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„Falsch!“, konterte Alwin und fügte beschwichtigend hinzu: „Nun gut, du hast recht, es gibt wahrscheinlich unendlich viele Welten, ineinander geschachtelt oder wie auch immer, und die Wissenschaft weiß wenig darüber – aber was uns beide betrifft, sehe ich das etwas anders!“
Jetzt war es Lisa, die aufstöhnte. Sie wusste, was kommen würde und ließ Alwin daher nicht zu Wort kommen. „Okay, Herr Psychologe, ich bin elternlos aufgewachsen und aus meiner unerfüllten Sehnsucht heraus habe ich einen Mann geheiratet, der mein Vater sein könnte. Nach den erfüllenden erotischen Erlebnissen einer Dreierbeziehung habe ich eine mythische Göttin erfunden, auf die ich eine nie erlebte Mutterliebe projeziere. Das ist doch, was du sagen willst?“
Alwin schwieg.
„Nun, wie auch immer, sind wir nicht alle wie elternlose verwahrloste Kinder, die glauben, die intellegentesten Wesen auf diesem Planeten zu sein? Und sind wir nicht alle dabei, unsere Lebensquellen zu vernichten, indem wir die Natur und andere Lebewesen zerstören? Und was wissen wir wirklich?“
Wie pathetisch Lisa in solchen Momenten werden konnte!
„Nun gut, wahrscheinlich verbringen wir sowieso den Rest des Nachmittags in diesem Auto. Lass uns also ruhig ein bisschen an deinen Beobachtungen weiterrätseln, immerhin ist es unterhaltsam. Also, was hat Jim Hicksley wohl mit Kat Waterrise und dem Steinernen Löwen gemein?“
Lisa schwieg zuerst, konnte es Alwin aber nicht verübeln, dass es schwierig war für ihn, sie zu begreifen. Sie verstand sich ja nicht einmal selbst. Schließlich atmete sie tief ein und meinte leise, „Kat und der steinerne Löwe haben vielleicht zur selben Zeit ein komisches Ziehen verspürt – genau zu der Zeit, als Jim Hicksley verschwunden sein könnte!“
„Ja, und?“
„Alwin, es war eben alles zur selben Zeit!“, wiederholte Lisa.
„Mein Gott, vielleicht hat der große steinerne Löwe am Trafalgar Square Jim gerade nicht bemerkt, weil ihm eine Taube aufs Auge gekackt hat. Daraufhin kam sich Jim so unbeachtet vor, dass er in den nächsten Bus gestiegen ist, sich in Kings Cross in einen Güterwaggon gelegt hat, eingeschlafen ist und jetzt in Liverpool Tauben füttert! Wäre doch auch eine Lösung!“ Alwins Seufzen klang wie das einer kalbenden Seekuh und er fragte sich insgeheim, ob er nicht besser mit Lisa einen Arzt aufsuchen sollte.
„Die Worte auf dem Korken waren eindeutig ein Hilferuf!“, entgegnete sie jedoch vehement.
„Natürlich, auf einem verschimmelten Korken rufen dich Romanfiguren zu Hilfe! Was uns veranlasst, unseren Urlaub abzubrechen, nach London zu fliegen und im Stau zu stecken!“ Resigniert schüttelte er den Kopf.
Lisa schwieg. Erst nachdem Alwin lange genug durch die Frontscheiben gestarrt hatte, fuhr er gelassener fort: „So sehr ich deine atemberaubende Intuition schätze, aber im Moment sehe ich nur, dass die Ampel rot ist, wir bei grün zwei Meter weiter kommen, wieder anhalten, und das seit einer halben Stunde!“
„Gefangen im Nichtigen Reich. Ob das symbolisch gemeint ist oder wirklich?“, murmelte Lisa leise.
„Gefangen im Straßenverkehr, reicht doch“, gab Alwin entnervt zur Antwort. Er versuchte zu lächeln und sah wieder aus dem Fenster. Lisa hasste es, wenn er so lächelte und sich dabei von ihr abwandte. Sie fühlte sich plötzlich sehr verlassen.
