Seewölfe Paket 29

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Leises Gelächter erklang. Ali Mustafa erhielt einen Tritt in den Rücken und fiel der Länge nach hin.
„Los, küß den Boden und neige dich vor Allah!“ rief ihm jemand zu.
Als er das unfreiwillig getan hatte, fielen sie wieder über ihn her. Diesmal rissen sie seine Kleidung herunter und zogen ihm die Schuhe aus.
Dann wurde er „willkommen geheißen“, wie sie es nannten.
„Vierundvierzig Hiebe“, sagte ein Mann, der die Bastonade überwachte. „Gebt ihm vierundvierzig Hiebe auf die Fußsohlen. Für jedes Wort der türkischen Eidesformel einen Schlag.“
Eine mörderische Prozedur begann, als der Kerl mit dem Stock zuschlug. Ali Mustafa krümmte sich und versuchte aufzuspringen, doch zwei starke Männer hielten ihn unbarmherzig fest.
Die Schmerzen waren kaum zu ertragen. Er biß sich auf die Lippen, bis er Blut im Mund spürte. Seine Fußsohlen brannten, als würde er durch glutendes Feuer laufen, und jeder weitere Hieb entrang ihm ein gequältes Stöhnen.
Die Schläge hörten nicht mehr auf. Ewigkeiten ging das so weiter, ein Klatschen, ein Zusammenzucken, bis er überhaupt kein Gefühl mehr in den Füßen hatte.
Dann war es endlich vorbei – vierundvierzig Hiebe, für jedes Wort der türkischen Eidesformel einen Hieb.
Sie stellten ihn auf die Beine. Aber er konnte nicht mehr laufen und brach wieder zusammen. Die Schmerzen waren grauenhaft und kaum noch zu ertragen.
„Bringt ihn weg“, sagte die Stimme. „Bringt ihn in den vornehmen Raum mit dem Bad, damit er sich erholen und ausruhen kann.“
Ali Mustafa sah nur rote Nebel kreisen. Er spürte, wie ihn zwei Mann hart bei den Armen ergriffen und wegzerrten. Um ihn her raunten leise Stimmen, alles war wie in dicke Watte gepackt. Nur dieser grauenhafte Schmerz blieb.
Seine Beine schleiften über den Boden. Die Kerle renkten ihm fast die Arme aus.
Dann warfen sie ihn in einen anderen Raum. Es war ein kleines enges Steinverlies, in dem kniehoch übelriechendes kaltes Abwasser stand. In diese stinkende Brühe ließen sie ihn hineinfallen.
„Gib doch zu, daß du mit den verdammten Venezianern paktiert hast“, sagte einer seiner Wächter fast mitleidig. „Du ersparst dir dadurch eine Menge Ärger. Morgen ist sowieso alles vorbei.“
„Ich habe nichts zuzugeben“, keuchte Ali. Stöhnend brach er in der kalten Brühe zusammen und übergab sich.
Wie lange er so gelegen hatte, wußte er später nicht mehr. Aber es mußten wieder Ewigkeiten vergangen sein.
Irgendwann holten sie ihn erneut. Und weil er immer noch nichts zugab, hängten sie ihn an den Füßen neben dem Türstock der Zelle auf und peitschten ihn aus.
Danach warf man ihn wieder in das übelriechende Verlies zurück.
Geschunden und zerschlagen lag er da und konnte sich nicht bewegen. Aus dem Funken Haß, den er anfangs verspürt hatte, war Glut geworden, dann ein Feuer und schließlich eine Feuersbrunst, die ihn fast selbst verzehrte.
Er haßte alle, die Kadis, die Betrüger, die ihn um sein Vermögen gebracht hatten, und die Schergen und Wächter, die ihn alle Augenblicke einer erneuten Folterung unterwarfen.
Er war drauf und dran, alles zuzugeben, damit diese fürchterlichen Torturen endlich ein Ende nahmen. Aber nahmen sie dann wirklich ein Ende? Er glaubte es nicht. Vielleicht würde dadurch alles nur noch schlimmer werden. Außerdem ließ sein Stolz nicht zu, sich selbst zu bezichtigen.
