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Ein Geräusch ließ sie zusammenzucken. Es war die Gans, die mit geschlossenen Augen den Schnabel aus dem Gefieder zog, ein paar Mal laut schnatterte, um ihn wieder unters Federkleid zu schieben.
„Sie träumt wahrscheinlich!“, meinte Maracella ernst.
Lerry legte seine Karten auf die Bastmatte am Boden. „Poker, Kat, das Spiel ist aus!“
„Mist!“
„I’m Down. Wo bin ich hier gelandet?!“ Plötzlich riss die Gans ihren Kopf hoch und blickte sich um als sähe sie nur Gänseleber.
„Wir haben uns im Meer getroffen, kannst du dich erinnern?“, beruhigte sie Maracella.
„Good Morning Good Morning. Genau! Der erste Mensch, der mich verstand! Ain’t She Sweet. Verzeihung, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Selim, mein Name! Komme eigentlich ursprünglich aus dem Londoner Zoo! Jeah!“ Nach einer etwas umständlichen Begrüßungszeremonie, bei der Lerry, Kat und Maracella ihre Namen dreimal wiederholen mussten, begann die Gans loszuplappern. „Bin ich froh, euch getroffen zu haben. Ja, ja, froh! Here Comes the Sun. Wie viele Menschen habe ich angeschnattert, aber niemand wollte zuhören, nein, nein, keiner interessierte sich für meine Geschichte! Got to Get You Into My Life“
„Schieß los! Du bist also eine englische Gans?“ Lerry strich sich die Haare wieder einmal über der Stirne glatt.
„Ein Gänserich, wenn ich bitten darf! Nun gut, wo waren wir, ach ja, es begann alles damit, dass ein aufgebrachter Spatz in den Zoo geflogen kam und jedes Tier befragte, ob es eine Eule gesehen hätte, eine ganz bestimmte Eule, nämlich. Später im Nichtigen Reich, da hab ich, ja, da hab ich diesen Spatz wiedergesehen, er heißt Posi. Do You Want to Know a Secret? Posi hat mir erzählt, dass er der Grund war, jawohl der Grund, warum ich nun nicht mehr im Londoner Zoo bin! Der Grund war er, dieser Spatz, der eine Eule gesucht hat, eine ganz bestimmte Eule, ach dieser doofe Spatz, Entschuldigung, jedenfalls, ihr müsst wissen, deshalb nun diese ganze Odyssee! Twist and Shout!“
„Im Nichtigen Reich?!“
Alle drei waren aufgesprungen.
„Was weißt du über das Nichtige Reich?“ Kat schnappte sich vorsichtshalber sein Surfbord, das in einer Ecke lehnte, da er sich damit immer am sichersten fühlte.
„Na ja, soviel weiß ich auch nicht darüber, ja darüber, nun soviel nicht, nein, nein…! Happines Is a Warm Gun.“, beschwichtigte Selim seine Zuhörer und schaute unruhig von einem zum anderen.
„Setzt euch bitte wieder hin, ja, hin, zu große Tiere waren mir schon immer unheimlich, sehr unheimlich. Don’t Bother Me! Und wenn sie der Gattung Mensch angehören, dann ganz besonders, sehr besonders, jawohl! We Can Work It Out.“ Die Gans putzte kurz ihr Gefieder, fuhr dann aber doch fort zu erzählen. „Also, ich bin letztes Jahr geboren, ja, ja, aber eigentlich älter als ihr, wisst ihr? Jap, jap! Within You Without You“ Selim entließ eine Deckfeder aus ihrem Schnabel und sah in die Runde.
Alle drei blickten gespannt auf den Vogel.
„Also, in einer für mich und andere geschaffenen Welt lebe ich nämlich im Jahr 1965. Jip, Jip! The roaring sixties, jeah, jeah, jeah! Kenn aber schon alle Beatles Lieder! Ja, Ja, ein Wunder, sozusagen! Das hört sich jetzt kompliziert an, ist es auch, aber das macht nichts! No, no, Strawberry Hills Forever, Forever, Forever!!!“
Nach einer Pause war es Maracella, die als erste etwas sagte. „Ja, bei uns ist das auch ein bisschen kompliziert. Ich zum Beispiel bin seit achtunddreißig Jahren acht Jahre alt!“ Marcella lächelte Selim an. „Das ist der Grund, warum du einen von uns finden musstest. Niemand anderer hätte dich verstanden. Wir kennen die Vorgeschichte etwas! Beatles kenn ich aber nicht.“
Kat, der sich auf sein Surfbrett gesetzt hatte, erzählte nun Selim von dem Korken, den sie entdeckt hatten. Lerry vergaß, seine Haare, wie sonst üblich, zu glätten, während Selim auf die Stirn des Jungen starrte. Dann schnatterte er weiter, und die drei hörten sich an, was die Gans noch alles zu berichten wusste.