„Halten Sie!“, zischte sie den Fahrer an, riss die Türe auf und sprang aus dem Auto. Alwin blickte ihr mit offenem Mund nach, er wollte noch etwas sagen, kam aber nicht mehr dazu. Im Nu war Lisas Gestalt im Großstadtgewimmel untergetaucht.
Als sie spät nachts zurück ins Hotel kam, lag Alwin angezogen auf dem Bett und starrte zur Decke. Sie setzte sich zu ihm.
„Glaubst du, dass es eine Form von zirkularer Bewegung geben könnte, die Romanfiguren aus einem Buch zieht? Ich meine, ihre geistige Essenz…, ich hab da so eine Ahnung.“
„Hmm, ist nicht ganz mein Fachbereich, aber wir können ja mal überlegen“, murmelte er, als plötzlich der Ruf der Internationalen ertönte: „Völker hört die Signale, auf zum letzten Gefecht…“ Alwin fummelte sein Mobiltelefon aus dem Jackett. Doch ehe er den Anruf entgegennehmen konnte, nahm ihm Lisa das Telefon aus der Hand.
„Ja, hallo? Lerry?! Jaa…, danke, äh, uns geht es gut…!“
Alwin erbleichte.
„Ja…, nein…, was? Ja, bei uns ist es schon finster. Nun sag, wie geht es denn euch? Alles in Ordnung? Also…, was ist los?“ Lisas Augenbrauen zuckten. „Was für eine Grenze…? Die Grenze des Nichtigen Reiches, das sich irgendwo innerhalb der Atmosphäre, aber über den Wolken Schottlands...Was? Der Sumpf der Banalen Belanglosigkeiten, die Mauer der tausend unhinterfragten Glaubenssätze... Wessen Reich? Aha, des nie gesehenen immer gegenwärtigen Monsters unendlicher Gier“ Fassungslos blickte Lisa zu Alwin.
„Des nie gesehenen immer gegenwärtigen Monsters unendlicher Gier?“, wiederholte er und fügte ausdruckslos hinzu, „Nun, vielleicht sollten wir demnächst mal bei ‚Harrods’ vorbeischauen!“ Auf seinem Gesicht schienen sich die Falten ihre Plätze streitig zu machen. Er wusste nicht, ob er lachen oder durchdrehen sollte! Schließlich riss er Lisa das Telefon aus der Hand. Auf dem Display stand „Unbekannter Teilnehmer“.
„Hallo, wer spricht? Verdammt noch mal!“ Nachdem er kurz das Telefon ans Ohr gepresst hatte, ließ er seine Hand sinken und starrte Lisa an. „Willst du mich verrückt machen? Warst du eifersüchtig wegen Leonhard, hast du einen Geliebten, den du mir verschweigst? Wenn ich durchdrehe, gibt’s nichts zum Erben, verdammt noch mal, was machst du?“ Voller Verzweifelung blickte er auf seine Frau.
„Alwin, ich… ich mache nichts. Ich weiß auch nicht, wer angerufen hat. Der Anrufer meldete sich mit Lerry und… seine Stimme, naja, die Entfernung… Ich sah ihn vor mir, als ich telefonierte… Es war… so normal für mich. Als dein Telefon klingelte, wusste ich, es hätte etwas mit meiner Geschichte zu tun. Alwin, ich liebe dich. Ich bin weder eifersüchtig auf Leonhard, noch habe ich einen geheimen Geliebten und am wenigsten will ich, dass du durchdrehst. Schon gar nicht jetzt!“ Lisa wurde immer lauter und schrie die letzten Worte fast.
Ihr Mann atmete lange aus und ließ sein Gegenüber nicht aus den Augen. „Kommt vermutlich vom vielen Skypen!“, entgegnete er dann trocken. „Wahrscheinlich hat irgendein Irrer angerufen, und als du auf ihn eingegangen bist, hat er dir irgendeine Geschichte erzäht…!“ Alwin versuchte sich zu beruhigen. Nur nicht zuviel nachdenken!
Beide schwiegen, bis Lisas Blick auf das Mobiltelefon in Alwins Hand fiel. Dann meinte sie leise, „Seit wann kleben denn Fluglinien Werbevignetten auf Handys?“ Nun blickte auch Alwin erstaunt auf den runden Aufkleber mit einer Flughafenlegende an der Rückseite des Telefons.
