Seewölfe Paket 29

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Inzwischen war auch Balat Haydar hinzugetreten. Er bot sich ebenfalls noch einmal an, den Trupp zu begleiten, aber der Seewolf setzte auch ihm auseinander, warum es besser sei, daß er mit seinem Vater in Üsküdar blieb. Balat sah es ein.
Die beiden Killigrews verabschiedeten sich von den Gastgebern. Rasch kehrten sie zum Hafen zurück. Hasard wollte jetzt keine Zeit mehr verlieren. Die Männer, die an dem Unternehmen dabeisein sollten, hatte er schon am Vorabend ausgesucht. Sie brauchten jetzt nur noch loszureiten.
Der Seewolf und sein Sohn trafen an der Pier ein, an der die Dubas vertäut lag.
„Neuigkeiten?“ fragte Hasard seinen Ersten Offizier und Bootsmann.
Ben Brighton verneinte. „Nichts. Wie sieht es bei euch aus?“
„Wir sind bereit“, erwiderte der Seewolf. „Es kann losgehen.“ Er schwang sich in den Sattel eines hochbeinigen Falben, den Kemil Haydar ihm besonders empfohlen hatte. „Es bleibt bei dem, was wir vereinbart haben. Morgen im Laufe des Tages sehen wir uns wieder.“
„Na, hoffentlich“, brummte Old Donegal Daniel O’Flynn und spuckte in hohem Bogen ins Wasser. Das war seine ganz persönliche Art, den Kameraden Erfolg zu wünschen.
Der Trupp, den der Seewolf zusammengestellt hatte, verließ die Dubas und nahm die Pferde von den Lakaien in Empfang: Carberry, Ferris Tucker, Don Juan de Alcazar, Batuti, Roger Brighton, der Kutscher, Dan O’Flynn, Big Old Shane, Matt Davies, Al Conroy, Luke Morgan, Stenmark, Higgy, Jack Finnegan, Paddy Rogers – und Plymmie, die Wolfshündin. Der Seewolf wollte sie unbedingt dabeihaben. Die Zwillinge hockten bereits in den Sätteln.
Ben Brighton übernahm das Kommando auf der Dubas, die weiterhin gefechtsbereit war. Bei ihm blieben als „Restcrew“ Old O’Flynn, Mac Pellew, Bob Grey, Gary Andrews, Smoky, Sam Roskill, Blacky, Pete Ballie, Jeff Bowie, Will Thorne, Bill, Piet Straaten, Jan Ranse, Sven Nyberg und Nils Larsen, außerdem der Schimpanse Arwenack und der Papagei Sir John.
Carberry wollte auf keinen Fall, daß der Aracanga sie begleitete, deshalb hatte er ihn ins Kabelgatt gesperrt. Dort zeterte und wetterte Sir John jetzt – auf englisch und auf spanisch.
Somit war einerseits Hasards Aktionskommando stark genug, es mit den sardischen Banditen aufzunehmen. Andererseits blieben genug Mannen an Bord der Dubas. Der Zweimaster war nach wie vor voll manövrierfähig und gefechtsklar.
Auch das konnte für den Fall, daß die Porceddus doch noch einen Abstecher nach Üsküdar unternahmen, von größter Wichtigkeit sein. Die Arwenacks trennten sich – doch beide Gruppen blieben eine wehrhafte Einheit.
Nur knapp war der Gruß, den die Männer wechselten. Hasard und sein Trupp verließen die Pier, ritten durch die Stadt und von dort aus zu den im Osten liegenden bewaldeten Hügeln. Ben und die Crew blickten ihnen nach, bis sie verschwunden waren. Die Lakaien zogen sich in die Stadt zurück.