„Across the Universe… am Anfang war natürlich totales Chaos, Come Together, jawohl Chaos, ungefähr acht, neun Tiere, aber no Walrus, no Rocky Racoon, der Rest ein Haufen sechzehnjähriger Schüler, na, wie gut, dass jetzt Sommerferien sind, Good Day Sunshine, dann waren da noch ein gefesselter und drei ungefesselte Männer, It’s All Too Much, sowie allerhand komische Figuren, sehr komische, die sich noch nie vorher gesehen hatten, Here There and Everywhere, ja, und eine ganz normale Erwachsene.... Fool on the Hill, und zwei ehrenwerte Akademiker, die allerdings etwas klein geraten…! Dear Prudence! Das war ja schlimmer als die Seargant Peppers Lonely Hearts Club Band!“
„Die kleinen Akademiker waren wahrscheinlich Professor Draciterius und Dr. Sanguinis Anantomis! Letzterer hat vor einem dreiviertel Jahr mit einem Kerzenleuchter einen Anschlag auf meine Halbtante verübt und war danach nicht mehr zu finden gewesen!“, ergänzte Lerry Selims Beschreibungen. Die Gans wackelte aufgeregt mit dem Kopf.
„Und die anderen, kennst du sie, Lerry?“ Maracella riss ihre Augen auf und starrte Lerry an.
„Hm, weiß nicht so genau. Also, von einer normalen Erwachsenen wüsste ich nichts! Der Gefesselte könnte Body Britten sein. Er hat versucht, meine Halbtante zu entführen, wurde dann aber überwältigt.“
„Miss Petty muss ja ein entspanntes Jahr verbracht haben“, bemerkte Kat.
„Und es waren 45 Individuen?“, fragte Lerry schnell, da er nicht wollte, dass jetzt zuviel über Bela geredet würde.
Aufgeregt blickte die Gans von einem zum anderen. Bevor sie weitersprach, öffnete sie ihren Schnabel und sah Lerry wieder lange an. „Ja, und zuerst gingen und gingen und gingen wir alle gemeinsam tagelang durch einen Wald, Magical Mystery Tour, ja, durch einen gefährlichen Wald, bis wir zu einer Heide kamen, ja, einer Heide, doch dann teilte sich die Gruppe, jawohl die Gruppe. Hello Goodbye. Einige wollten unbedingt zur Grenze, unbedingt. Ich bin mit den meisten zurückgegangen, besser gesagt, geflogen, ja zurück, weil ich dachte, das Buch ist meine Heimat, jawohl, meine Heimat, Mother Nature’s Sun, obwohl ich darin in einem Zoo lebe! I’ve Got to Find My Baby.Aber wir kamen nirgends an, nein, nirgends! Dann hab ich mich davon gemacht, ja, ja! Aber plötzlich war sie da! Es war schrecklich, ja, ja!“
„Wer war da?“, fragten alle drei gleichzeitig.
„From Me To You: Die Grenze! Sie ist scheußlich, sehr scheußlich, jawohl, hab sie aber überflogen, ja, überflogen, da gibt es einen Sumpf, einen Sumpf, jawohl, Tomorrow Never Nows, eine riesige Mauer, Mauer, ja, ja, ein Monster, uhhh, ein Monster in einer Stadt, es ist schrecklich, seeeehr schrecklich... Run for Your Life!“
„Aber wo ist denn dieses Nichtige Reich überhaupt?!“, unterbrach Lerry die Gans ungeduldig.
„Das kann ich auch nicht genau sagen, genau, aber wahrscheinlich liegt das Nichtige Reich irgendwo, jawohl irgendwo, über den Wolken Schottlands, da irgendwo hoch oben, jawohl! Lucy in the Sky with Diamonds.“
„Wie kommst du denn auf diese Idee?“ Kat hielt sein Bord fester.
