Seewölfe Paket 29

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Dem Andenken dieses Mannes waren sie es schuldig, seinen Tod zu rächen.
Die Männer verharrten mehrere Minuten lang. Regungslos beobachteten sie den Palast, dessen filigran wirkende Türme und Zinnen wie ein kunstvoller Scherenschnitt vor dem Nachthimmel aussahen.
Die Schritte des davoneilenden Kerlchens waren längst verklungen. Er hatte sorgfältig darauf geachtet, daß ihn niemand zusammen mit den Engländern bemerkte. Einen Erfolg ihrer Aktion schien er nicht zu erwarten.
Der Palast war von einer etwa mannshohen Mauer umgeben. Auf der Mauerkrone befand sich ein schmiedeeisernes Gitter von drei Fuß Höhe. Die oberen Enden des Gitters waren wie Speere zugespitzt und nach außen gebogen. Auch das Haupttor, ganz aus Gitterwerk, war auf diese Weise geschmiedet.
Sam Roskill und Bob Grey übernahmen die erste Aufgabe. Auf ein Zeichen des Seewolfs huschten die beiden schlanken Engländer los. Sam trug ein zusammengerolltes Tau über der Schulter, an dessen Ende sich ein Enterhaken befand, den sie mit Lappen umwickelt hatten. Bob hatte sich ein zusammengerolltes Bündel von dickem Segeltuch unter den Arm geklemmt.
Ohne ein verräterisches Geräusch erreichten sie die Umfassungsmauer unmittelbar neben dem rechten Torpfeiler. Bewegungslos verharrten sie. Von dem Kerlchen wußten sie, daß zwei Posten in entgegengesetzter Richtung auf der Innenseite der Mauer patrouillierten.
In Abständen von etwa fünfzig Yards gab es Treppen, die zu kleinen, wehrturmartigen Plattformen hinaufführten. Von dort aus konnten die Posten überblicken, was sich außerhalb des Palasts abspielte.
Sie mußten beseitigt werden, wenn man in den Palast vordringen wollte. Es gab keinen Weg, der daran vorbeiführte.
Sam und Bob spähten zu den Turmplattformen in ihrer Nähe. Noch war dort niemand zu sehen. Auch Schritte waren auf der anderen Seite der Mauer nicht zu hören. Besser konnte die Gelegenheit nicht sein. Die Posten mußten sich an entfernteren Stellen des Grundstücks befinden.
Sam Roskill nahm das Tau in die Linke und schleuderte den dick ummantelten Enterhaken senkrecht hoch. Es klappte schon beim ersten Versuch. Mit einem dumpfen Laut verfing sich der Enterhaken in den schmiedeeisernen Spitzen des Gitters. Sam Roskill zog an dem Seil, und der Haken saß unverrückbar fest.
Angespannt horchten die beiden Männer.
Kein Alarmgebrüll, keine eiligen Schritte. Bob Grey riskierte einen vorsichtigen Blick durch die Gitterstäbe des Tors. Da waren auch keine Lichter von Laternen, die im Palast angezündet wurden. Noch schien keiner etwas bemerkt zu haben.
Bob zögerte nicht. Er hatte sich das Segeltuchbündel mit einer Schnur um die Hüfte gebunden. Mit kraftvollen Bewegungen hangelte der drahtige blonde Engländer am Tau nach oben. In Sekundenschnelle erreichte er die Mauerkrone, hielt sich am Gitter fest und löste das Bündel von der Hüfte. Geschickt warf er es über die gefährlichen Eisenspitzen und zupfte es so zurecht, daß mehrere Lagen Segeltuch das Eisen entschärften.
Es bereitete ihm keine Mühe, sich trotz der gebogenen Gitterspitzen hinüberzuschwingen. Auf der Innenseite des Gitters wollte er verharren, um sich einen erneuten Überblick über die Lage zu verschaffen.
Eine schneidende Stimme ließ ihn zusammenzucken.
„Keine Bewegung, oder du stirbst!“
Bob wandte den Kopf vorsichtig nach links. Das Licht von Mond und Sternen reichte aus. Er sah den Posten, der hinter dem linken Torpfeiler gelauert haben mußte. Der Mann hatte eine ziselierte einläufige Pistole im Anschlag. Wo steckte der andere? Wollte dieser eine sich Lorbeeren verdienen und alle Schwierigkeiten selbst beseitigen?