Mit Schaudern dachte er daran, was ihm noch alles bevorstand – morgen, wenn sie ihn vor die große Kanone banden. Zumindest wird es schnell vorbei sein, überlegte er. Nach dem zweiten Gebet des Muezzin hatte alles ein Ende.
Noch lange vor Morgengrauen erschienen sie wieder in seiner stinkenden Zelle. Sie nahmen ihm die Binde von den Augen, aber er sah trotzdem immer noch nichts. Er war auf eine weitere Folterung gefaßt. Doch sie schlugen ihn diesmal nicht.
Statt dessen sagte einer: „Hast du schon gehört, Ali Mustafa? Die beiden Kadis haben dich begnadigt.“
Natürlich hatte Ali das nicht gehört, woher sollte er auch! Er hatte auch nie damit gerechnet.
„Begnadigt?“ sagte er mit schwerer Zunge. „Dann hat Allah Gerechtigkeit geübt?“
„Ja, du wirst erst nach dem vierten Gebet des Muezzin vor die Kanone gebunden.“
Die beiden lachten schrecklich laut, stießen ihn in die Brühe zurück und entfernten sich, immer noch lachend.
Er war wieder allein mit der Dunkelheit, dem übelriechenden Wasser und den Ratten, die in seinem Verlies erschienen.
2.
Istanbul, vormals Konstantinopel, das antike Byzanz, das war der Orient in all seiner vielfältigen Pracht. Istanbul, an der südlichen Einmündung des Bosporus in das Marmarameer gelegen, war durch die Lage zwischen Europa, Asien, dem Mittelmeer und Schwarzen Meer ein Kreuzungspunkt wichtiger und alter Verkehrs- und Handelswege.
In Istanbul ging einem so richtig „das Herz auf“, wie der Profos Edwin Carberry es formuliert hatte. Hier gab es alles, aber auch wirklich alles, was einen Seemann erfreuen konnte.
So waren sie denn auch losgezogen, hatten sich zuerst Üsküdar auf der asiatischen Seite angesehen und waren Zeugen einer wilden Messerstecherei geworden. Danach hatten sie mit einer üblen Bande aufgeräumt, den Brüdern Porceddu.
Heute war ein anderer Trupp der Arwenacks durch Istanbuls Stadtviertel unterwegs, um sich ausgiebig alles anzusehen, es waren der Kutscher, der Decksälteste Smoky, Luke Morgan, Jung Philip und der Profos Edwin Carberry.
Sie waren von Sirkedschi herübergekommen, wo ihre Dubas lag, und befanden sich jetzt auf dem großen Basar. Etwas später sollte noch ein Abstecher zum Ägyptischen Basar folgen.
Der Profos schritt mit einem solchen zufriedenen Gesichtsausdruck daher, wie sie es selten an ihm gesehen hatten. Der Kutscher lächelte heimlich über die Glückseligkeit in dem wilden und narbigen Gesicht, dem „lieben Ed“ schien es hier ausnehmend gut zu gefallen, aber das war schließlich kein Wunder, denn hier taten sich alle Schönheiten des Orients auf.
Es gab Schleierladys, Bauchtänzerinnen, Gaukler, Bärenführer, Bratschenspieler, Goldschmiede, Händler und Marktschreier, daß es die reine Freude war.
Immer wieder blieben sie fasziniert stehen und sahen sich alles genau an.
„Wenn man bedenkt, was wir im Schwarzen Meer so alles versäumt haben“, sagte Carberry nachdenklich, „dann ist das hier eine ganze Menge, was einem geboten wird. Wir haben ja Zeit, also sehen wir uns alles in aller Ruhe und gründlich an. Wir können ja weiterschlendern, ein bißchen rumfressen, dann wieder ein kleines Schlückchen und so weiter, bis der Tag gelaufen ist.“
Der Kutscher sah ganz dezent und „rein studienhalber“ einer Lady nach, die einen zartgrünen Schleier trug und ihm einen schmachtenden Blick schenkte. Der Blick aus kohlschwarzen Augen brannte sich sekundenlang in seine Augen. Daraufhin seufzte der Kutscher verhalten.