„Na ja, nachdem ich das Monster überflogen hatte, Free as a Bird, das Schreckliche, das Schrecklichste, in der Stadt, einer schrecklichen, da sah ich bald darauf ein paar Inseln, ja, ja die kenn ich, von denen hat meine freie Großmutter immer meiner gefangenen Mutter erzählt, Your Mother Should Know, als sie uns besuchen kam im Londoner Zoo, ich war noch ein Küken, und meine Mutter hat mir dann, als ich größer war, abends am Zooteich…!“
„Selim!“
„Ach so, entschuldigung, ich schweife ab, ja ab…! Ich bin dann halt immer weiter der Sonne nachgeflogen, Follow The Sun, wie bereits zitiert, und dann kam lange nur noch Wasser, ganz viel Wasser, jawohl! Wäre ich nicht auf einem Schiff zwischengelandet, ja gelandet, hätte ich den Überflug nie, nie, nie überlebt, nein, nein, wäre schon tot, wie traurig! No Reply. War aber auch schon schwierig genug, sehr, sehr schwierig, von den Matrosen nicht in einen Kochtopf gesteckt zu werden, Glass Onion, Kochtopf, wie schlimm, diese Meute, jawohl, Meute, ja, ja… Revolution!“
„Armer Selim, aber sag mir bitte, wie sah denn das Monster aus?“ Maracella liebte nämlich Monster aller Art.
„Gar nicht, es ist nämlich unsichtbar! You’ ve Got to Hide Your Love Away.“
Die drei Jugendlichen starrten die Gans an.
„Nein, du siehst es nicht, nein, nein, You Won’t See Me. Aber da es immer da ist, spürst du es, ja, ja, und das Schlimmste ist sein Rachen, wie schrecklich, wenn du ihm zu nahe kommst, zu nahe ja, dann denkst du nur noch daran, was du alles haben möchtest, Pleasy Pleasy Me, jawohl, und wie du es dir am besten holen könntest, ja ja. Ich bekam eine solche Lust, nach unten zu fliegen, ja wohl, um mir alles zu stehlen was nicht niet- und nagelfest ist, ja, ja, aber ich bin ja ein Tier, jawohl, Hey Bulldog, da hab ich das Monster irgendwann ausgelacht, jawohl, ausgelacht hab ich es! Real Love. Aber wehe dem, der dieser Gier nachgibt: den frisst das Monster, frisst ihn, jawohl, mit Haut und Haar! Piggies.“
Maracella, die nicht wusste, was sie von diesem Monster halten sollte, fragte neugierig, „Und im Nichtigen Reich, gibt es da auch Monster?“
„Ich hab keines gesehen, nein, nein, aber wer weiß, ja, wer weiß schon! Dig It!
„Was sind da noch für Wesen dort?“, wollte die kleine Hawaiianerin unbeirrt wissen.
„Keine Ahnung. Everybody Has Got Something to Hide Except Me and My Monkey.“
„Also, da ihr alle auch alle aus Lisas Feder seid, könnte sich auch Tarantuga im Nichtigen Reich befinden!“, überlegte Maracella laut.
„Tarantuga? Helter Skelter!“ Selim blinzelte misstrauisch.
„Tarantuga ist so alt wie ich. Seine Geschichte hatte das gleiche Schicksal wie meine. Lisa verbrannte sie, als sie noch ein Kind war!“
„Aber warum hat sie denn all diese Geschichten verbrannt?“, warf Lerry ein und vergaß Selims Erzählung für einen Moment.
Maracella zuckte die Schultern, dann dachte sie kurz nach. Schließlich meinte sie, „Naja, wahrscheinlich glaubte Lisa, Gott sei Katholik! Eigene Welten und Figuren zu erschaffen, ist doch so ungeheuer lustig und man leidet dabei so wenig! Sie fühlte sich wahrscheinlich irgendwie schuldig und nicht mehr fromm genug.“
„Wie auch immer, das hilft uns jetzt auch nicht weiter!“, meinte Kat missmutig. Diese ganze Diskussion uferte für sein Gefühl zusehends aus. Er sehnte sich zurück zu einem Ufer, wo man wenigstens Wellenreiten konnte. Außerdem war für ihn dieses Nichtige Reich samt Treibgut mehr als rätselhaft. Er hätte jetzt viel lieber handfeste Tatsachen als Spekulationen vor sich gehabt.