Bob hörte seinen Gefährten, der begonnen hatte, die Mauer zu erklimmen. Keine Zeit mehr, ihn zu warnen.
Schon im nächsten Atemzug erschien Sam Roskill auf der anderen Seite des Eisengitters.
Der Mann mit der ziselierten Pistole war einen Sekundenbruchteil lang irritiert. Bob sah es an der ruckartigen Bewegung seines Kopfes. Die winzige Zeitspanne genügte dem drahtigen Engländer.
Blitzartig griff er zum Gurt, zog das Messer mit einer fließenden Bewegung und warf es mit der ganzen Kraft seiner Armmuskeln.
Den dumpfen Einschlag der Klinge, die bis zum Heft in die Brust des Postens drang, folgte das Krachen der Pistole. Aber der Schuß bedeutete keine Gefahr. Der Mann, der schon hintenüber kippte, riß den Abzug nur noch reflexartig durch. Das Blei raste in den Nachthimmel.
Bob Grey sprang auf den gepflasterten Weg, der sich an der Innenseite der Mauer entlangzog. Sam Roskill überwand das Eisengitter und folgte seinem Gefährten.
Innerhalb der nächsten Sekunden mußte die Hölle losbrechen.
Tatsächlich ertönte wildes Alarmgebrüll aus dem hinteren Teil des Palastgartens. Bob Grey kniete bei dem Toten, nahm sein Messer wieder an sich und löste ein Schlüsselbund vom Gurt des Postens. Sam Roskill stand mit schußbereiter Pistole hinter einem Zierstrauch am Rand der Zufahrt, die vom Tor zum Palast führte.
Zusehends mehr Stimmen wurden dort laut. Lampenlicht flutete aus einer aufschwingenden Tür. Die Palastwache reagierte schnell. Gestalten stürmten ins Freie. Waffenstahl erzeugte matte Reflexe.
„Beeil dich, verdammt noch mal!“ rief Sam zischend.
Bob hatte das Messer in die Scheide geschoben. Mit dem Schlüsselbund lief er zum Tor.
Draußen stürmten die Arwenacks über den Platz.
In Bobs Händen klirrten die Schlüssel. Fieberhaft suchte er den passenden.
Die Männer der Palastwache rannten mit langen Sätzen. Mehr als vierzig, fünfzig Yards waren sie nicht mehr vom Tor entfernt.
Sam Roskill duckte sich unwillkürlich. Er hielt die schwere Pistole im Beidhandanschlag.
Noch dreißig Yards. Die Gesichter der Palastwächter waren im Mondlicht schon zu erkennen.
Endlich fand Bob Grey den richtigen Schlüssel. Die Torflügel schwangen mit leisem Kreischen auf.
Aus den Augenwinkeln heraus sah Sam Roskill den Seewolf und die anderen herbeistürmen. Sam feuerte.
Die Pistole ruckte in seinen Fäusten. Eine grelle Feuerzunge stieß in das bleierne Mondlicht.
Einer der Küzürtüsi-Männer überschlug sich im Laufen. Die anderen, links und rechts von ihm, gerieten ins Stolpern, da er ihnen quer vor die Füße stürzte.
Der alte Kampfruf aus Cornwall donnerte in den Palastgarten. „Ar – we – nack! Ar – we – nack!“ Es war wie der tönende Ausdruck einer entfesselten Urgewalt, die den Palastwächtern entgegenbrandete.
Und eben dieses Gefühl hatten sie im nächsten Moment.
Ihre Schüsse waren schlecht gezielt, zu überhastet. Durch die präzise Kugel von Sam Roskill war das Verteidigungskonzept der Türken völlig durcheinandergeraten.
Der Anblick der Angreifer, die durch das offene Tor hereinstürmten, bewirkte ein übriges. Die Verwirrung steigerte sich ins Grenzenlose. Als sie ihre Krummsäbel zogen, waren der Seewolf und seine Männer bereits zur Stelle.
Klingenstahl klirrte.