Carberry grinste bis an die Ohren. Smoky und Luke Morgan starrten der Lady nach, und da begann auch Jung Philip zu grinsen.
„Jaja, die Ladys“, sagte Carberry versonnen. „Da geht sogar dem braven Kutscherlein das Herz in Flammen auf.“
„Mir geht gar nichts in Flammen auf“, verwahrte sich der Kutscher. „Ich pflege lediglich Land und Leute zu studieren, und wenn ich jemanden ansehe, dann geschieht das nur Interesse halber.“
„Aye, aye, Sir“, erwiderte der Profos ernst. „Womit du also zugibst, daß du Interesse an der Lady hast. Na ja, das ist durchaus verständlich, sie ist wirklich verdammt hübsch. Du hättest ihr ein bißchen nachpfeifen sollen.“
„Das ist Rabaukentum, von dem ich mich ganz entschieden distanziere. Man pfeift einer Lady nicht nach.“
„Ich tue das immer“, versicherte Carberry. „Sonst dreht sie sich ja nicht mehr um.“
„Sie wird sich nach einem Pfiff sowieso nicht umdrehen. Außerdem finde ich das geschmacklos.“
Der Profos hatte schon Daumen und Zeigefinger im Mund und stieß einen Pfiff aus. Und wahrhaftig – die Lady drehte sich ganz langsam um, blieb stehen und warf aus ihren kohlschwarzen Augen einen Blick zurück.
Der Kutscher, immerhin ein Mann von Welt, errötete leicht.
„Siehst du“, sagte der Profos überlegen, „so geht das. Vielleicht funktioniert das in der feinen englischen Gesellschaft nicht so einfach, aber hier klappt das immer. Soll ich die Lady mal für dich anpreien?“
„Himmel noch mal! Man preit keine Lady an, Ed. Untersteh dich!“
Aber da war die Lady schon im Gewühl verschwunden und nicht mehr zu sehen, was der Profos lebhaft bedauerte.
Luke Morgan hatte unterdessen sein Herz an etwas anderes verloren, und das betraf die türkischen Süßspeisen, denen er nicht widerstehen konnte. So stand er vor einer Bude und blickte begehrlich auf die Leckereien, die es da gab. Dabei schnüffelte er wie ein Jagdhund, der eine heiße Fährte entdeckt hat.
„Einfach himmlisch, diese vielfältigen Gerüche des Orients“, begann er zu schwärmen. „Da kann man nicht dran vorbei. Dieser betörende Duft von Honig und Mandeln, Nüssen und Rosenwasser, dieses Aroma von Pistazien und glasierten Melonenscheiben. Ah!“ Er schnalzte mit der Zunge und kramte eifrig eine Silbermünze hervor.
Sie blieben vor der Bude stehen, wo ein eifriger Händler mit einem kleinen Jungen zusammen leckere Sachen buk. Der Junge goß aus einer Schale zähflüssiges Zeug auf eine armlange Holzgabel und drehte sie dann eifrig.
Luke stand mit offenem Mund daneben und sah zu, wie sich die dunklen Fäden zu einem Gespinst zusammenwanden.
„Sieht fast aus wie der Bart vom Wikinger“, meinte er, weil er keinen besseren Vergleich fand. „Kann man das essen?“
Der Händler radebrechte, daß man das durchaus essen könne. Es sei eine Spezialität, genau wie die kandierten und gebrannten Mandeln, die so verlockend dufteten.
Etwas später hatte Luke ein gewaltiges Ding in der Hand, das noch größer und mächtiger als der Bart des Wikingers war. Dann zupfte er zaghaft mit den Zähnen daran herum.
Der Profos sah interessiert zu, wie sich der braune Kleister langsam wieder in seine einzelnen Fäden auflöste und zerrann. Das klebrige Zeug blieb in Lukes Gesicht hängen und pappte fest. Gleichzeitig auch löste sich die kandierte Schicht der gebrannten Mandeln langsam auf, und wenn Luke in die Hosentasche griff, dann klebten ihm sämtliche Finger zusammen, daß er sie kaum noch bewegen konnte.