„Na dann“, sagte Ben, „wird schon schiefgehen. Was sagt dein Beinstumpf, Donegal?“
„Schlechtwetter ist angesagt.“
„Ach ja? Haben wir auch lange nicht mehr gehabt.“
Old O’Flynn grinste schief. „Was fragst du mich dann? Du kennst mich doch. Ich sehe fast immer schwarz. Aber das kann auch ein gutes Omen sein.“
„Ja, da hast du recht.“ Ben trat ans Schanzkleid und blickte zum Wasser. „Es ist nur schade, daß wir nicht mit dabeisein können. Uns sind die Hände gebunden, und die Warterei kann einem auf den Geist gehen, wenn sie sich ausdehnt.“
„Darum empfehle ich Schnaps als Medizin“, erwiderte der Alte. „Der ist immer noch das beste Mittel gegen Trübsinn und schlechte Laune. Was sagst du dazu, Mac?“
„Melde ungehorsamst, daß sich Brandy, Wodka und Raki unter Verschluß befinden“, antwortete Mac mit der üblichen sauertöpfischen Miene. „Und den Schlüssel hat der Kutscher mitgenommen.“
„Was?“ Old O’Flynn lief grünlich im Gesicht an. „Ist das dein Ernst? Du spinnst wohl! Mister Pellew, bist du unter die Puritaner, Klugscheißer und Betbrüder gegangen? Was fällt dir ein, den Kutscher einfach mit dem Schlüssel abhauen zu lassen? Hast du keinen Grips mehr im Schädel, du triefäugige Miesmuschel?“
Mac zeigte etwas, das an den Anflug eines öden Grinsens erinnerte. „Habe nur einen Witz gerissen, Sir. Natürlich stehen uns die Schnäpse zur Verfügung.“
Old O’Flynn stieß einen pfeifenden Seufzer aus. „Hölle, du willst mich wohl in die Kiste hüpfen sehen, was?“
„Ich darf doch wohl auch mal Spaß machen“, knurrte Mac beleidigt.
„Der hat vielleicht einen Humor“, stöhnte der Alte.
Die Männer konnten sich das Lachen nicht mehr verkneifen.
„He, Donegal!“ rief Blacky. „Du hast wohl ganz vergessen, daß im Dienst nicht gesoffen wird!“
„Das gilt nicht für mich“, erwiderte das alte Rauhbein. „Ab zwölf Glasen habe ich dienstfrei.“
Der Seewolf und seine Begleiter hatten sich unterdessen den Hügeln genähert. Plymmie lief den Reitern voraus. Sie stoppte ab, senkte ihre Nase auf den Untergrund und verfolgte eine Spur. Fast konnte man meinen, sie sei einem wilden Tier auf der Spur. Im Wald streunte sie zwischen den Bäumen hin und her, blieb schließlich stehen und knurrte.
Die Mannen trafen bei der Hündin ein. Hasard und die Zwillinge saßen ab. Philip junior und sein Bruder beruhigten Plymmie. Der Seewolf untersuchte den Boden.
„Der Lagerplatz der Banditen?“ fragte Don Juan.
„Ja, hier müssen sie gestern gelauert haben“, erwiderte Hasard.
„Hier sind Hufspuren“, meldete Dan. „Aber nur ganz schwache.“
„Zeichen, die die Soldaten der Garde gestern abend sicherlich übersehen haben“, meinte der Seewolf.
„Und wahrscheinlich haben sie auch keine große Lust verspürt, den Sarden bis in die verwunschene Burg zu folgen“, sagte Big Old Shane.
„Egal“, sagte Hasard. „Dan, kannst du Abdrücke sehen, die weiter in den Wald führen?“
Dan O’Flynn war ebenfalls abgesessen. Er kniete sich hin und kniff die Augen zusammen.
„Der Boden ist hart“, erklärte er. „Ich glaube, wir verlieren Zeit, wenn wir versuchen, uns nach den Spuren zu orientieren.“
Der Seewolf stieg wieder auf sein Pferd. „Das hat keinen Sinn. Wir gehen anders vor – so, wie wir beratschlagt haben.“
So ritten sie weiter. Nach Osten. Hasard hatte die Beschreibung, die Kemil Haydar ihm gegeben hatte, im Kopf. Nach gut einer Dreiviertelstunde hielt er auf der Kuppe eines Hügels an. Hier, von einem kleinen Kahlschlag aus, konnte man das graue Bergmassiv sehen, das sich im Osten erhob.
„Dort liegt unser Ziel“, sagte der Seewolf.
„Die Felsen sehen sehr einladend aus“, sagte Don Juan.