Die Wächter Mehmet Küzürtüsis mußten all ihr Beharrungsvermögen zusammenraffen, um angesichts der Angreifer nicht in Panik zu geraten. Da waren so furchterregende Gestalten wie der hünenhafte Mann mit dem Narbengesicht, der riesige Schwarze mit dem mörderisch funkelnden Gebiß und der rothaarige Riese, der statt eines Säbels eine Zimmermannsaxt schwang. Eine Waffe, die gleich zwei Palastwächter auf einmal niedermähte.
Hasard stürmte über den zusammensinkenden Gegner hinweg, den er mit einer blitzartigen Attacke niedergestreckt hatte. Ben Brighton, Dan O’Flynn und die anderen waren unmittelbar hinter ihm. Gemeinsam stürmten sie auf den offenstehenden Eingang der Wache zu.
Der Haupteingang des Palasts befand sich ungefähr zehn Yards weiter rechts. Auch dort brannte jetzt Licht hinter den Fenstern. Man richtete sich auf die weitere Verteidigung ein.
Der Seewolf und seine Gefährten fackelten nicht lange. Wie erwartet, gab es einen Durchgang von der Wache zur Eingangshalle des Palasts. Hasard riß die Tür auf und schnellte mit flachem Sprung in die Halle.
Schüsse krachten. Kugeln sirrten über ihn hinweg, durch die offene Tür zur Wache. Auf der anderen Seite des Raums klatschte das Blei in die Wand.
Hasard federte hoch. Der Radschloßdrehling lag in seiner Rechten. Im Bruchteil einer Sekunde erfaßte er die Lage. Weitere Wächter waren bei der großen Eingangstür herumgewirbelt. Einer von ihnen, am weitesten links, hatte seine Pistole noch nicht abgefeuert.
Hasard zog durch und ließ sich sofort darauf fallen. Der Drehling wummerte. Im Fallen spürte der Seewolf den sengenden Hauch des Bleies aus der Pistole des anderen. Aber seine Kugel hatte getroffen.
Hasard feuerte im Liegen, als die drei anderen Kerle nach bereitliegenden geladenen Pistolen griffen. Grenzenloses Erstaunen zeichnete ihre Gesichter. Eine sechsschüssige Waffe hatten sie noch nicht gesehen. Es war dieses Erstaunen, mit dem sie starben.
Der Seewolf gab den anderen mit einem knappen Ruf zu verstehen, daß die Gefahr beseitigt war. Zügig drangen sie weiter vor und schwärmten im Palast aus. Hasard, Ben Brighton, Don Juan de Alcazar und Dan O’Flynn stürmten die breite Treppe hinauf, die von der Halle ins obere Stockwerk führte. Das Kerlchen hatte ihnen den Weg zu Küzürtüsis Schlafgemach beschrieben.
Hasard ließ die Tür mit einem Fußtritt auffliegen. Drinnen krachte sie gegen eine Kommode. Mit wenigen langen Sätzen war er als erster im Zimmer.
Keine weiteren Wächter.
Nur ein schlotternder Koloß von Kerl war da, der sich die seidenen Decken bis zum Kinn hochgezogen hatte. Unter dem Baldachin seines Luxusbetts wirkte er wie ein verängstigtes Riesenbaby, dessen Augen von innen her aus den Höhlen gedrückt zu werden schienen. Es sah beängstigend aus.
„Sie sind Mehmet Küzürtüsi“, sagte der Seewolf und ließ es nicht wie eine Frage, sondern wie eine Feststellung klingen.
Statt einer Antwort erschauerte der Füllige heftiger. Seine Zähne begannen zu klappern.
„Sie haben Kemal Yildiz ermorden lassen“, fuhr Hasard mit klirrender Stimme fort. „Geben Sie es zu.“
Das Zähneklappern des Dicken wurde zu einem rasenden Rhythmus. Wieder brachte er keine Antwort hervor. Doch seine unverhohlene Angst war wie ein Geständnis.