„Fein, was, wie?“ höhnte der Profos. „Da laß ich mir lieber einen richtigen Bart wachsen. Du siehst aus, als hättest du dich hinter einem Gebüsch verkrochen. Wahrscheinlich pappt das Zeug bis zum Sankt-Nimmerleinstag und geht nie mehr weg. Da lobe ich mir doch was Kräftiges, Herzhaftes.“
Luke Morgan pappte und klebte zwar zum Gotterbarmen, doch das hielt ihn nicht davon ab, sich weiter mit Süßigkeiten einzudecken. Jetzt entdeckte er einen hölzernen Kübel, in dem der Türke herumstocherte.
Er packte Eier in den Kübel und verrührte sie. Dann fügte er Mandeln und Nüsse hinzu, dunklen Zucker, Honig und geleeartiges Zeug. Als die Masse zusammengerührt war, schob der Junge sie in einen Ofen, unter dem ein Holzkohlenfeuer brannte.
Gleich darauf verbreitete sich ein intensiver Duft, den selbst der Profos als verlockend empfand. Das klebrige Zeug nannte sich „Türkischer Honig“ und wurde dem Händler buchstäblich aus den Händen gerissen.
Luke Morgan war fünf Minuten später ebenfalls glücklicher Besitzer von Türkischem Honig. Der Honigmann flüsterte ihm hinter der vorgehaltenen Hand noch vertraulich zu, daß der Honig ganz speziell der Erhaltung und Förderung der Manneskraft diene. Daraufhin mußte sich Luke Morgan vom Profos einige derbe Bemerkungen gefallen lassen, als er mit seinem Honigtopf über den Platz von Kasimpasa marschierte.
„Der eine hat’s mit Räucherheringen“, sagte er, wobei er auf Mac Pellew anspielte, „der andere mit Honig. Ich glaube, ihr seid alle ein bißchen bescheuert.“
Der Profos und die anderen hatten es mehr mit dem Herzhaften, und auch sie konnten nicht widerstehen, als sie einen Stand passierten, von dem es ebenfalls lieblich roch.
Hier wurde Döner Kebab gebraten. Ein Mann drehte einen langen senkrechten Spieß, an dem ein großes Stück Hammelfleisch hing. Darunter befand sich ebenfalls glühende Holzkohle. Hin und wieder fiel ein Fettspritzer in die Glut, und dann wurde der Duft noch intensiver.
Sie bestellten sich eine ordentliche Portion. Während der Mann emsig den Spieß weiterdrehte und immer senkrecht hielt, säbelte ein anderer mit einem langen Messer schnell und gekonnt Fleischstücke ab, die in eine Kumme fielen. Das alles übergoß er anschließend mit einer scharfen Knoblauchsoße.
Die Arwenacks hauten rein, auch der Kutscher, der das als angenehme Abwechslung empfand. Heute hatte der Kutscher „kombüsenfrei“, während Mac Pellew die Kocherei übernommen hatte. Es waren ohnehin nur ein paar Seewölfe an Bord. Die meisten anderen trieben sich in kleinen Gruppen in Istanbul herum, sahen sich um und besuchten die Basare.
Auch die nächste Kneipe ließ der Profos nicht aus. Der Anisschnaps Raki hatte es ihm angetan, und so genehmigte er sich einen nach dem anderen.
Es war herrlich, hier zu sitzen und die ganzen vielfältigen Eindrücke an sich vorbeiziehen zu lassen. Sie genossen es so richtig und nach Herzenslust.
Nur Luke Morgan begann sich leicht unbehaglich zu fühlen. Er hatte zuviel von dem türkischen Honig und den anderen überzuckerten Süßigkeiten genascht, und so klebte und pappte er jetzt an allen Ecken und Enden.
Bei ihrem Rundgang stießen sie etwas später auf eine Schaubude, vor der der Profos neugierig stehenblieb. Vor der Bude waren Bretter auf dem Boden ausgelegt und drumherum waren Seile gespannt. Es sah wie ein Boxring aus. Wie damals in Wyborg, dachte der Profos.