Sie sahen sich beide an.
„Was denkst du?“
„Hm…, weißt du noch, wie unsere Fluglinie hieß?“
„Chickenwings?... Nein, im Ernst, kann mich nicht mehr erinnern. Aber warte, hier steht in kleiner Schrift ein Name.“ Lisa hielt das Handy unter den Lampenschirm und versuchte angestrengt die Buchstaben zu entziffern. Als sie wieder ihren Mann anblickte, war auch sie bleich. „Da steht ‚Tochronoth wings’… “ Sie bestellte beim Hotelservice eine Lupe, um sich zu vergewissern, dass sie Recht hatte.
„Komischer Zufall“, meinte Alwin leise. Sein Gesicht erschien Lisa irgendwie seltsam wächsern.
„Könnte jemand durch diese Vignette deine Telefonnumer herrausfinden?“, fragte Lisa kaum hörbar.
Alwin lachte hell auf und all die Spannung wich aus seinem Gesicht. „Vielleicht solltest du doch einen Roman schreiben! Einen Thriller. Darüber, dass eine Großmacht, am besten die USA, einen amerikanischen Staatsbürger verfolgt, weil er die Überwachungs-und Spionagepraktiken britischer und amerikanischer Geheimdienste aufdeckt… Lisa…!“
Anschließend surften sie im Internet. Eine Fluglinie namens „Tochronoth wings“ schien freilich nicht zu existieren. Allerdings gab es einige Artikel zu dem Thema „Flugvinetten“. Es wurde sogar in der „Times“ erwähnt, dass das Aufkleben von Vignetten zur Zeit an den Kontrollschaltern der Flughäfen zu zahlreichen Beschwerden führte, da so der Flugverkehr erheblich verzögert würde. Angeblich wollte das Sicherheitspersonal damit nur eine automatische Zählung der technischen Geräte an Bord vornehmen, da diese durch die Vignette automatisch registriert würden. Sogar eine Bürgerinitiative hatte sich gegründet, die gegen diese Art Überwachung protestierte.
Alwin und Lisa wurden immer nachdenklicher. Bei einem Glas Whisky, das keinem der beiden schmeckte, saßen sie in ihrem Hotelzimmer und überlegten.
„Was hat Lerry…, ich meine, dieser ‚wer auch immer’ zu dir gesagt?“, brach Lisa schließlich das Schweigen, während sie mit ihren Fingernägel die Vignette von Alwins Handy kratzte.
„Er behauptete, er hieße Lerry Miller. Dann entschuldigte er sich für die offensichtliche Störung und legte auf. Was hälst du davon?“
Lisa dachte lange nach. Gefasst entgegnete sie, „Alwin, vielleicht denkst du jetzt, ich wäre total übergeschnappt… Aber tun wir mal so, als könntest du mit meinen Romanfiguren telefonieren. Tun wir so, als wären wir selbst in meinem Buch gewesen und als wären all die Figuren auf irgendeiner Ebene real…“
Alwin vergrub sein Gesicht in den Händen. „Lisa…, bitte!“
„Schau mal, bei diesem Text… habe ich uns in ein Buch geschrieben. Es gibt uns also als Romanfiguren und als Menschen. Was ist, wenn Lerry und all die anderen Figuren nicht nur Romanfiguren sind?! Vielleicht leben auch sie in anderen Realitäten, genauso wie wir Menschen auf mehreren Ebenen zu Hause sind. Manche kennen wir, manche sind uns aber gänzlich fremd! Übrigens, kannst du dich an eine Gans erinnern, der du letztes Jahr im Buch begegnet bist?“ Den letzten Satz fügte sie wie beiläufig hinzu.
Ob das beinahe tierische Aufseufzen ihres Mannes eine positive Anwort versprach?
„Nein, die muss ein Außenposten gewesen sein. Das Nichtige Reich und seine Grenze haben einen besonderen Esprit, nicht?“, meinte er todernst.
In sich gekehrt sinnierte Lisa. „Gefangen im Nichtigen Reich!“, stellte sie gewichtig fest.
