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Die Sonne war schon fast wieder verschwunden, als Elester allen Beteiligten einen ‚Guten Morgen’ wünschte. Sucky, fett und glücklich, lag neben Elester und rührte sich nicht mehr.
„Wir haben“, erhob der ehemalige Mönch seine heisere Stimme, „einen gefährlichen Wald durchquert, und jetzt kann es nur noch einen Weg geben: den Weg zur Grenze!“
„Unmöglich!“, unterbrach ihn Professor Draciterius und hörte kurz auf, sich mit Dr. Sanguinis Anatomis zu streiten. „Ich will zurück ins Buch! Ich weiß gar nicht, warum ich mich diesem Trupp überhaupt angeschlossen habe. Habe ich mich diesem Trupp überhaupt angeschlossen? NEIN, ich wurde ausgeschlossen, eliminiert aus den Seiten, sozusagen!!“ Der Suckandpop hätte mit diesem anschwellenden Frequenzpegel seine Freude gehabt, doch sein Hunger war bereits gestillt.
„Ja, ganz richtig! Außerdem waren wir doch nur Randfiguren, ich verzichte darauf, zur Grenze des Nichtigen Reiches zu kommen, ich verzichte!“, fügte der zwielichtige Professor Anatomis Sanguinis hinzu, und man hätte meinen können, er und Professor Draciterius wären ein Herz und eine Seele.
„Ja, genau, ich bin eine ganz normale Gans. Mein Name wurde nur einmal erwähnt, stellt euch das vor: einmal! Ich wurde weder beschrieben, nein, nein, noch eigentlich durfte ich ein Wort reden, nicht reden durfte ich, jawohl! Nowhere Man. Und genauso ging es Elvira, jawohl, der Stubenfliege, genau, genau, Draculetta, ja, ja, der Fledermaus, genauso, genauso, der Flohspinne Tarantilli und Geier Willy, von der Fledermaus ‚Hu’ ganz zu schweigen! Twist and Shout. Wozu der ganze Aufwand? Wozu? Wozu? Let it be! Also, ich möchte auch zurück ins Buch, jawohl, zurück. Niemand wird mich bemerken, nein, nein, ich bin nur eine ganz unscheinbare Gans, ja, ja, und halte meinen Mund! Yeah, yeah, yeah! Und wenn das nicht geht, nicht geht, jawohl, ich meine, wenn das alles zu lange dauert, dann fliege ich, jawohl, dann fliege ich! I’ll Follow the Sun!“
„Selim hat völlig recht!“ Elester glaubte, seinen Augen nicht zu trauen, als auch noch vier Jugendliche aufstanden. „Wir möchten auch zurück!“
Der ehemalige Mönch setzte sich auf den nächsten Felsbrocken. Er hätte jetzt gerne den Kopf auf seine Hände gestützt, doch um sich selber nicht aufzuspießen, unterließ er es. Stattdessen verschränkte er seine Eisenspitzen ineinander, blickte schweigend von einem zum anderen, bis es endlich ruhiger wurde.
„Es stimmt, dass wir unvorbereitet auf diese Reise geschickt wurden. Wir wurden herausgerissen aus unserem täglichen Leben und fanden uns hier wieder. Einige von uns kamen auch nicht hierher, da sie zu schwer waren wie der Steinerne Löwe oder zu weit weg wie Kat Waterrise und Lerry Miller... Aber ihr wisst, was uns alle verbindet!“
„Ja, es verbindet uns, dass wir im Nirgendwo herumsausen...!“, piepste Draculetta, die Fledermaus.
„...und dass wir einmal gemeinsam in einem Buch waren, jedoch daraus – wodurch auch immer – verbannt wurden!“, ergänzte die Flohspinne Tarantilli.