Der Seewolf ließ den Drehling sinken, den er bis eben noch auf Küzürtüsi gerichtet hatte. „Wir werden dafür sorgen, daß Sie zur Rechenschaft gezogen werden, darauf können Sie sich verlassen. Erleichtern Sie Ihr Gewissen, Küzürtüsi. Sagen Sie uns, wer der Höllenfürst ist, wo wir ihn finden. Heraus damit!“
Der feiste Türke stieß einen kreischenden Laut aus. Plötzlich brachte er die schwammige Rechte unter der Decke hervor.
Hasard reagierte sofort. Mit einem Satz flankte er um den Bettpfosten herum auf Küzürtüsi zu.
Aber der Feiste war erstaunlich schnell. Was er zwischen den Fingern hielt, stopfte er sich hastig in den Mund.
Als der Seewolf sein Handgelenk packte, war es zu spät.
Küzürtüsi schluckte angestrengt. Ein triumphierender Ausdruck erschien auf seinem vom Angstschweiß nassen Gesicht.
Hasard schleuderte die Decke beiseite. Ben Brighton und die anderen blickten mit fassungslosem Kopfschütteln auf das, was überdeutlich alles erklärte – eine offene Pillendose neben Küzürtüsis Körpermasse, das Eingeständnis seiner Schuld, seine Feigheit, sich vor irdischen Richtern zu verantworten.
Sein Gesicht verkrampfte sich jäh, sein Körper begann zu zucken. Innerhalb von Sekunden war es vorbei. Mehmet Küzürtüsi starb mit fratzenhaft verzerrtem Gesicht.
7.
„Ich bin ganz sicher“, sagte Philip, nachdem er gemeinsam mit seinem Bruder erneut zur Back aufgeentert war. Plymmie folgte ihnen leise hechelnd. „Der Kerl steht noch immer da.“
„Und ich behaupte, du siehst Gespenster“, entgegnete Hasard junior.
„Gehen wir der Sache auf den Grund“, sagte Philip kurzentschlossen. „Zu was haben wir Plymmie!“
Beim Klang ihres Namens stellte die Wolfshündin die Ohren steil auf. Ihr Nackenfell sträubte sich sichtlich. Sie spürte, daß ihr eine besondere Aufgabe bevorstand. Schon oft hatten die Arwenacks ihre Klugheit bewundert.
Der junge Hasard hatte, nichts gegen den Vorschlag seines Bruders einzuwenden. Auf leisen Sohlen zogen sie sich von der Back zurück und meldeten sich beim Kutscher ab.
Auch, als sie auf die Pier abenterten, verhielten sie sich noch leise.
Philip spähte zum Kai hinüber und empfand grimmige Zufriedenheit.
Der Kerl, der da in einer Türnische lauerte und die ganze Zeit zur Dubas gelinst hatte, stand immer noch da. Mochte Hasard zehnmal behaupten, daß es sich nur um eine zufällige Schattenbildung handelte, er, Philip, war überzeugt, daß es ein Mensch war.
Er vermochte sich keinen Vers darauf zu bilden, aber es mußte mit dem Mordanschlag zusammenhängen, dem Kemal Yildiz und seine Sänftenträger zum Opfer gefallen waren. Was, zum Teufel, hatte irgendwelches lichtscheue Gesindel ausgerechnet am Schauplatz des Geschehens zu suchen?
An die Bordwand der Dubas geduckt, wies Philip der Wolfshündin die Richtung.
„Faß, Plymmie, faß!“ stieß er zischend hervor.
Die Wolfshündin fegte los, wie von einer Bogensehne wegschnellend. In weniger als einem Atemzug erreichte sie das Ende der Pier. Und erst in diesem Moment löste sich der Schatten aus der Türnische. Viel zu spät begriff er, daß es ihm an den Kragen ging.
Er stieß einen erschrockenen Laut aus, wollte davonhasten und in der nächsten Gasseneinmündung verschwinden. Denn er hörte jetzt das heisere Knurren des heranjagenden grauen Wesens, das in der Dunkelheit nicht mehr als ein Huschen war.
Er schaffte nur fünf oder sechs Schritte.
Plymmie überbrückte die letzte Distanz mit einem gewaltigen Sprung. Ihre gestreckten Vorderpfoten trafen den Nacken des dünnen kleinen Mannes, und er hatte das Gefühl, von der Wucht eines Hammerschlages gefällt zu werden.