„Was hast du denn erwartet?“ brummte der Profos. „Bei allen Flüchen, die auf der Scheitans-Burg liegen, müssen wir wohl aufpassen, daß wir nicht von Hexen und Dämonen totgetrampelt werden.“
„Weiter“, drängte Hasard. „Wir haben noch einige Meilen vor uns.“
Um die Mittagsstunde waren sie den Bergen sehr nah. Sie befanden sich jetzt in einer höheren Region, in der es keine Ölbäume mehr gab. Dafür hatte der Bestand an Pinien, Krüppelkiefern und Zypressen zugenommen.
Hasard führte seine Männer auf einen turmähnlichen Berg zu. Am Rand der Schlucht, die sich südlich des Berges wie ein Krater öffnete, sollte nach den Schilderungen von Kemil Haydar das Dorf Dodullu zu finden sein.
„Da bin ich mal gespannt“, sagte Carberry. „Aber eine Kneipe gibt es dort bestimmt nicht.“
„Mister Carberry“, sagte Ferris, „hast du irgendwo im Orient schon mal eine richtige Kneipe gesehen?“
„Nein, leider.“
„Dann laß die dummen Witze.“
Der Profos grinste den rothaarigen Riesen so freundlich an wie ein hungriger Wolf. „Halt schon mal deine Höllenflaschen bereit, Mister Tucker.“
„Noch ist kein Feind in Sicht“, entgegnete Ferris.
„Wer sagt dir, daß in Dodullu nicht die Sarden lauern?“
„Das würde uns die Sache erleichtern“, meinte Dan.
„Achtung“, sagte Philip junior. „Plymmie hat wieder etwas gewittert.“
Tatsächlich – Plymmie schnüffelte auf dem felsigen Untergrund herum, als habe sie eine Fährte aufgenommen. Plötzlich lief sie los und verschwand in einem dichten Piniengehölz.
„Hinterher!“ stieß Hasard aus. Er trieb seinen Falben an und heftete sich in gestrecktem Galopp der Hündin an die Fersen. Die Zwillinge hielten sich dicht hinter ihm. Es folgten Carberry, Dan, Ferris, Shane, Don Juan und der Rest des Trupps.
Als der Seewolf in das Gehölz eindrang, hatte der Plymmie aus den Augen verloren. Verflixt und zugenäht, dachte er. Ihm schwante nichts Gutes. Aber dann sah er die Hündin.
Plymmie stand zwischen den Bäumen. Wie erstarrt. Ihr Nackenhaar sträubte sich, ihr Schwanz war eine buschige Rute. Hasard wußte genau, was das zu bedeuten hatte.
Plymmie hatte jemanden entdeckt. Kein Tier – einen Menschen. Einen Mann, der mit dem Rücken gegen eine Pinie gelehnt dastand. Die Hündin knurrte ihn an und fletschte die Zähne. Der Mann hob ein krummes Messer. Wer war er? Einer der Banditen, ein Kerl der Porceddu-Meute?
7.
Der Seewolf zügelte den Falben. Er lenkte das Tier dicht hinter Plymmie und sah sich den Fremden genauer an. Der entpuppte sich als hagerer Mensch, um die fünfzig Jahre alt, mit einem zottigen Bart und ganz in Lumpen gekleidet. Er zitterte. In seinen Augen flackerte Angst – nackte Angst.
„Plymmie“, sagte Hasard.
Jetzt trafen auch die Zwillinge ein. Sie saßen ab und hielten die Hündin fest. Philip junior sprach den Fremden auf türkisch an. Er erklärte ihm, daß er keine Angst zu haben brauchte.
Der Fremde stieß nur unverständliche, gutturale Laute aus. Allem Anschein nach verstand er kein Wort.
Nun waren auch die anderen Mannen zur Stelle. Don Juan brachte sein Pferd neben Hasards Falben.
„Versteht der Mann die türkische Sprache nicht?“ fragte er.
„Offenbar nicht“, entgegnete Philip junior.
„Das ist merkwürdig“, sagte Carberry.
„Vielleicht spricht er Dialekt“, meinte Shane.
Philip junior versuchte noch einmal sein Glück. Wieder ohne Erfolg. Der Fremde rollte mit den Augen, stotterte und lallte.
„Der kann gar nicht richtig sprechen“, sagte der Profos. „Das ist ein Waldschrat.“
„Oder der Hexer von Dodullu“, fügte Ferris Tucker grinsend hinzu.