„Freunde! Dort, wo ihr zurück wollt, ist keine Heimat! Wir alle waren doch nur Randfiguren in diesem Buch, keiner von uns war in die Handlung verwoben. Vielleicht haben wir jetzt, obwohl verbannt, die Möglichkeit, einen neuen Weg zu gehen und zu uns selbst zu finden! Jetzt können wir unsere eigene Geschichte schreiben! Der Weg ist das Ziel, und es ist alleinig unser Weg! Als erstes müssen wir die Grenze dieser Landschaft erreichen, denn wir befinden uns hier im Nichtigen Reich. Alles ist der Nichtigkeit preisgegeben, da es keinen Stein, keine Pflanze, keinen Tümpel und keinen Berg wirklich gibt, aber wenn wir…“
„Eben…! Alles ist so nichtig hier!“, unterbrach Prof Draciterius Elester aufgebracht. „Dann kehren wir doch ins Buch zurück! Ich brauche keine eigene Geschichte. Meine adeliges Blut ist geschichtsträchtig genug!“
„Nein, das ist nicht möglich!“, mischte sich Penny Lo ins Gespräch. „Wir können nicht mehr ins Buch zurück! Wären wir wenigstens in der wirklichen Welt, dann könnten wir unser Buch suchen und vielleicht wieder zwischen den Zeilen verschwinden. Doch wo das Nichtige Reich genau ist, wissen wir nicht. Wir wissen ja nicht einmal, wer wir genau sind! Wir haben die Form von Menschen und Tieren, aber das einzige, was wir sicher wissen, ist, dass wir in einem Buch entstanden sind! Außerdem ist das hier bei weitem nicht Schottland! Wir wandern doch schon tagelang Richtung Westen und hätten längst das Meer erreichen müssen, doch hier gibt es kein Meer!“ Diese Feststellung traf die Meerkatze Fischa. Ihre Enttäuschung war riesig. Da sie das Meer in ihrer Gattungsbezeichnung trug, hatte sie sich immer schon gewünscht, es einmal zu sehen.
Der Professor quengelte unterdessen unbeirrt weiter: „Und ob ich ein Mensch bin! Nieder mit dem versklavenden Idealismus, es lebe der Humanismus – auch wenn ich meiner Zeit etwas vorgreife! Schauen Sie sich ein Bild aus dem 16. Jahrhundert an: auf einer zweidimensionalen Fläche ist bereits eine räumliche Darstellung zu erkennen! Dank dem logischen Verstand und der genauen Beobachtung! Pah, wahrlich, ich sage Ihnen: cogito, ergo sum! Wir gehen einfach den Weg zurück, meine Herrschaften, und ich werde diesem Nichts eine Dimension hinzufügen – dank meiner Pendelexperimente, um uns wieder unserer wahren Heimat zuzuführen! Vertrauen Sie auf die Wissenschaft der Renaissance – ich habe schließlich Leonardo da Vincis geometrische Skizzen nicht umsonst studiert!“ Viele Augenpaare blickten begeistert auf den kleinen Mann. Nur Merlot und einige wenige sahen betreten aus. Der junge Vampir knickte sogar sichtlich ein. Er hatte nämlich einen Hang zu geisteswissenschaftlichen Überlegungen und dachte weiter als der Professor der Renaissance: wenn es nämlich dieses Nichtige Reich gar nicht gab, dann gab es ihn wahrscheinlich genauso wenig – das zumindest verriet eine von allem Idealismus befreite Logik. Trotzdem tauchte das Dämmerlicht die Gesichter aller in trübe Schatten.
Schließlich erklang wieder Elesters Stimme. „Pat, nimm mal den Stock!“ Als Elester begann, in die Luft zu hauchen, verstand der Junge. Er hielt dem Kapuzenmann einen nichtigen Stock vor den Mund, sofort entzündete er sich. Bald darauf brannte ein kleines, wenn auch nichtiges, Feuer. Elester starrte in die nichtigen – wir wissen es schon – Flammen und dachte nach.
Merlot hielt es schließlich nicht mehr aus. „Aber…, wenn wir irgendwo sind, wo wir nirgendwo sind, sind wir selbst dann überhaupt irgendwie oder sind wir vielleicht nirgendwie?“ Die Reaktion der Gefährten war für Merlot erstaunlich. Selten hatten seine Worte dasselbe ausgelöst wie seine Bisse – panische Aufschreie. Am schlimmsten dran war Eulalia. Nach tagelangem Herumirren mit diesen Irren, frisch bespuckt von einem Unding, und jetzt auch noch der Gewissheit beraubt, überhaupt zu existieren, reifte in ihr im Nirgendwo die Erkenntnis, dass dies keine Vorhölle, sondern die Haupthölle sei. Ob es eine solche überhaupt gab, hatte sie sich nie gefragt. Sie kniete nieder und begann um Verzeihung ihrer Sünden zu bitten. Bel Raven näherte sich ihr vorsichtig und meinte leise: „Es wird alles wieder gut!“
„Leute, wer oder was, wie und wieso, wodurch und weswegen, ob wir oder ob wir nicht existent sind, das tut jetzt alles nichts zu Sache! Auch wenn es uns gar nicht gibt, wäre es furchtbar langweilig, uns nicht vom Fleck zu bewegen. Also schlage ich vor, wir gehen einfach weiter!“, rief Penny Lo so laut sie konnte.