„Gab es eigentlich noch eine Erzählung, die Lisa damals verbrannt hatte?“ Lerry ließ nicht locker und sah Maracella an.
„Hm, ja, die Geschichte von Walla!“
„Walla, was war denn das, eine fliegende Untertasse?“, warf Kat lakonisch ein, worauf Maracella beleidigt schwieg. Auch wenn Lisa damals ihre Geschichten verbrannt hatte, durfte niemand etwas gegen sie sagen. Schon gar nicht die Figuren aus ihrem Buch!
Sie diskutierten noch lange über diesen mysteriösen Ort, doch Selim war ihnen keine große Hilfe mehr. Da er immer etwas abseits der anderen geflogen war, wusste er nichts Genaueres mehr über die Gruppe. Außerdem hatte der Graugänserich bereits einer wunderschönen Hawaiigans zu tief in die Augen geschaut.
„Nun Freunde, ich fürchte, ich kann euch auch nicht mehr verraten, so sorry, sorry. Ihr entschuldigt mich doch? All you need is Love!“
Schon flog er fort.
Kapitel 5 Swinging London
Lisa lugte auf die Wolken. Es war angenehm ruhig, die meisten Fluggäste dösten. Außer den Schritten der Stewardessen hörte sie nur das gleichmäßige Surren der Düsen. Lisa legte den Kopf auf Alwins Schulter und dachte an ihre Mutter, die sie nie wirklich gekannt, und die sie doch in ihrer Wahrheit erlebt hatte, dessen war sie sich sicher. Eine Wahrheit, die einem in leuchtenden Farben geschmückten Tempel glich.
Lisa war bei ihren Großeltern in Kanada aufgewachsen. Ihr Vater, ein verheirateter Engländer, hatte sich nie zu der herumreisenden Zigeunerin bekannt, die ihm eine Tochter geschenkt hatte. Deren Eltern hatten jedoch einen Zirkus. Als ihre Mutter kurz nach ihrer Geburt verschwand, übernahmen Lisas Großeltern ihre Erziehung. Die zwei älteren, liebevollen Menschen hatten ihr eine wunderbare Kindheit geschenkt und sie gelehrt, die Geborgenheit in der Reise, die Heimat in der Fremde zu umarmen.
Sie war in ihrem Leben viel herumgekommen. Dabei hatte sie immer getan, was sie fühlte, tun zu müssen. Oft genug kam sie dadurch in Schwierigkeiten; tat Dinge, die viele Menschen aus der Bahn warfen. Sie riss dort Wände ein, wo sie andere mühsam errichtet hatten, und oft genug ging sie dabei Leuten auf die Nerven. Doch sie konnte nicht anders.
Ihre Ehe mit Alwin war einem Segeltörn auf hoher See vergleichbar, weit weg vom sicheren Hafen. Dann, letztes Jahr, kam Leonhard. Als Alwin ihr mittgeteilt hatte, er hätte sich in einen jüngeren Mann verliebt, schlitterte Lisa zuerst in eine Depression. Es war, als wäre sie in eine seelische Totenstarre verfallen. Doch dann geschah, was sie trotz ihrer unkonventionellen Einstellung nicht für möglich gehalten hätte: Sie verliebte sich in den Liebhaber ihres Mannes. Für Alwin stellte das kein Problem dar, für Leonhard auch nicht, und sie erlebte mit diesen beiden Männern nie geahnte Höhenflüge.
Es war ein paar Tage nachdem Leonhard sich verabschiedet hatte und Lisa eines Abends den Bestseller der Autorin Mary Rocking, „The Return of the Godess“, zu Ende gelesen hatte. Die folgende Nacht träumte sie diesen Traum. Es war ein Traum, in dem sie Farben schmecken und Gerüche tasten konnte. Als sie aufwachte, fühlte sie sich erleichtert. Den ganzen Tag über spürte sie, etwas war anders in ihrem Leben. Am Abend begann sie plötzlich zu schreiben; das erste Mal nach so langer Zeit, nachdem sie als Kind ihre Geschichten verbrannt hatte. Die Worte flossen nur so aus ihrer Feder. Nach drei Monaten gab es neunhundert handgeschriebene Seiten mehr auf diesem Planeten. Sie überarbeitete den Text über die Machenschaften einer Göttin namens „Tochronoth“ und ließ das Manuskript als Buch binden. Es existierte nur ein einziges Exemplar davon. Für sie war dieses kreative Erlebnis eine Offenbarung. Seitdem wusste sie, das Paradies war etwas aus dem sie niemals vertrieben worden war – einem magischen Dreieck ähnlich, das über einem Abgrund kreist.