Alwin nickte, seine Lippen befanden sich auf Talfahrt. Was anderes konnte er jetzt noch tun außer mitzuspielen? Irgendwie schien es hoffnungslos, Lisa von ihrer fixen Idee abzubringen. Und nach zwei weiteren Schlücken Whisky war es ihm fast egal. „Also gut, irgendwo über den Wolken Schottlands irren ein paar Romanfiguren herum. Vielleicht sollten wir am besten alle Bodenkontrollstationen in der Umgebung verständigen, damit Jim Hicksley und Co. nicht den internationalen Flugverkehr lahm legen! Aber wahrscheinlich gibt es dort oben schon Landemöglichkeiten für Flugzeuge der ‚Tochronoth wings’. Fahren wir doch morgen zum Flughafen und bestellen einen Flug ins Nichtige Reich. Ich fände es äußerst spannend zu erfahren, wo wir dann landen!“
„Danke für deine Ironie! Du tust immer so, als wäre das ganze Schlamassel hier bloß mir zuzuschreiben. Du vergisst, ich habe dieses Buch wie in Trance geschrieben! Was ist, wenn es wirklich so etwas wie eine göttliche Macht oder ein Wesen gibt, dem es nicht egal ist, was hier auf dem Planeten passiert? Was, wenn von ‚oben’ jemand eingreift, um den Menschen etwas zu vermitteln? Okay, es war nur Fantasy. Und ich behaupte ja nicht Sri Aurobindo zu sein. Aber das Symbol eines ‚Göttervogels’ gibt es schon lange in unterschiedlichen Kulturen. Vielleicht gibt es ihn wirklich…“
„Lisa, nneeein!“
„Und dieses Wesen hatte einen Träumer wie mich gebraucht, um sich zu vermitteln! Nun gut, dass es sein Ei– metaphorisch gesprochen– in einen Bestseller legte, versteh’ ich auch nicht ganz. Aber vielleicht hatte es einen für seinen göttlichen Plan günstigen Ort gesucht, an dem es in Ruhe reifen konnte!“Alwin war wieder klar und verlor seine vorübergehende Gelassenheit. Wie zugänglich war Lisa eigentlich noch für logische Erklärungsversuche? „Wem ist es denn so wichtig, die ohnehin kaum wahrgenommenen Figuren eines unveröffentlichten Buches in ein ‚Nichtiges Reich’ zu versetzen? Ergibt das irgendeinen Sinn? In deinem Buch wären sie sowieso unentdeckt geblieben!“, fauchte er.
„Das verstehe ich auch nicht ganz…“, gab Lisa versöhnlich zu. Vielleicht will sie irgendjemand vernichten, weil ihr Vorkommen selbst in einem unveröffentlichten Buch zu beunruhigend ist. Das war vielleicht nicht einmal für dieses geflügelte Wesen vorauszusehen…“
„Ich seh’ auch gleich etwas nicht mehr voraus… “, meinte er nun ebenfalls sanfter. Mit Logik kam er ohnehin nicht mehr weiter. Aber in welche Wahnidee sich seine Frau auch immer verloren zu haben schien, er wollte sie nicht alleine lassen.
Als sich die beiden küssten, knipste er die Nachttischlampe aus.
Und unbemerkt zog Geier Willi noch immer seine Kreise am dunklen Himmel über London…
Kapitel 6 Im Nichtigen Reich
Eulalia war in einem bemitleidenswerten Zustand. Sie weigerte sich einen Schritt zu tun.
„Hätten wir sie doch Bel Raven mitgegeben!“, fluchte Elester.
„Na... hicks ... das haben wirsch glisch!“ Jim fand die Situation „gaaar nischt“ so schlimm. „Eine Madame musch mannn tragen, und sie ist meine Lands… hicks …frau! Komm Brüderschen hilf merrr!“
Jim packte die willenlose Amerikanerin unter den Schultern, und Merlot nahm sie an den Beinen. Von den vielen Stürzen muss hier nicht erzählt werden, es sei nur so viel erwähnt, dass Eulalia das Ganze als Läuterung ihrer Sünden ansah. Schließlich gelangte sie immerhin unverletzt bis zum nächsten Rastplatz. Da sie auf einem nach Nadelhölzern riechenden Waldboden landete und nicht auf dem Höllenspieß eines hungrigen Feuerteufelchens lächelte sie sogar.