Mit einem gellenden Schrei stürzte er der Länge nach auf das rauhe Steinpflaster. Mehr als einen Yard weit schlidderte er über die Steine und schrammte sich das Gesicht dabei auf. Er warf sich herum, wollte aufspringen und noch einmal die Flucht versuchen.
Doch im selben Moment war der graue Schatten über ihm.
Er wurde vor Entsetzen starr. Mächtige Reißzähne, höllisch spitz zulaufend, schimmerten direkt über seinem Gesicht. Der heiße Atem des vermeintlichen Untiers schlug ihm ins Gesicht. Er konnte nicht einmal schützend die Arme hochreißen, denn die Bestie stand mit den vorderen Pranken auf seinen Armen. Eine Last wie von Tonnengewichten. Öbül begriff nicht, daß er in seiner panischen Angst-Trugschlüssen erlag.
„Nein!“ schrie er. „Nein, um Himmels Willen!“
Die Söhne des Seewolfs waren mittlerweile zur Stelle.
„Plymmie!“ sagte Hasard junior energisch. „Zurück!“
Philip trat von der anderen Seite auf die Wolfshündin und den am Boden Liegenden zu und kraulte ihr zur Belohnung die Nackenhaare.
Plymmies leises Grollen ließ nach, sie gehorchte und wich ein Stück von der Kehle des Kerls weg. Aber sie blieb ihm gefährlich nahe, und den Anblick ihrer Reißzähne mußte er auch weiter ertragen.
Jemand eilte mit einer Laterne herbei. Es war der Kutscher. Der alte O’Flynn war als Wache auf der Dubas geblieben. Der Kutscher hielt die Laterne so, daß das Gesicht des kleinen Mannes erkennbar wurde. Es war ein Gesicht von ungesunder grauer Farbe. Als er die Hände vor das Gesicht hob, waren seine geschwärzten Finger zu sehen.
Plymmie ließ wieder ein heiseres Knurren ertönen, und er nahm die Hände sofort wieder herunter. Angst flackerte in den Augen des kleinen Mannes.
„Wer bist du?“ fragte der Kutscher. „Und was hast du hier zu suchen?“
„Ich heiße Öbül. Und ich habe auf einen Freund gewartet.“
„Ausgerechnet hier?“ fragte Hasard junior. „Ausgerechnet an der Stelle, an der Kemal Yildiz einer Explosion zum Opfer fiel?“
„Dann hättest du nicht wegzulaufen brauchen“, fügte Philip hinzu.
„Aber diese Bestie – diese …“
„Sie greift niemanden an, der ein reines Gewissen hat“, behauptete der junge Hasard. „Sie ist eine Wolfshündin, und sie spürt, was in einem Menschen vorgeht.“
„So, wie jetzt“, sagte Philip grimmig. „Sie spürt, daß du lügst, Öbül. Ein Wort von uns, und du hast sie an der Kehle.“
Als hätte die Wolfshündin verstanden, ruckte sie unvermittelt ein Stück vor. Ihr wildes Knurren und der mörderische Fang waren unmittelbar vor Öbüls Kinn.
Er wimmerte.
„Willst du jetzt reden?“ fragte der Kutscher mit ruhiger Stimme.
„Ja, um Himmels willen, ja!“ jammerte der kleine Türke. „Nur nehmt diese Bestie weg!“
Schritte näherten sich in einer der Gassen.
Der Seewolf und die Arwenacks kehrten zurück.
„Das trifft sich gut“, sagte Hasard junior. „Warte einen Moment, mein lieber Öbül, dann wird dein Geständnis gleich von den richtigen Ohren gehört.“
Wohlweislich ließen die Zwillinge und der Kutscher die Wolfshündin in ihrer augenblicklichen Stellung, damit der kleine Mann nicht noch auf andere Gedanken verfiel, bevor die Männer zur Stelle waren.
Sie prallten unwillkürlich zurück, als sie die Szene vor Augen sahen. Dann aber traten sie rasch näher und bildeten einen Halbkreis. Die Zwillinge berichteten, was sich abgespielt hatte.
