ließen sich so präzise wie möglich den Weg in die Dodullu-Berge beschreiben.