In London angekommen, nahmen sich Alwin und Lisa erst einmal ein Hotel. Weniger, um sich von dem langen Flug, sondern vielmehr von dem Schock zu erholen, höchstwahrscheinlich in göttlicher Mission unterwegs zu sein. Erst am Morgen des dritten Tages fragte Alwin in der mit Kaminfeuer erwärmten Frühstückshalle: „So, und was jetzt?“ Er sah Lisa an, als würde er noch immer irgendwo über den Wolken schweben.
Seine Frau zuckte mit den Schultern. „Mal sehen...!“, gab sie lächelnd zurück. Sie schob sich eine weitere Weinbeere in den Mund und meinte, „gehen wir doch einfach spazieren!“
Aber sie gingen nicht, denn da wären sie wahrscheinlich noch heute unterwegs. Also mieteten sie sich eine große hässliche Limousine, die für einen Parkplatz drei Pferdekutschenlängen beansprucht und deren Fenster mit kugelsicherem Glas verdunkelt sind. Wie alle anderen steckten sie im Stau. Als die Limousine schließlich an der Statue von Lord Nelson vorbeikroch, sagte Lisa zu Alwin, „Cherie, ich steige kurz aus!“ Anzuhalten brauchte der Fahrer ohnehin nicht. Lisa würde das Gefährt schon bald wieder eingeholt haben. Sie ging zu einem der großen steinernen Löwen und stand länger davor.
„Victoria Street!“, rief sie dem Chauffeur zu, als sie die Limousine bei der Kurve Richtung Piccadilly Circus wieder erreicht hatte.
Alwin legte den Arm um sie. „Was willst du denn in der City, hast du etwa vor, eine Weltwirtschaftskrise heraufzubeschwören?“
Lisa schwieg. Als sie der Limousine endlich entstiegen, setzte Alwin seine Sonnenbrille auf. Zumindest das war heute an London besonders: das Wetter war wunderschön. Sie gingen durch die mit Menschen dichtbevölkerte Straße, als Lisa unvermittelt stehenblieb.
„Es wird uns wahrscheinlich niemand beobachten, aber vielleicht kannst du so tun als würdest du mit mir reden, während ich mich mit dem steinernen Löwen dort oben an der Fassade unterhalte?“
Alwin betrachtete bloß den von Taubendreck beschissenen Löwen auf der Fassade eines im vorletzten Jahrhundert erbauten Herrschaftshauses. „Natürlich, Liebling!“
Ihren Blick nach oben gerichtet begann Lisa vorsichtig: „Guten Tag, Sir Leo, der Vierte hoch 3, können Sie sich noch an mich erinnern?“
Der steinerne Löwe verzog keine Miene, denn er war ja ein steinerner Löwe. Nach dem dritten Gruß jedoch war ein nur für Lisa wahrnehmbares sattes Brummen von der Fassade her zu hören. „Wer stört mich da in meiner Ruhe?“
„Erinnern Sie sich noch an mich? Wir haben uns letzten Frühling kennen gelernt.“, fügte sie fast entschuldigend hinzu. Dann sprach sie schnell weiter. „Genaugenommen war es in einer andere Zeit, und ich hatte auch ... nun, eine etwas andere Form!“
„Pah, und von so verrücktem Gesindel lass ich mich um meinen Mittagsschlaf bringen!“, brüllte der Löwe aufgebracht.
Alwin stand da und verrenkte seine Lippen. Da Lisa den kleinen König der Londoner Steinwüste schon ein bisschen kannte, sprach sie unbeirrt weiter. „Ich bin es, nun, sagen wir mal, ich bin Bela Petty. Es war Mitte der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts und ich war eine Eule!“, versuchte sie der Steinfigur etwas auf die Sprünge zu helfen.