„So... Meladdy, brauch… hicks …nun ein gleinnnes Päuschen, Sccchhhwesterchen, ein klitzelekleines Minni-Päuschen!“ Jim sackte auf das weiche Moos und war schon im Land der Träume.
„Junger Mann, vielleicht sollten Sie sich doch überlegen, zu Eisenpräparaten zu greifen!“, meinte Eulalia liebenswürdig an Merlot gewandt. Aus Höflichkeit schlug sie ihm nicht vor, sich die Zähne abschleifen zu lassen.
„Ach, meine Liebe, ich spüre so eine sanguine Lust in mir aufsteigen...!“ Mit einem beinahe irren Blick starrte Merlot in die Dunkelheit, schnüffelte und war verschwunden. Elester hatte ihn einen Eid schwören lassen, keinen der Gruppe anzusaugen. Da dieser Eid mit Blut geschrieben war, musste er sich daran halten, obwohl er ihn natürlich sofort aufgeleckt hatte.
Eulalia lächelte Elester, der mit einer aufgespießten Wühlmaus hinter dem nächstgelegenen Felsblock hervorkam, nervös an.
„Gar nicht hungrig, Miss?“, fragte er beinahe fürsorglich. „Es sind genug Wühlmäuse da!“
„Danke, sehr liebenswürdig, Mister Claw, morgen früh gehe ich Pilze sammeln.“
Nachdem die Wühlmäuse verzehrt waren, wachten nur noch Elester, Pat und Penny Lo. Sie starrten in ein kleines Feuer, Pat schmiss dürre Äste in die Flammen. Lange schwiegen sie.
„Lord Waxmore fehlt!“, sagte Pat schließlich.
„Ich weiß, aber er wird uns schon wieder finden.“ Elester zuckte mit den Schultern.
Bald rollten sie sich in ihre Mäntel und Jacken ein, froh vor der Kälte geschützt zu sein. Ein Käuzchen schrie, kurz darauf kam auch Merlot wieder zurück, setzte seine Augenbinde auf und schlief ein.
Das Feuer war am Erlöschen, nur die Glut gab noch Wärme und spuckte vereinzelt Funken aus, während ein matter Schein im Osten durch die Bodennebel kroch. Doch noch etwas anderes kroch durch die Bodennebel. Wie gut, dass alle schon schliefen. Es war wirklich traurig anzusehen! Ein dünnes halblanges Etwas, das am vorderen Ende Verdickungen aufwies, schleppte sich ausgehungert durch das Unterholz. Sucky! Da während des Marsches kaum einer gesprochen hatte und es außer ein paar Entsetzensschreien von Eulalia nichts zu futtern gegeben hatte, war er hinter den anderen zurückgeblieben. Jetzt war Sucky so erschöpft, dass er nicht einmal mehr ans Fressen dachte. Was denn auch schon! Das Knistern der Feuerstelle gab maximal ein paar Appetitanreger ab. Suckys Vorderspitze war staubtrocken und wund. Wie mit einer Wünschelrute ortete er die Aura der Gruppenmitglieder, um sich dann mit letzter Kraft dicht zu Eulalia zu legen. Er hoffte, nach dem Aufwachen wenigstens ein gutes Frühstück vorzufinden. Für ein paar Stunden schliefen alle friedlich.
„Aaahhh!“
Suckys Hoffnung erfüllte sich, und die ganze Gruppe wach war.
„Die Nebel sind dichter geworden“, stellte Elester bei der Morgenrunde fest und sah mit ernster Miene um sich.
„Das bedeutet, dass wir von Geistern umgeben sind?“, fragte Eulalia vorsichtig nach.
„Das bedeutet…“ Elester hätte sich jetzt gerne mit einer ganz normalen Fingerkuppe gekratzt. Da das jedoch unmöglich war, führte er seine Metallspitzen zur Wange und strich sich zweimal in Zeitlupentempo über die Haut.