„Gehen, aber in welche Richtung? Das ist hier die Frage!“, ereiferte sich Professor Draciterius aufgebracht. „Ob´ s edler im Gemüt... alle, die an unumstößliche Größen wie Bilderrahmen glauben, gehen mit mir. Wir gehen dorthin zurück, woher wir gekommen sind! Von dort werden wir unsere geistige Heimat zurückerobern – mithilfe genauer wissenschaftlicher Analyse der Wirklichkeit!“ Angesichts der Bedrohung völliger Identitätslosigkeit ging ein fanatischer Aufschrei durch die Gruppe.
Elester erblasste. Die meisten seiner Kumpanen scharten sich um den Professor. Er stand auf und sah sich um. „Nun… Wenn es so sein soll, wer geht dann mit mir?!“
Bel Raven kam mit Eulalia vom Tümpel zurück. Sie stellte sich mit der Willenlosen hinter Elester. Auch Pat Swift und Penny Lo gesellten sich zu ihm.
„Konfrontiert mit dem Nichtsein ziehe ich die Aussicht auf ein fortschrittliches Nichtseins der Aussicht auf ein rückschrittliches Nichtsein vor, also komme ich mit euch! Ihr müsst mir nur eines versprechen!“, bemerkte Merlot.
„Und das wäre?“, erwiderte Elester matt.
„Tagsüber muss ich mir die Augen verbinden, da brauche ich unbedingt jemanden, der mich führt!“
„Aberrrr dass isch doch klar, mmmein Junggge!“ Jim Hicksley torkelte herbei. „Wo DU bissch, da binnn auch ich! Highly!“
„Fein, dann sind wir ja eine wirklich starke Truppe!“, brummte Elester, während ihm seine Kapuze vor die Augen rutschte.
„Elester...“
„Ja, Bel...“
„Nun, ich kenne unsere Geschichte ja schon, und an dieser Stelle fragt Bel Raven Elester, ob er sehr verzweifelt wäre, wenn sie, natürlich nicht wegen des Glaubens an unumstößliche Größen, sondern vielmehr wegen narrativer Umstände, sich der Gruppe der siebenunddreißig anschließen würde.“
„Und was sagt Elester da?“, fragte Elester.
„Er sagt: ‚Ja, ich bin sehr verzweifelt, aber bitte geh mit den anderen, da ich so oder so sehr verzweifelt bin!’“, erklärte Bel.
„Ja, ich bin sehr verzweifelt, aber bitte geh mit den anderen, da ich so und so sehr verzweifelt bin!“, wiederholte Elester. Bel schloss sich somit der größeren Gruppe an.
Die Nacht war hereingebrochen. Das Feuer warf einen flackernden Lichtkreis. Vom Waldrand her bewegte sich eine Gestalt auf sie zu. Die hintere Reihe der Fünfundvierzig teilte sich, und der Dunkelheit entsprang ein in Reiterhose, Stiefel und kariertem Hemd daherstapfendes monokeltragendes Individuum.
„Willkommen, Lord Waxmore, wir halten gerade eine Versammlung ab. Wollen Sie mit Professor Draciterius und den anderen zurück an den Ort, an dem unsere Reise begonnen hat? Obwohl sie diesen vermutlich nie finden werden. Aber wollen sie zurück, um der Hoffnung nachzuhängen, wieder in unser Buch zu gelangen, oder...“, fragte Elester lustlos.
„Guten Abend Mylords! Unser Buch? Was verbindet mich denn mit diesem Buch? Nichts als die Erwähnung meines Namens – keine Abenteuer, keine Aufgaben, ja nicht einmal eine Nebenhandlung wurde mir zugeschrieben. Nie und niemals möchte ich dorthin zurück!“, unterbrach der Lord Elesters Ausführungen.