Auf der Schaubude prangte in bunter Schrift etwas, das der Profos beim besten Willen nicht entziffern konnte, und so wandte er sich an Jung Philip.
„Was heißt denn das?“ wollte er wissen.
Jung Philip entzifferte das mühelos.
„Ibrahim – der stärkste Mann der Welt“, las er vor.
„Das möchte ich aber noch bezweifeln“, sagte der Profos spontan. „So was hat mir schon immer mißfallen. Wie will der Kerl wissen, daß er der stärkste Mann der Welt ist? Er hat doch noch gar nicht gegen alle gekämpft, der Rumtöner.“
„So steht es jedenfalls da, Mister Profos, Sir. Und darunter steht noch, daß derjenige ein Goldstück erhält, der Ibrahim besiegt.“
„Ein Goldstück?“ fragte Carberry interessiert. „Wir haben sowieso viel mehr Geld ausgegeben, als wir wollten. Ich habe kaum noch etwas. Da käme mir ein Goldstück gerade gelegen.“
„Mein lieber Ed“, sagte der Kutscher etwas von oben herab. „Du willst doch hier nicht gegen den stärksten Mann der Welt anstinken, nur weil es ein Goldstück dafür gibt. Wir haben noch genügend Geld bei uns, auch einige Perlen. Ich helfe dir gern aus und lade dich auch ein.“
„Von mir kannst du auch was kriegen“, sagte Smoky.
„Ich werde doch nicht meine Kameraden anpumpen“, entrüstete sich der Profos. „Nein, nein, das würde meine Autorität herabsetzen. Überall würde es dann heißen, daß sich der Profos bei seinen Arwenacks was gepumpt habe. Wie stehe ich denn da? Ich wäre unglaubwürdig, profillos, oder wie man das nennt.“
„Das ist doch Quatsch“, sagte der Kutscher. „Es ist völlig selbstverständlich, daß es unser gemeinsames Geld ist. Es gehört jedem von uns.“
Carberry schien richtig beleidigt – oder zumindest tat er so. Der Kutscher hatte ihn längst durchschaut, den Profos. Den juckte es wieder einmal in den Fäusten, und es ging ihm gegen den Strich, daß dieser Ibrahim mit der größten Selbstverständlichkeit behauptete, der stärkste Mann der Welt zu sein. So was ließ ein Edwin Carberry nicht auf sich sitzen. Zumindest war das einen Versuch wert. Hinterher konnte der Kerl das immer noch behaupten – vorausgesetzt, er hatte ihn, den Profos, wirklich flachgelegt.
„Behaltet nur euer Geld“, sagte Carberry lässig. „Ihr seid ja schließlich nicht meine Ammen oder Milchbrüder, denen ich auf der Tasche liegen muß, wenn mir mal ein paar Copper fehlen. Wo ist dieser Kerl überhaupt?“
„Die Schaukämpfe finden nur alle Stunde statt“, erklärte Philip. „In einer halben Stunde müßte es wieder soweit seih.“
„Verstehe“, sagte der Profos. „In der Zwischenzeit pumpt der Kerl wohl seine Rosinchen am Arm zu Muskeln auf. Na, den werde ich mir jedenfalls zumindest mal genau ansehen. Vielleicht ist das so ein hinterhältiger Kerl wie damals in Wyborg, dieser glatzköpfige Rummelboxer.“
„Dem hast du damals prächtig die Zähne gezogen“, sagte Smoky. „Dem ist das Rumtönen vergangen. Und Batuti hat es ihm auch kräftig besorgt.“
„Ich habe dafür jedenfalls kein Verständnis“, meinte der Kutscher. „Diese Kerle sind doch wie Bluthunde. Die prügeln jedem anderen die Seele aus dem Leib, weil sie mit gemeinen Tricks kämpfen.“
„Darauf warte ich ja bloß“, tönte Carberry. „Miese und hinterhältige Tricks kann ich auf den Tod nicht ausstehen.“
Der Profos war von seiner Idee nicht mehr abzubringen. Was er sich in den Schädel gesetzt hatte, das boxte er auch durch. In der Beziehung war er genauso stur wie der alte O’Flynn.