„Das bedeutet, dass die Grenze auf uns aufmerksam geworden ist.“
„Die Grenze… auf uns aufmerksam?“, fragten Penny Lo und Pat fast gleichzeitig.
„Ja… ihr müsst wissen, im Nichtigen Reich ist letztendlich jedes Gehen ziellos…“
„Dann hätten wir doch mit den anderen gehen können oder uns gleich nicht von der Stelle bewegt!“, erklang eine erschöpfte Stimme. Hinter dem nächstgelegenen Felsblock knackte das Unterholz und ein keuchender Lord Waxmore kam zum Vorschein.
„Oh, Mylord, ich hoffe, es geht Ihnen gut! Ich war gestern Nacht leider etwas absent, sonst wäre mir sicher aufgefallen, dass Sie fehlen!“ Eulalia sprang auf den erschöpften Lord zu und half ihm bei den letzten Metern Fußmarsch.
„Sie waren nicht gerade schnell!“, meinte Pat vorwurfsvoll.
„Er ist genauso schnell gegangen wie wir, aber – wie ich schon sagte–, jedes Gehen hier ist letztendlich ziellos. Ausschlaggebend für ein Fortkommen ist es trotzdem, ein Ziel zu haben. Aber Sie, Lord Waxmore, Sie hatten wohl nicht wenigstens das Ziel, bei der Gruppe zu bleiben?!“, fragte Elester nicht eben freundlich.
„Nun ja, zunächst einmal möchte ich den hier Anwesenden mitteilen, dass es meiner Gewohnheit entspricht, mich auf meinem Reittier fortzubewegen. Und um die Wahrheit zu sagen, habe ich mir lange den Kopf darüber zerbrochen, ob es nicht vielleicht klüger wäre, als Großgruppe zusammenzubleiben und die anderen vielleicht doch zu überreden… Aber plötzlich war überhaupt niemand mehr zu sehen. Ich irrte stundenlang herum!“ Der erschöpfte Lord setzte sich auf einen Felsblock.
„Mister Claw, wenn die Grenze auf uns zukommt weil unser Gehen null und nichtig ist, dann ist es doch wirklich besser, wir bleiben hier!“, meinte Eulalia spitz und stellte sich neben den Lord.
„Nein, das können wir nicht! Wir müssen uns bewegen, sonst bewegt sich auch die Grenze nicht auf uns zu. Und außerdem: Nach mehr als sieben Stunden an einer Stelle würden wir beginnen uns langsam aufzulösen!“
„Ach ja, wenn das so ist…!“ Eulalia, die nichts mehr fürchtete als den Tod – wie wahrscheinlich die meisten Menschen –, sah an sich herunter. Waren es die Nebel, eine beginnende Weitsichtigkeit oder ihre schwachen Nerven? Sie hätte schwören können, dass sie schon dabei war sich aufzulösen! Sie packte den Lord, riss ihn hoch und heischte die anderen an: „Na los, worauf warten wir!
Kapitel 7 Richtung Norden
Am nächsten Morgen wussten Lisa und Alwin, dass zirkuläre Bewegungen einiges auszurichten imstande sind.
Lisa hatte noch die Augen geschlossen, als sie zu sprechen begann: „… durch eine hohe Verdichtung kinetischer Energie entstandener Sog, welcher Romanfiguren in seinen Bann zieht und an einen anderen Ort versetzen kann!“
„So nett hast du mir noch nie ‚Guten Morgen’ gesagt!“ Alwin schlief vor lauter Rührung fast wieder ein. Die Stimme seines Gegenüber klang wie ein rosa hauchendes Importprodukt aus einer REM-Phase. Eng verschlungen lagen die beiden noch im Bett. Da löste sich Lisa abrupt aus der Umarmung und drehte sich auf den Rücken.
„Jemand muss meine Romanfiguren aus dem Buch gezogen haben, zumindest ihre geistige Essenz!“ Sie starrte zur Decke. Alwin war plötzlich hellwach. Er rüttelte Lisa, bis sie tief einatmete. Dann begann sie sich zu strecken, ihre Körperlänge verdoppelte sich dabei für eine Zehntelsekunde wie ein in die Länge gezogenes Schwimmkrokodil aus Gummi.