„Ha, Niedergang des Adels! Sie werden sich noch ansehen, Mylord! Irren Sie nur blaublütig in diesem Nichtigen Reich herum! Im Namen der siegreichen Wissenschaft werde ich diesem unwürdigen Geschehen Widerstand leisten!“ Ohne weitere Verabschiedung, dafür mit wilden Schlachtrufen, stürmte Professor Draciterius Richtung Wald davon. Sechsunddreißig Individuen folgten ihm.
Sechsunddreißig Individuen?
„Nehmt mich mit!“, keuchte es aus dem Nirgendwo. Obwohl sich Penny Lo dreimal umdrehte, konnte sie nicht erkennen, wer gerufen hatte.
„Ich sitze auf deiner linken Schulter!“
Pat Swift grinste. Dann bemerkte er: „Das ist die Flohspinne Tarantilli! Sie ist so klein, dass sie kaum zu sehen ist, und sie wiegt auch nichts. Ich glaube, sie hat dich als Sänftenträger gewählt!“
„Na von mir aus...“ Plötzlich spürte Penny Lo einen Windhauch neben sich. Draculetta, die Fledermaus, landete auf ihrer rechten Schulter und piepste: „Nicht auszuhalten, dieser Haufen! Vor allem der Professor! Hu hält ja viel aus…“
„Wartet!“ Ein graubraunes Fellbündel kollerte Pat vor die Füße. „Erbarmen, ich komm auch mit euch!“, machte sich die Meerkatze Fischa bemerkbar. Sie sprang auf Pats Schulter, der entnervt wissen wollte: „Sind wir jetzt alle vollzählig?“
„Von den Tieren schon. Selim kann hinfliegen, wo er will, Mäusegroßvater Mero ist dem Trupp mit seinen Enkeln vorausgeeilt, BMS-Spatz Posi flattert auch voraus und hört nicht viel von den Schlachtrufen des Professors, und Geier Willy schwebt erhaben in den Lüften…!“
Pat wollte etwas sagen, bekam aber Fischas Schwanz ins Gesicht.
„Können wir endlich gehen…?“, flehte Merlot. „Solange es dunkel ist, sehe ich noch etwas von der Landschaft!“
Kapitel 3 Ein seltsamer Gruß
Lisa setzte sich im Bett auf, Alwin schien noch zu schlafen. Sie musterte das Innere der kleinen Strandhütte und lauschte den Geräuschen der sterbenden Nacht. Weit entfernt ließ eine Sumpfohreule einen fauchenden Laut hören. Ein Weibchen, dachte Lisa. Es dauerte nicht lange, da drang durch die aneinandergebundenen Bambusstäbe der Hüttenwand Licht. Einer der Strahlen zauberte Maracellas Nasenspitze hervor. Das Südeseemädchen machte es sich auf Lisas Bettdecke gemütlich und lächelte ihre Schöpferin an. Lisa lächelte zurück.
Eine Männerhand wanderte langsam Lisas Bein hinauf.
„Hey Kat, schon gefrühstückt? Komm, wir setzen uns raus! Wo ist Lerry?“, meinte Maracella plötzlich und sah zur Tür. Auch Lisa blickte auf die geschlossene Tür, ohne jedoch den verschlafenen und sehr ernsten Blick ihres Mannes zu sehen.
Kurz darauf saßen Alwin Richard und seine Frau an einem Tisch vor der Hütte. Vom Wind durch Sanddünen geschützt, verzehrten sie ihr Frühstück. Lisa hörte, wie sich Alwin nach ihrem Schlaf erkundigte. Sie gab eintönige Antworten, ihre Phantasie hingegen wurde bunter und setzte sich ebenfalls an den Tisch. Während Alwin nach Worten suchte, war Lisas Aufmerksamkeit von dem gefangen, was in ihrem Geist geschah: Als Lerry erschien, holte er etwas aus seiner Hosentasche und zeigte es Kat.