„Der Mann ist taubstumm“, sagte der Seewolf. Er trat dicht vor den Fremden hin und lächelte ihm aufmunternd zu. Der Mann nickte hastig und steckte das Messer weg. Hasard deutete mit dem Zeigefinger erst auf seinen Mund, dann auf das rechte Ohr.
„Nichts?“ fragte er.
Der Fremde stieß einen grunzenden Laut aus, der wie eine Bestätigung klang.
„Armer Teufel“, sagte Philip junior. „Aber wir können uns durch Zeichensprache mit ihm verständigen.“
Der Seewolf probierte es. Durch Gesten und Gebärden gab er dem Fremden zu verstehen, daß er von ihm wissen wollte, wer er sei. Der Fremde fuchtelte mit den Händen vor Hasards Gesicht und stieß wieder die gutturalen Laute aus.
„Er ist ein Waldläufer, Dad“, sagte Hasard junior. „Soviel habe ich begriffen.“
„Ja“, sagte sein Vater. „Also ein Jäger und Fallensteller, der im Freien lebt.“ Wieder gestikulierte er.
Tatsächlich gelang es dem Seewolf, sich sozusagen „mit Händen und Füßen“ mit dem Fremden zu unterhalten. Der Mann lebte allein in einer Höhle. Er mied die Nähe von anderen Menschen und wagte sich weder nach Dodullu noch zur Burg des Scheitans.
Wo das Dorf war, konnte er beschreiben. Seine Erklärungen deckten sich mit den Schilderungen von Kemil Haydar. Wo die Arwenacks allerdings die Burg zu suchen hatten, konnte er nicht ausdrücken.
Ja, die sardischen Banditen hatte der Waldläufer hin und wieder schon mal gesehen. Er hatte Angst vor ihnen. Er versteckte sich. Nie war es ihnen gelungen, ihn aufzustöbern – auch ihren Hunden nicht.
„Aha, sie haben also Hunde“, sagte Don Juan. „Es ist gut, das zu wissen.“
Nur Plymmie mit ihrer ausgezeichneten Nase war auf den Waldläufer gestoßen. Er hatte versucht, Reißaus zu nehmen, aber sie hatte ihn gestellt. In seiner Angst hatte er das Messer gezückt. Doch er gab zu, daß er es mit der Hündin nicht hätte aufnehmen können.
Mit viel grotesken Gebärden schilderte der Waldläufer den Arwenacks, daß er am Vortag eine haarsträubende Szene beobachtet hatte. Die Banditen hatten mit Pferden und Hunden ein Mädchen verfolgt. Ein hübsches Mädchen.
Sie war auf einen Baum geklettert, aber das hatte ihr nichts genutzt. Sie war hinuntergefallen. Einer der Kerle hatte sie mit einer Peitsche geschlagen. Dann hatten die Banditen sie weggebracht – fort in die Berge.
„Pfui, Teufel“, sagte Roger Brighton. „Was müssen das für gemeine Drecksäcke sein.“
„Eine ihrer Gefangenen konnte fliehen“, sagte der Seewolf. „Aber weit gelangte sie nicht. Wer weiß, was die Kerle jetzt mit ihr anstellen.“
„Das können wir uns wohl denken“, sagte Dan.
„Also, beeilen wir uns“, sagte der Seewolf.
Er versuchte noch, von dem Waldläufer zu erfahren, wie viele Menschen in Dodullu lebten und ob sich die Banditen unter den Bewohnern befanden. Aber der Taubstumme konnte ihm darüber keine Auskunft geben. Er war nie in dem Dorf gewesen.
Hasard nickte dem Mann zu. „Du kannst gehen“, sagte er. Wieder unterstrich er durch Gesten, was er meinte, und der andere verstand.
Der Kutscher drückte dem Taubstummen noch rasch etwas Proviant in die Hände. Dieser bedankte sich durch Grunzen und Stottern, dann verschwand er wie ein Spuk im Dickicht.
„Leute gibt’s“, sagte der Profos, „das gibt’s gar nicht. Na, ich bin mal gespannt, was für Menschen wir in Dodullu begegnen. Müssen ja interessante Zeitgenossen sein.“
Die Männer ritten weiter. Nach einer knappen halben Stunde hatten sie das Dorf vor sich. Es bestand aus etwa zwei Dutzend Häusern, die alle aus grauen Quadersteinen errichtet waren. Die Dächer der geduckten Bauten bestanden aus schwarzen Platten, die wie Schiefer anmuteten. Kein Mensch war zu sehen. Alles wirkte verlassen und tot.