Sir Leo, der Vierte hoch 3, schwieg kurz; dann ließ er helles Brummen hören. „Ach ja, die kleine Eule, die keine war, und verfolgt wurde – von wem eigentlich? Ich kann mich nicht mehr genau erinnern.“
„Das tut doch heute nichts zur Sache, aber Sie haben mir durch Purtschitz, die Spitzmaus, einen sicheren Schlafplatz vermittelt, wofür ich Ihnen heute noch dankbar bin!“
„Bitte, bitte! Werden Sie schon wieder verfolgt? Der Taubenschlag westlich von St. Pauls wäre zu haben! Ein prima Versteck!“ Sir Leo war freundlicher geworden, nachdem seine steinernen Gehirnzellen in Schwung gekommen waren.
„Danke, Sir Leo, der Vierte hoch 3. Heute bin ich ausnahmsweise nicht auf der Flucht. Aber ich hatte das Gefühl, ich sollte Ihnen einen Besuch abstatten. Ihr Artgenosse am Trafalgar Square hat mir nämlich berichtet, dass Jim Hicksley seit vier Wochen plötzlich spurlos verschwunden ist!“
„Jim Hicksley… ist das vielleicht der betrunkene Amerikaner, der die Tauben gefüttert hat?“, unterbrach Alwin Lisa unvermittelt.
Erstaunt sah sie ihren Mann an. „DU kennst Jim Hicksley?“
„Ja, damals, als wir dich gesucht haben…, in deinem Buch. Ich meine…, ich hab es ja auch gelesen, und ich war doch der, der Hicksley nach dir befragt hat...!“, stotterte Alwin. Warum er jetzt so reagierte, konnte er sich selbst nicht erklären. Sicher war, dass er Lisa zu sehr liebte, um sie mit ihrer Intuition alleine zu lassen. Dann lieber mit in ihre Welt gehen! Außerdem hatte sie ihn in diesem Buch so hervorragend beschrieben, schon dafür schuldete er ihr eine Gewisse Loyalität.
Lisa schüttelte besorgt den Kopf. „Der Arme, er muß ganz durcheinander gewesen sein, als es plötzlich ‚plopp’ gemacht hat, und ihr nicht mehr da wart!“ Zu dem steinernen Löwen hochblickend meinte sie nach einem Augenblick: „Ihr Kollege hat gesagt, dass die Bank auf der Jim saß, plötzlich leer war! Haben Sie vielleicht Jim in der Victoria Street gesehen?“
„Hm, nein, hab ich nicht, er kam auch sonst nur selten in dieses Viertel.“
„Sir Leo, haben Sie vielleicht um die Zeit, als Hicksley verschwunden ist, so vor vier Wochen ungefähr, haben SIE da etwas Besonderes gespürt oder bemerkt?“
„Vier Wochen, was sind denn vier Wochen?“, fragte Sir Leo ungehalten. Der Löwe schüttelte entrüstet seine steinerne Mähne oder dachte zumindest, es zu tun.
„Oh, natürlich, entschuldigung, also ungefähr dreißigmal Tag und Nachtwechsel! Oder besser ...“ Lisa sah zum Himmel, gegen Osten, aber natürlich war es noch zu früh. „... wenn einmal der Mond zu und dann wieder abnimmt!“
„Hmmm…“ Der Löwe schwieg.
Eine Gruppe Japaner war hinter Lisa stehen geblieben. Sie begann, den steinernen Löwen zu fotografieren, obwohl er mit seiner Taubenkacke am Kopf überhaupt nicht fotogen aussah. Doch ihm tat die vermehrte Aufmerksamkeit gar nicht schlecht. In etwas besserer Stimmung erwiderte er, „Soso, der Mond… ja, das weiß ich noch! Ungefähr vor einem Monat, wie ihr meint, da habe ich so ein eigenartiges Ziehen verspürt. Ich dachte kurz an ein Erdbeben, es hatte aber nur einen Moment gedauert, dann war es vorbei. Ich weiß es noch genau, weil unter mir eine wunderschöne Siamkatze durch die Menge lief, und ich mir dachte, jetzt auf sie raufzufallen wäre ein schöner Tod für uns beide!“
„Danke, Sir Leo, der Vierte hoch 3! Danke, Sie haben mir sehr weitergeholfen.“
Lisa sah Alwin an und meinte, „Ich weiß jetzt genug!“ Als sie weitergingen, wurden sie von einer kleinen Menschenmenge verfolgt und stiegen schnell in ihre Limousine. Ein glatzköpfiger Mann äffte Lisas Worte nach: „Danke, Sir Leo der Vierte hoch 3… Ich weiß jetzt genug!“ Lisa war froh, dass das kugelsichere und verdunkelte Fensterglas einiges aushielt. Immer wieder sah sie Handflächen an den Seitenscheiben picken und neugierige Gesichter, die erfolglos ins Innere des Wagens spähten.