„Tja, es gibt ein Rätsel auf…“, meinte Kat nachdenklich. Nach einer Pause, in der Alwin die Hawaiianischen Koch- und Essgewohnheiten schilderte, fügte Kat leise hinzu: „Entschuldigung, Miss Richard, könnten Sie sich das bitte ansehen! Es könnte wichtig sein!“
Lisa schluckte. „Ein Stück Korken am Morgen und vielleicht landen Sie am Abend in einem Topf Gemüsesuppe und wundern sich, warum Sie noch immer keine Karotte geworden sind...“, leierte sie ohne mit der Wimper zu zucken vor sich her. Alwin blickte auf das Treibgut in Lisas Hand, dann auf die Ananas. Er schnitt weitere Scheiben davon ab und fragte sich im Stillen wieder einmal, ob die Ereignisse des letzten Jahres nicht vielleicht doch zu viel für seine Frau gewesen waren.
Ein Hawaiibussard schrie landeinwärts, während das Rauschen der Brandung mit den vergehenden Minuten stärker zu werden schien. Kat, Maracella und Lerry starrten schweigend auf Lisa, während Alwin die Lippen schürzte.
Lisa nahm eine der unzähligen Ananasscheiben und biss hinein. Wieder einmal strich sich Larry seine Haare glatt. Beide Ellbogen auf den Tisch und ihr Kinn in die Hände gestützt, ließ Maracella ihren Blick nicht von Lisa.
„Hmm..., klingt nach einem ungereimten Rätsel...“, murmelte diese und erschrak.
„Wie wirklichkeitsnah“, warf Alwin ein und legte das Messer weg. Er verschränkte seine Hände vor der Brust und versuchte zu lächeln, was sehr komisch aussah. Denn während sich sein Mund verzog, als hätte er auf einen unreifen Papayakern gebissen, standen seine Augenbrauen in Startposition für einen Paragleitflug.
Lisa starrte auf den Korken, der von den meisten Muscheln und dem Seetang befreit worden war.
Gefangen im Nichtigen Reich,
Unerhört ihre Geschichte,
Sie brauchen
Hilfe
Bald!
Unbekannterweise
Aus ganzem Herzen
Respektvolle Grüße an
…
„An wen diese Zeilen adressiert sind, ist nicht zu erkennen…!“, murmelte Lisa mehr zu sich selbst, währendAlwin sanft meinte: „Hm, Liebling, vielleicht legst du dich wieder etwas nieder!“ Dann nahm er Lisa den Korken aus der Hand. Er konnte die Schriftzüge jedoch nicht leugnen und wiederholte kopfschüttelnd die eingeritzten Worte. Schließlich ergänzte er, „Eine moderne Form, Grüße zu schicken. Wir leben ja im Zeitalter permanenter kommunikativer Erneuerungen. Vermutlich haben wir hier auf unserem Strand übersehen, dass Apple ein neues Tablet auf den Markt brachte! Aber wie dem auch sei…!“
Er sah kurz auf, ob sich seine Frau ein Lächeln abringen würde. Doch nichts dergleichen geschah. So fuhr er seufzend fort, „Tja, leider sitzt eine besonders ausdauernde Muschel über den Namen. Das dauert Wochen, bis die Anhaftung am Korken nachlässt. Das sagt der Biologielehrer in mir. Mr Holmes, da ist nichts zu machen! Um die Adressaten herauszufinden, müssen wir warten, bis die Muschel sich ablöst. Wenn wir versuchen, das Schalentier gewaltsam zu entfernen, wäre die Schrift vermutlich völlig unleserlich! Watson. Ende.“ Mit übertriebenem Ernst verschränkte er die Hände. „Aber dann können wir die Grüße ja weiterleiten!“
„Alwin, hör doch auf, vielleicht braucht jemand Hilfe!“, entgegnete Lisa ungeduldig, bereute es aber sofort. Paragleiter wurden durch einen Fallwind zur Stirnmitte gedrückt und Alwin meinte energisch, „Lisa, du mußt überhaupt niemanden retten! Das ist ein Stück Treibgut, das hat nichts zu bedeuten!“ Er beugte sich zu seiner Frau herab und sah ihr tief in die Augen.