„Das Nest sieht sehr einladend aus, wirklich“, sagte Big Old Shane. „Bestimmt warten die Bewohner nur darauf, ein paar Fremde bewirten zu können.“
„Oder es warten Heckenschützen auf uns“, sagte der Seewolf.
Plymmie lief wieder voraus. Sie strich zwischen den Häusern hin und her. Bei einigen stand die Tür offen. Die Hündin schlich ins Innere, erschien aber kurz darauf wieder.
„Hier tut sich nichts“, sagte Carberry.
„Freunde, wir befinden uns in einem Geisterdorf“, sagte Don Juan de Alcazar.
In der Tat, das Dorf war verlassen. Die Männer ritten auf den winzigen Platz, der das Zentrum der Siedlung darstellte, saßen ab und zückten ihre Waffen. Sie sahen sich nach allen Seiten um und behielten auch die nahen Felsen im Auge. Nichts rührte sich. Kein verdächtiger Laut ertönte. Nicht ein einziges Tier war zu sehen – nicht einmal ein Vogel.
„Hier spukt es“, sagte Dan. „Gut, daß mein Alter nicht mit dabei ist. Der würde jetzt die wüstesten Geistergeschichten zum besten geben.“
„Wenn wir wieder an Bord der Dubas sind, können wir ihm ’ne Menge erzählen“, meinte Higgy grinsend.
Die Männer durchsuchten die Häuser und Hütten. Nirgends stießen sie auf Menschen. Nicht einmal Anzeichen menschlichen Lebens waren zu entdecken – Feuer- oder Speisereste zum Beispiel.
„Das Dorf ist schon seit einiger Zeit verlassen“, sagte Hasard, als sie wieder bei den Pferden standen. „Vermutlich haben es die Bewohner aus Angst vor den Banditen verlassen. Ich nehme an, daß die Sarden hier alles geplündert haben. Danach haben die Bewohner, die am Leben geblieben sind, die Flucht ergriffen.“
„Ja, so reimt sich alles zusammen“, sagte Carberry. „Wo sie abgeblieben sind, weiß wohl kein Mensch.“
„Und in Üsküdar ist nichts darüber bekannt“, sagte Hasard. „Auch Kemil Haydar wußte nicht, daß Dodullu ein Geisterdorf ist. Himmel, die Türken müssen wirklich eine Heidenangst vor dieser Gegend haben. Keiner von ihnen traut sich hierher.“
„Lieber überlassen sie den Banditen ihre Frauen“, sagte Don Juan de Alcazar. „Das finde ich allerdings beschämend. Ich weiß, eine Frau zählt im Orient weitaus weniger als ein Mann. Aber deswegen kann man sie doch nicht ihren Entführern kampflos ausliefern.“
„Ganz so sehe ich das nicht“, sagte Hasard. „Haydar hat ja von seinem Kollegen berichtet, dessen Tochter Salome sich in den Händen der Banditen befindet. Der Mann hat versucht, mit einem Aufgebot die Burg des Scheitans zu finden. Es ist ihm nicht gelungen. Außerdem hätten seine Mitstreiter gekniffen, wenn es darum gegangen wäre, die Burg zu stürmen.“
„Das ist auch wieder richtig“, erwiderte Don Juan. Er blickte zu den Kameraden. „Glaubt ihr, daß wir diese verdammte Burg finden?“
„Wir haben Plymmie“, sagte Philip junior.
„Was ist, wenn sie keine Spur findet?“ fragte Luke Morgan.
„Wenn und aber“, sagte der Seewolf. „Halten wir uns nicht mit langen Reden auf, Freunde. Das hat am allerwenigsten Sinn. Los, es geht weiter.“
Sie folgten dem Verlauf der Schlucht. Plymmie strebte auf einen schmalen Pfad zu, der am östlichen Rand in die Höhe führte. Es war der einzige Weg, auf dem man die Schlucht verlassen konnte. Der Trupp bildete eine lange Kolonne, und im Gänsemarsch ging es den Pfad hinauf. Bald darauf erreichten die Mannen ein Plateau, von dem aus sie einen guten Überblick über die Umgebung hatten. Sie verharrten eine Weile. Dan und Don Juan spähten mit den Kiekern in die Runde.