„Mehmet Küzürtüsi hat sich vergiftet“, sagte der Seewolf. „Er hat sich aller irdischen Verantwortung entzogen, als er keinen Ausweg mehr sah.“
Der am Boden Liegende stieß einen entsetzten Laut aus.
„Ich sehe“, sagte der Seewolf mit hartem Lächeln, „die Nachricht vom Tod Küzürtüsis läßt dich nicht unberührt. Was hast du mit ihm zu tun?“
„Ich – ich …“
„Sprich!“ sagte Philip scharf.
Plymmies Knurren schwoll an und wurde rauher und drohender.
„Nehmt die Bestie weg!“ heulte Öbül. „Ja, ich rede! Ich rede!“
Hasard junior zog die Wolfshündin um eine Handbreite zurück.
„Es ändert sowieso nichts“, keuchte der kleine Mann. „Für euch gibt es keine Rettung mehr. Der Meister wird euch auslöschen – euer Schiff, alles!“
„Der Meister?“ sagte der Seewolf gedehnt. „Wer soll denn das sein?“
„Wer schon!“ Öbül stieß ein abgehacktes Lachen aus. „Der Mann, in dessen Händen alles Leben in dieser Stadt liegt. Er beherrscht Istanbul, doch niemand weiß es! Sie ahnen es nur alle.“
„Der Höllenfürst“, sagte der Seewolf. „Was hast du mit ihm zu tun? Bist du sein Diener?“
„Sein Gehilfe.“ Öbüls Antwort klang stolz.
„Wie heißt er?“
Noch einmal mußten sie ihn durch Plymmie bedrohen lassen. Dann endlich redete sich Öbül alles von der Leber. Der Seewolf und die Arwenacks erfuhren, daß Süleyman Ayasli der geheimnisvolle Mann im Hintergrund war, der das heimtückische Handwerk beherrschte, eine Sprengladung zum erwünschten Zeitpunkt hochgehen zu lassen.
Öbül beschrieb den Weg zu Ayaslis Behausung, und er schilderte sogar das Versteck des Reichtums, den der Höllenfürst bereits angesammelt hatte.
Dann aber, als ihn Hasard zur Dubas bringen ließ, wo er in die Vorpiek gesperrt werden sollte, sträubte er sich. Sie mußten kräftig zupacken, um seinen Widerstand zu brechen.
Für den Seewolf gab es keine offenen Fragen mehr. Er teilte Smoky und Matt Davies als Deckwache ein. Old Donegal und der Kutscher blieben als mögliche Ablösung an Bord. Desgleichen die Zwillinge mit Plymmie, die die Wachen zu unterstützen hatten. Plymmies Aufgabe sollte es wieder sein, die besonderen Qualitäten ihrer Spürnase unter Beweis zu stellen.
Hasard und seine Gefährten brachen auf. Es gab keine Zeit zu verlieren. Kemal Yildiz’ Tod mußte vollends gesühnt werden. Gleichzeitig wurde Istanbul von einem Alptraum befreit.
Münnever Yildiz sollte wieder in der Lage sein, ihr wohltätiges Werk für die Armen dieser Stadt fortzusetzen.
Süleyman Ayasli verharrte regungslos. Im nächsten Moment setzte er sich wieder in Bewegung und schob seinen kleinen Handkarren in einen Torweg. Die Häuser ringsum lagen in völliger Dunkelheit. Nirgendwo deutete etwas darauf hin, daß es auch nur eine Menschenseele gab, die ihn beobachtete.
Aber jetzt hörte er deutlich die Schritte. Sie näherten sich und mußten jeden Moment die Gasse erreichen, in der er sich befand.
Er bewegte sich nicht und wirkte wie ein Baumstamm in der Finsternis.
Die Schritte gewannen einen hohlen Nachhall. Also hatten sie die Gasse erreicht. Der Höllenfürst hielt den Atem an. Wer war so spät noch unterwegs? Ein Trupp der Stadtwache? Er hoffte, daß sie nicht Hauseingänge und Torwege kontrollierten. Er fühlte sich außerhalb seiner Werkstatt verwundbar. Öbül war nicht pünktlich zurückgekehrt, und er war nun vollends auf sich allein gestellt.
Die entscheidende Aufgabe mußte er allein bewältigen.
Er war entschlossen, es zu schaffen.