„Wollen wir nicht lieber weiterziehen?“ fragte der Kutscher. „Es gibt hier noch herrliche Plätze.“
„Die gibt es in einer Stunde auch noch“, versicherte Carberry. „Die herrlichen Plätze laufen uns nicht davon.“
Mit dem Profos war nicht mehr zu reden. Der war schon jetzt ungeduldig und lauerte darauf, daß er den Kerl zu sehen kriegte. Er hatte den Hals hochgereckt und versuchte, in das Innere der Bude zu spähen. Doch dahinter war alles dunkel.
Es dauerte nur noch fünf Minuten, dann tat sich endlich etwas. Ein verwachsener kleiner Mann mit einem riesigen Buckel verkündete lauthals, daß Murad, der Kettensprenger, gleich auftreten werde.
Inzwischen hatten sich etliche neugierige Zuschauer eingefunden, die sich um die Bude drängten. Auch ein paar Langfinger waren dabei, die die Gunst der Stunde sofort nutzten.
Edwin Carberry spürte, wie sich ganz vorsichtig eine Hand in seine Hosentasche senkte, die unendlich feinfühlig nach Münzen suchte.
Der Profos griff zu und hielt die Hand fest. Dann drehte er sich langsam um. Hinter ihm stand ein verlegen grinsender Kerl mit einem Mottenbart, der heftig zu zittern begann.
Carberry hielt die Hand fest und begrüßte den Bartträger wie einen, den er schon lange nicht mehr gesehen hatte.
„Fein, dich hier zu treffen, Rübenschwein“, sagte er wohlwollend.
Und dann drückte er zu. Der Profos konnte fast aus Steinen Wasser quetschen. Aber der Klauer war von der weichen Sorte. Ein greller Schmerz durchfuhr ihn, und dann schoß ihm das Wasser in die Augen und perlte wie ein Sturzbach in seinen fusseligen Bart.
Der Profos drückte grinsend weiter, bis der Taschendieb winselnd in die Knie ging und weitere Tränen vergoß. Erst als er ihm die Hand so gequetscht hatte, daß er sie in den nächsten Tagen nicht mehr brauchen konnte, ließ er los. Zum Abschied stieg er dem Kerl noch einmal kräftig auf die Zehen.
„Was ist denn los?“ fragte der Kutscher irritiert, als er den winselnden Kerl sah, der sich vor Schmerzen krümmte.
„Ein alter Bekannter“, sagte der Profos. „Er ist ganz gerührt, daß er mich wiedergesehen hat.“ Er stand immer noch auf dem rechten Fuß des Mannes, der kaum noch Luft kriegte.
„Ein Bekannter – hier, in Istanbul?“ Der Kutscher starrte den Mann zweifelnd an.
„Das sind überall die gleichen Bekannten“, sagte Carberry. „Er hat gerade versucht, mich zu beklauen, aber das war wohl nichts. Brauchst du den Honigtopf noch, Luke?“
Bevor Luke antworten konnte, nahm ihm der Profos den Topf mit türkischem Honig ab, drehte ihn um und setzte ihn dem Kerl auf.
Die Menge schrie Beifall und lachte, als der Taschendieb den Topf auf dem Schädel hatte.
Carberry drehte ihn ein paarmal um seine Achse und sah angewidert zu, wie dem Kerl der zähe und klebrige Honig ins Hemd rann. Dann gab er ihm einen Tritt in die Kehrseite.
Unter dem brüllenden Gelächter der Zuschauer segelte der Kerl ab, landete an einem Posten und stülpte sich durch den Anprall den Topf noch fester auf den Schädel. Er zerrte vergeblich daran, er kriegte das klebrige Ding nicht mehr ab, und so taumelte er ziellos über den Platz und rempelte die Leute an.
„Kleine Sondereinlage“, sagte der Profos freundlich. „Wer mich beklauen will, der muß wesentlich früher aufstehen.“
Der Kerl verschwand irgendwo in der Menge. Unter dem Honigtopf klangen erstickte Laute hervor, und das freute die Menge. Einige nahmen an, das sei so beabsichtigt.
Dann erschien Murad, der Kettensprenger.