„Seht ihr irgendwo eine Burg?“ fragte der Seewolf.
„Nicht die Spur“, antwortete Dan.
„Nichts“, sagte Don Juan.
„Das habe ich mir fast gedacht“, sagte der Seewolf. „Weiter.“
Der Ritt führte über das Plateau, dann durch ein Tal in etwas höhere Regionen. Plymmie war dem Trupp immer um ein paar Yards voraus. Sie schnupperte an jedem Baum, an jedem Stein. Ungefähr eine Stunde war vergangen – da, ganz unvermittelt, blieb die Hündin wie vom Donner gerührt stehen. Sie senkte ihre Nase auf den Boden. Ihr Schwanz zuckte leicht.
„Sie hat eine Witterung aufgenommen“, sagte Hasard junior.
„Los, altes Mädchen“, spornte Philip junior die Hündin an. „Zeig mal, was du kannst!“
Plymmie schnürte über den felsigen Boden. Sie machte ihrem Wolfsblut alle Ehre. Die Witterung, die sie einmal aufgenommen hatte, verlor sie nicht mehr. Es mußte sich um die Fährte der Banditen handeln. Sicherlich gab es nicht sehr viele Wege, die zur Burg des Scheitans führten. Wahrscheinlich nur diesen einen Weg. Durch Zufall hatten die Arwenacks den richtigen Pfad gewählt.
Die Mannen folgten Plymmie. Es ging kreuz und quer durch das Bergland, stundenlang. Die Geduld von Hasard und seinen siebzehn Begleitern wurde auf eine harte Probe gestellt.
Am späten Nachmittag gelangte der Trupp auf einen Berg, dessen Kuppe von einem Krüppelkieferwald gekrönt wurde. Unvermittelt öffnete sich der Wald – und hier war die Reise zu Ende. Vor den Hufen der Pferde ging es abrupt steil in die Tiefe. Ein Schritt zuviel, und man stürzte ab.
„Ein wirklich schöner Abgrund“, sagte Carberry, „so richtig was, um sich das Genick zu brechen.“
Plymmie lief aufgeregt auf und ab. Hatte sie die Fährte nun doch verloren? Sie knurrte wütend und suchte nach der Richtung, in der es weiterging. Was war los?
Dan O’Flynn blickte nur noch starr geradeaus.
„He, Freunde“, sagte er. „Sperrt mal schön die Klüsen auf.“ Er wies voraus.
Jetzt sahen es auch der Seewolf und die anderen. Unter ihnen öffnete sich eine zerklüftete Schlucht. Drüben, auf der gegenüberliegenden Seite klebte ein Gemäuer im Hang. Es war kaum zu erkennen, weil es die gleiche Farbe aufwies wie das Gestein des Hanges. Eine vorzügliche Tarnung.
„Potzdonner“, sagte Big Old Shane. „Was ist das? Ein Adlernest?“
„Die Burg des Scheitans“, erwiderte der Seewolf. „Wollen wir wetten?“
„Da verliere ich bestimmt“, sagte der graubärtige Riese grinsend. „Wir haben also unser Ziel erreicht.“
„Das wurde aber auch Zeit“, sagte Carberry trocken. „Es wird nämlich bald dunkel.“
„Alles verläuft nach Plan“, sagte Hasard. „Es geht jetzt nur noch darum, den Weg zu finden, der in die Schlucht hinunterführt und von dort aus hinauf zur Burg.“
„Drüben kann ich einen Pfad erkennen“, sagte Dan nach einem Blick durch den Kieker.
„Und da befinden wir uns für die Banditen wie auf einem Präsentierteller“, sagte Higgy.
„So ungefähr“, meinte Dan. „Aber wir können die Kerle vielleicht von oben packen. Auf diese Weise kommen wir meiner Ansicht nach leichter an die Höhle des Löwen heran.“
„Wir können nur vor Ort entscheiden, wie wir vorgehen werden“, sagte der Seewolf. „Sperrt die Augen und Ohren auf. Wir müssen von jetzt an mit Spähern und Wachtposten rechnen.“
„Aye, Sir“, murmelten die Männer. Ihre Blicke richteten sich wieder auf Plymmie. Die Hündin lief nach links. Nach wie vor hielt sie die Nase auf den Boden gesenkt. Sie verschwand zwischen den Bäumen.