Seine Konstruktion, die er auf dem Handkarren transportierte, war ein Meisterwerk. Die Welt würde staunen, wenn sie davon hörte.
Schwankender Lichtschein fiel auf die Pflastersteine vor dem Torweg. Die Schritte dröhnten jetzt. Gedämpftes Murmeln war zu vernehmen.
Der Mann, der an der Spitze ging, trug eine Schiffslaterne. Ihm folgte der hochgewachsene Engländer, der Philip Hasard Killigrew sein mußte. Ayasli hatte sich die Beschreibung, die Öbül ihm gegeben hatte, genau eingeprägt.
Der Höllenfürst erschrak.
Fast die gesamte Mannschaft war da unterwegs, und sie drangen in die Richtung vor, aus der er gekommen war. Ihre Schritte waren voller Entschlossenheit, und sie hatten sich mit Säbeln und Pistolen bewaffnet.
Schlagartig wußte Ayasli, was sie vorhatten. Bei dem Gedanken traf ihn neuer Schreck wie ein Hieb.
Öbül hatte versagt. Eine andere Erklärung gab es nicht. Sie mußten ihn gefangengenommen haben. Nur deshalb war er nicht zurückgekehrt. Öbül war sonst noch nie unpünktlich gewesen. Immer war er vor der vereinbarten Zeit eingetroffen.
Sie mußten ihn gefoltert haben, die verfluchten Bastarde.
Unter Zwang hatte er verraten, wo sich die Werkstatt befand.
Für einen Moment spielte Süleyman Ayasli mit dem Gedanken, auf einer Abkürzung zu seinem Haus zurückzukehren, um es zu verteidigen.
Verteidigen? höhnte eine innere Stimme. Was könntest du schon ausrichten!
Nein, es gab nur den anderen Weg. Jetzt mußte er seinen Plan erst recht in die Tat umsetzen. Wenn es denn sein sollte, lief es eben auf gegenseitige Vernichtung hinaus.
Sie würden sein Lebenswerk zerstören, seine Werkstatt, sein Handwerkszeug, seine Vorräte.
Und er würde ihnen alles nehmen, was sie hatten – ihr Schiff mitsamt der Ausrüstung und den paar Mann, die wahrscheinlich als Wachen zurückgeblieben waren.
Vorsichtig näherte er sich der Gasse und spähte nach links.
Der Lichtschein war nicht mehr zu sehen. Sie waren also bereits abgebogen und in einer Abzweigung verschwunden. Aber der leise, dumpfe Hall ihrer Schritte war noch zu vernehmen.
Ayasli verharrte weitere fünf Minuten in dem Torweg, ehe er den Handkarren nahm und seinen Weg fortsetzte. Von den Rädern hatte er die Eisenreifen entfernt, so daß die Rollgeräusche kaum zu vernehmen waren. Überdies bewegte er den Karren vorsichtig genug, um nicht gegen unerwartete Hindernisse zu stoßen.
Er hatte sich Öbüls Wegbeschreibung genau eingeprägt. So umrundete er jenen Teil des Hafens, in dem das Schiff der Engländer lag, und drang auf ein jenseitiges Werftgelände vor, das durch keinerlei Einfriedung abgesichert war.
Zu stehlen gab es hier ohnehin nichts. Niemand konnte Schiffe entführen, die sich im Bau oder in Reparatur befanden. Bei den Wachen am Hafenausgang waren alle diesbezüglichen Einzelheiten registriert.
Ayasli schob seinen Karren vorsichtig an die zum Hafenbecken gewandte Seite einer Dockanlage. Das Wasser reichte nur bis zur trichterförmigen Einmündung des Docks. Der Einmaster, den sie mittels Seilzügen zur Reparatur hineinbugsiert hatten, lag auf dem Trockenen.
Vorsichtig hob der Höllenfürst die Einzelteile seiner empfindlichen Fracht von der Ladefläche des Karrens. Als erstes ließ er das kleine Floß, das er gebaut hatte, zu Boden gleiten. Das Licht, das von den Hecklaternen der Schiffe herüberfiel, reichte ihm. Er konnte immerhin Umrisse erkennen.