„Nichts zu bedeuten?! Aber da steht doch, dass irgendwer ohne seine Geschichte rumläuft, genauso wie ich!“ Obwohl Lisa schwieg, spürte Alwin Maracellas Worte und ihren Blick. Ihr junges Gesicht sprühte vor Energie. Lisa hatte kurz den Eindruck, als wäre Maracella eine weise Furie, die sich gegen den Dämon der Vergessenheit wehrt wie eine ihren Nachwuchs verteidigende Wolfsmutter.
Alwin sah lange in die Augen seiner Frau. „Gut Lisa, mag sein, dass es eine Botschaft ist…“
Den Rest des Tages war Alwin besonders fürsorglich und verbrachte den größten Teil des Nachmittags mit Lisa innerhalb der Hütte. Als sie abends in ein nahe gelegenes Dorf essen gingen, fasste Lisa einen Entschluss. Bei einem Glas Cherry meinte sie leise, „Cherie, es ist zwar wunderbar hier, aber ich habe das Gefühl, wir sollten nach Schottland reisen!“ In diesem Moment knackte es. Alwin hatte auf die Sauerkirsche gebissen. Er zog das Stäbchen, an welchem die Kirsche gesteckt hatte, sehr langsam aus dem Mund. „Lisa…“
„Schau, wir haben die Hütte doch den ganzen Sommer über gemietet, wir könnten doch einen kleinen Abstecher nach Schottland machen und dann die zweite Hälfte der Ferien wieder hier verbringen!“
Ihr Mann sah ihr noch tiefer in die Augen. „Es ist wegen deiner Geschichte…“, meinte er langsam.
Lisa musterte den vorbeieilenden Kellner als würde er auf einem Laufsteg Pyjamas präsentieren.
„Lisa…, wieso jetzt?“
„Es ist dringend…!“
Alwin lachte auf, der Lampion über ihnen wackelte. „Aber es war doch von vornherein klar, dass du diese Geschichte nie wirst veröffentlichen können! Was willst du denn in Schottland, vielleicht über Schlossgeister recherchieren? Warum vergisst du das Ganze nicht und schreibst eine neue, eigene Geschichte. Vielleicht eine, die zufälligerweise in Hawaii beginnt?!“ Genervt blickte Alwin zu dem pendelnden Lichtkegel hoch.
Lisa holte tief Luft und richtete ihre Wirbelsäule gerade. „Weißt du, es sind diese Figuren, die ich erschaffen habe – aus dem Nirgendwo. Die brauchen mich!“
Ihr Mann stöhnte auf, dann sah er seine Frau an, als wäre sie ein Küken, das soeben aus einem Ei geschlüpft war und meinte sanft: „Natürlich, Jim Hicksley wird irgendwo in einem Kellergewölbe seinen Rausch ausschlafen und warten, bis Schneewittchen ihn wachküsst, und Elester Claw braucht deine Hände, damit er sich die Zähne putzen kann. Hast du dir überhaupt jemals überlegt, wie sich der Kapuzenmann die Zähne putzt?“ Endlich lächelte Lisa.
„Und Eulalia Birdwitch hat sich zu einer fliegenden Suffragette verwandelt und braucht Flugstunden zur Behebung ihrer Startschwierigkeiten. Aber vielleicht sollten wir Alice Schwarzer aufsuchen und sie informieren, dass das Patriarchat endlich im Untergang begriffen ist!“ Lisa schlang die Hände um ihren Mann, zerzauste seine Haare und küsste ihn lange.
Eine für den Radarschirm unsichtbare Mücke umkreiste schon seit drei Runden den Sonnenschirm, unter dem das Eis in Cocktail- und Fruchtsaftgläsern knackte. Vielleicht wartete sie auch auf den geeigneten Moment, um in einem der Riesenvögel zwischenzulanden und sich in einen anderen Kontinent fliegen zu lassen.
Als Lisa schließlich Maracella, Kat und Lerry in der großen Halle des Flughafens verabschiedete, musste sie sich einiges anhören.
„Ihr seht klasse aus... tolle Kostümierung, sehr unauffällig…“, maulte Lerry. Mit gemischten Gefühlen schielte er auf die beiden Erwachsenen. Sie wirkten wie Privatdetektive im Auftrag für den Scheich von Dubai. Alwin hatte eine Sonnenbrille von Armani auf und trug ein beiges Cordsakko von Lagerfeld, während Lisa in einem Rock von Gucci und in einer Seidenbluse von Channell steckte. Lerry hingegen steckte seine Hände tief in die Hosentaschen. Nur Maracella schien einigermaßen frohen Mutes, obwohl natürlich auch sie gerne mitgeflogen wäre. Ihre Augen strahlten Lisa an.