„Los“, sagte Hasard. „Wenn mich nicht alles täuscht, hat Plymmie die Lösung für unser Problem gefunden.“
Auch dieses Mal zeigte sich wieder, daß Plymmie bei diesem Unternehmen von unschätzbarem Wert für die Arwenacks war. Sie führte den Trupp sicher durch den Kiefernwald. Die Mannen entfernten sich wieder von dem gefährlichen Abgrund. Bald gelangten sie an eine breite Geröllhalde, die relativ sanft in die Tiefe führte. Hier konnten sie den Abstieg wagen. Nur mußten sie darauf achten, daß die Pferde nicht ins Rutschen gerieten.
„Die Burg ist von hier nicht sichtbar“, sagte Dan nach einem neuerlichen Rundblick. „Folglich können uns die Kerle von dort aus ebenfalls nicht bemerken.“
„Ich glaube, dieser Hang führt in einen Seitenarm der Schlucht“, sagte der Seewolf. „Gibt es in der Schlucht genug Vegetation, Dan?“
„Ich habe vorhin Bäume und Büsche gesehen“, erwiderte Dan O’Flynn. „Da können wir uns einigermaßen gut anschleichen, ohne daß uns die Sarden auf Anhieb entdecken.“
Weiter ging es – die Geröllhalde hinunter bis in die Nebenschlucht. Ein kleiner Zwischenfall ereignete sich, als Shanes Pferd plötzlich anfing zu stolpern. Shane stieß einen leisen Fluch aus. Fast schien es, als würde das Tier in den Vorderläufen einknicken. Aber dem Schmied von Arwenack gelang es im buchstäblich letzten Augenblick, das Pferd wieder abzufangen.
Bald darauf bewegten sich die Pferde im Schrittempo durch die Nebenschlucht. Der Tag neigte sich seinem Ende entgegen. Das Licht wurde diffus, blaß. Mit jedem Schritt, den die Reiter zurücklegten, rückten die Schatten der Nacht von Osten näher, während die Sonne im Westen als milchigroter Ball hinter den Bergen wegtauchte.
„Jetzt ist es nur noch eine Frage von Augenblicken, dann wird es ganz dunkel“, sagte der Seewolf zu seinen Männern.
„Für uns ist das nur von Vorteil“, erwiderte Don. Juan. „Wir haben zwar größere Schwierigkeiten, uns zurechtzufinden. Aber wichtiger ist, daß uns die Sarden nicht entdecken.“
„Im übrigen haben wir Plymmie“, sagte der Seewolf.
„Ich frage mich, wo die Späher der Banditen sitzen“, murmelte Batuti. „Sind die etwa so unvorsichtig, die Burg von außen völlig unbewacht zu lassen?“
„Möglich wäre auch das“, sagte Hasard. „Sie fühlen sich hier völlig sicher. Trotzdem müssen wir höllisch aufpassen. Wir dürfen jetzt nicht den winzigsten Fehler begehen.“
Von der Nebenschlucht gelangten sie in die große Schlucht. Im Büchsenlicht ritten sie zwischen Kiefern, Pinien und struppigem Gebüsch dahin. Nach wie vor ließ sich kein Gegner blicken. In der Burg des Scheitans flammten Lichter auf, Fackeln und Öllampen. Sie wiesen den Seewölfen den Weg.
8.
Ein ganzer Tag war vergangen, seit die Brüder Porceddu mit ihren Kumpanen aus Üsküdar in die Burg des Scheitans zurückgekehrt waren. In der letzten Nacht hatten sie eine gewaltige Orgie gefeiert, von der sie sich bis in den Nachmittag hinein hatten erholen müssen. Jetzt hockten Dario und Silvestro bei einem Humpen Bier zusammen und beratschlagten, wie der Plan im Hinblick auf den Kampf gegen die Haydar-Familie und deren Verbündete aussehen sollte.
„Wir warten noch bis morgen früh“, sagte Silvestro. „Es hat wenig Sinn, im Dunkeln loszureiten und zu riskieren, daß sich die Gäule die Knochen brechen.“