3.
Für die Zuschauer war das ein erstaunlicher Kraftakt, eine Sensation, die ihnen hier geboten wurde. Für die Arwenacks hingegen war es nichts Besonderes, und erst recht nicht für Jung Philip, der mit seinem Zwillingsbruder Hasard und der Gauklertruppe des Kaliban durch die Lande gezogen war. Ähnliches hatten sie tagtäglich erlebt und gesehen.
Der Mann, der da auf der Bühne erschien, war ein Kraftprotz mit mächtigen Muskeln. Zwei andere Männer wickelten ihn in eine starke Eisenkette, die sich um Arme, Brust und Schultern schlang. Die Kette wurde schließlich noch mit einem starken Schloß gesichert.
Der Muskelprotz stieg vom Ring und ließ die Ketten von der Menge befühlen. Dann verkündete der Bucklige, daß Murad diese schwere Eisenkette gleich sprengen würde, und weil das mehr als lebensgefährlich sei, müsse er um einen kleinen Obolus bitten. Daraufhin nahm der Bucklige seinen Hut und mischte sich unter die Zuschauer. Nachdem jeder sein Scherflein entrichtet hatte, zeigte der Bucklige Murad den Inhalt des Hutes.
Der Kettensprenger sah etwas mißmutig drein, denn er mußte die Münzen später noch mit einem Feuerspucker, einem Schwertschlucker und einem Schlangenbeschwörer teilen.
Dann stellte er sich breitbeinig in Positur und begann, seinen mächtigen Brustkasten immer weiter zu dehnen. Dabei lief sein Schädel knallrot an.
Die Zuschauer hielten den Atem an, als der Kerl fast zu platzen drohte. Immer mehr blies er sich auf, und dann gab es schließlich einen dumpfen Knall. Die Ketten fielen von ihm ab und klirrten zu Boden.
Murad hob in Siegerpose beide Arme hoch, nickte mürrisch in die Menge und verschwand in der Bude. Applaus erklang, ein paar Männer johlten begeistert.
Der nächste der auftrat, war ein kleines mickriges Männchen mit einem knallgelben Turban auf dem Kopf. Er hatte einen Korb unter dem Arm, den er vorsichtig abstellte, als würde er gleich explodieren. Dann zog er eine Tröte aus seinem Gewand und hockte sich im Schneidersitz auf den Boden, nachdem er den Deckel vom Korb genommen hatte.
Der Bucklige erklärte wichtigtuerisch, daß in dem Korb eine Schlange sei, die an Giftigkeit alles in der Welt übertreffe. Schon mehr als ein Dutzend Schlangenbeschwörer sei an ihrem Biß zugrunde gegangen, und er wolle mit Allahs Hilfe doch hoffen, daß heute alles gut gehen möge.
Die Leute glaubten den Stuß, und jene, die in der vorderen Reihe standen, wichen ängstlich zurück, als das Kerlchen die Tröte an den Mund setzte und eine schaurige Melodie blies.
Es dauerte auch nicht lange, da erschien ein Schlangenkopf aus dem Korb und begann hin und her zu pendeln. Der Mickrige bewegte den Oberkörper jetzt ebenfalls hin und her, und die „gefährlichste Giftschlange der Welt“ tat es ihm nach und wiegte sich anscheinend im Takt zu seinem schrecklichen Getröte.
Ein paar Minuten lang ging das so, und alle waren erleichtert, daß die Schlange das Männchen nicht gebissen hatte, denn sonst würde es jetzt sterbend auf der Matte liegen.
Als der Mickermann sich dann erhob, verhedderte er sich und stolperte über seine eigene Beine. Der Korb fiel um, er griff noch nach ihm, kriegte ihn aber nicht mehr zu fassen.
Die Schlange, offenbar froh, das Gejaule und Getröte nicht mehr ertragen zu müssen, wand sich in zuckenden Bewegungen davon – mitten zwischen die Zuschauer.
Im Nu war die Hölle los. Eine entsetzte Menschenmenge stob kreischend und brüllend auseinander und flitzte in alle Richtungen davon.