„Pass auf dich auf, ich verspreche dir, wir werden unser Möglichstes tun... vielleicht auch unser Unmöglichstes!“ Lisa umarmte ihre Jacke fester. Eine kleine Ewigkeit gehörte jetzt nur ihr und Maracella, eine Ewigkeit, die aber nicht länger als der Flügelschlag eines Pfauenauges dauerte.
„Na ja, dann alles Gute!“, murmelte Lerry. Er blickte zu Boden, als prüfe er, ob seine Sandalen sauber wären. Schließlich sah er lange in Lisas Augen.
Die Koffer waren schon eingecheckt, an der Sicherheitskontrolle standen kaum Passagiere. Das Flugpersonal an den Kontrollen war freundlich, es hatte heute schon genug Streitereien mit Fluggästen gehabt. Als Alwin sein Mobiltelefon mit einem Aufkleber zurückbekam, war keine Zeit mehr, sich zu wundern. Der Flug wurde zum dritten Mal aufgerufen, als die beiden Erwachsenen zum Terminal rannten.
Kapitel 4 Eine Gans ist nicht mehr ganz klar
Da Maracella seit achtundreißig Jahren nichts anderes zu tun hatte, als Südseemädchen zu sein, konnte sie schwimmen wie ein Fisch. Sie war schon weit vom Strand entfernt, die Wellen waren nicht hoch, sie legte sich auf den Rücken und ließ sich treiben. Da berührte sie etwas am Bein. Sie atmete tief ein. Da fühlte sie wieder einen Stoß im Rücken, doch auch diesmal ließ sich das Mädchen weitertreiben, als wäre sie ein Stück Holz.
„Tscherill! Ich bin doch kitzelig!“ Barthaare berührten Maracellas Wange. Eine Robbe tauchte dicht neben Maracella auf. Tscherill war Maracellas bester Freund, sie kannte ihn seit achtunddreißig Jahren, als er ihr damals das Leben gerettet hatte.
„Help!“
Wie vom Blitz getroffen sah Maracella um sich.
„Hallo, junge Dame! I’m so tired, nicht erschrecken, wenn ich rede, ich bin eine ganz normale Gans. Nun ja, vielleicht doch nicht ganz normal, habe leider viele ganz normale Menschen auf meiner Reise erschreckt bis jetzt, ja, es tut mir so leid, so leid, Cry Baby Cry, einige werden wohl zum Arzt gehen und erzählen, sie hätten eine Gans sprechen hören, Doctor Robert, ach, es tut mir jaaa so leid, aber es geht um Leben oder Tod! Lady Madonna, ich konnte nämlich nicht mehr zurück ins Buch! Nein! Nein! Don’t Let Me Down“, sprudelte es aus der Gans hervor.
„Hallo!“, sagte Maracella etwas zögerlich. „Du kannst mit mir reden, ich bin ja auch kein normales Mädchen und verstehe dich schon...!“
„Uff, endlich, du bist die erste seit achttausend Kilometer, die mich versteht! Thank you Girl!“
„Tja, eine Hawaiigans bist du nicht, die sieht anders aus und kann nicht fliegen. Aber komm, setzt dich auf meinen Kopf, du bist ja ganz erschöpft, liebe Gans, ich schwimm mit dir zum Ufer! Tschüß Tscherill!“
Endlich watschelte die Gans über den Sand. Lerry lag am Strand und las.
„Hallo, mein Junge, was liest du da? Doch nicht etwa dieses mysteriöse Buch, dem wir alle die Misere zu verdanken haben? It’s Been a Hard Days Night…“
Mit diesen Worten ließ sich die Gans augenblicklich in den Sand fallen.
„Schläft sie noch immer?“
Die Jungs nickten.
„Ist sie vielleicht tot?“
Lerry und Kat schüttelten den Kopf.
„Sagt ihr aber heute viel!“ Mürrisch setzte sich Maracella auf ein mit Gänsefedern gefülltes Sitzkissen. Da saßen sie nun alle drei neben dem unverhofften Gast.