„Vielleicht sollten wir doch auf Sir Leos Angebot zurückkommen und uns im Taubenschlag von St. Pauls verkriechen!“
„Ach was. Stell dir vor, du bist ein berühmter Schauspieler und alle lieben dich!“, erwiderte Lisa.
Doch Alwin sah ungeduldig auf die Uhr. „Es ist schon spät. Ich kann mir wirklich Schöneres vorstellen als hier im Stau zu stehen!“
„Wir stehen nicht, wir sitzen“, erwiderte Lisa.
„Gut, aber was eigentlich weißt du jetzt?“. Alwin blickte seine Frau von der Seite her an. Doch diese starrte weiter aus dem Fenster. Offenbar hatten ein paar Jugendliche jetzt auch die Straße vor ihnen blockiert, denn das Auto hielt. Bobbys versuchten die Menschentraube aufzulösen.
„Ein bisschen unheimlich… hoffentlich wird niemand verletzt!“, meinte sie besorgt. Es dauerte nicht lange, als Reiter der königlichen Garde auftauchten und der Limousine Geleit gaben.
„Hoffentlich werden wir jetzt nicht zum Buckingham Palace chauffiert!“, stöhnte Alwin, während Lisa sich schon einen Orden für den Verdienst entgegennehmen sah, einen neuen Königinnenbruder sechsten Grades erfunden zu haben. Schließlich konnten die beiden aufatmen. Der Verkehr wurde flüssiger und die Garde verabschiedete sich salutierend. Auf dem Weg zurück zum Hotel kam Alwin auf seine Frage zurück.
Lisa schwieg und blickte wieder hinaus auf die vorübereilenden Passanten.
„He, was ist los mit dir?“
Aber was sollte sie Alwin sagen? Das hatte doch nur sie mitbekommen: Kats Übelkeit, vor ungefähr einem Monat. Er hatte am ganzen Köper ein Ziehen verspürt, ihm war schwindlig geworden, und er hatte sich nicht mehr auf den Beinen halten können. Es hatte aber nur wenige Minuten gedauert.
Schließlich wagte es Lisa, Alwin jetzt davon zu erzählen.
„Na ja, eine kurze Kreislaufgeschichte wahrscheinlich“, murmelte er und begann plötzlich zu schwitzen.
„Aber der steinerne Löwe hatte doch auch von einem Ziehen gesprochen! Und das war ebenfalls vor einem Monat, genau zu der Zeit, als Jim Hicksley von einem Moment auf den anderen verschwunden ist!“
„Gut, und was sagt dir deine Intuition damit? Und vor allem, warum tust du das? Versuchst du noch immer an deinem Roman herumzubasteln?“
„Vielleicht schreibe ich einen neuen Roman!“, antwortete Lisa prompt.
Alwin stöhnte auf.
„Hast übrigens du mir vorgeschlagen! Nein, vergiß es, war ein Scherz. Was mich viel mehr beschäftigt, ist, wie wirklich ist unsere äußere Welt überhaupt? Alwin, dieser Traum und dann der Schreibfluss… Ich hab so etwas nie zuvor erlebt, bin weder Esoterikerin, noch halte ich viel von paranormalen Phänomenen – aber ich möchte verstehen, warum so etwas passiert. Wir alle leben doch so sicher in unserer Alltagswelt, während die moderne Naturwissenschaft schon längst von Parallelwelten und multidimensionalen Persönlichkeiten spricht. Ich meine, ich bin kein Wissenschaftler und habe keine Ahnung, aber ich erlebe zur Zeit täglich, dass es eine Welt in mir gibt, die über etwas Bescheid zu wissen scheint was ich mir nicht im Geringsten, nicht einmal im Traum, vorstellen könnte!“