„Guten Morgen, Liebling, gut geschlafen?“, fragte sie verträumt, ohne zu wissen was sie ein paar Sekunden vorher gesagt hatte.
„Natürlich, du hoffentlich auch. Na ja, dann ist ja alles klar!“, meinte Alwin und tat so, als wüßte er wovon er sprach.
„Was ist klar?“
„Du hast mir gerade erklärt, was mit deinen Romanfiguren passiert ist!“. Ihr Mann stützte seinen Kopf auf und sah Lisa an, als käme er gerade von einer Lehrerfortbildung. Er wiederholte ihre in Trance zitierten Sätze wortgetreu. Entgegen seinen Erwartungen fragte seine Frau nicht nach, sondern hüpfte aus dem Bett, zog sich an und zwinkerte ihm zu. „Wir machen heute etwas ganz Besonderes! Wir fahren mit einem Zug – aber erst nachdem wir geflogen sind.“
„Wunderbare Idee, mal ganz etwas anderes“, dehnte Alwin die Worte begeistert, versuchte zu lächeln und rappelte sich hoch.
Zehn Stunden später saßen sie in einem exklusiven Pub in Glasgow, nahe der Einkaufsmeile. Zur Feier des Tages bestellte Lisa den teuersten Whisky. Sie sog an dem Glas als wollte sie das ganze Wasser von Loch Ness zuzüglich eines Seeungeheuers verschlucken.
„Ich bin mir sicher, wir finden dieses Nichtige Reich. Dort sind alle Randfiguren versammelt. Sie brauchen mich, ich muss ihnen helfen!“ Ihre Worte klangen bestimmt.
Ach ja, und wer könnte deiner Meinung nach irgendein Interesse daran haben, Randfiguren von einem unveröffentlichten Buch in ein Nichtiges Reich zu versetzen?“ Alwin hoffte, seine Frau würde nicht zu laut antworten. Ihr Gespräch war gut mitzuhören.
„Weiß ich doch nicht! Tasache ist, dass sich dieses Nichtige Reich aller Wahrscheinlichkeit nach irgendwo über den Wolken von Schottland befindet!“
„Na, gut, dann nehmen wir ein Kleinflugzeug und suchen dort oben…“, brummte Alwin mit gesenkter Stimme und lächelte einer elegant gekleideten Dame am Nebentisch zu. Brüskiert wandte sich diese jedoch ab.
Lisa ignorierte die Szene und meinte nur unwirsch, „Du weißt genau, wir müssen auf einen poetischen Hinweis warten, um zu wissen, wo dieses Reich ist…!“
Alwin lehte sich vor und flüsterte beinahe. „Natürlich…! Über uns hast du ja auch in deinem Buch geschrieben. Wir befinden uns aber nicht in einem Nichtigen Reich oder?“
Lisa verzog ihren Mund und antwortete todernst:„Warum wir nicht in diesem Reich sind? Nun, vielleicht waren wir einfach resistent genug, dem kinetischen Sog zu widerstehen, aber gezogen hat es in meinem Bauch auch öfters! Ich könnte allerdings nicht sagen, ob ein magischer Kreis dahinter steckt oder nicht! Aber wenn du kneifst… Wir können uns auch Sauerstofflaschen besorgen, in Unterwasserhöhlen abtauchen, bei nicht mehr als drei Meter Sichtweite nach Nessi suchen, um ihr eine Weihnachtskarte zu überreichen. Wäre das ein sinnvolleres Projekt?!“
„Nein, denn es ist Anfang August… Lisa, schrei bitte nicht so! Vielleicht solltest du den Whisky doch nicht austrinken!“ Alwin blickte nervös um sich.
„Wieso, es verstärkt mein pantheistisches Erbe. Obwohl ich zugeben muss, noch nie ein so wunderbares Wesen wie Jesus kennen gelernt zu haben…!“
Die Krokodilledertasche mit Dame am Nachbartisch stierte zu ihnen herüber.
„Ja, Sie haben richtig gehört! Ich habe noch nie ein so wunderbares Wesen wie Jesus kennen gelernt. Sie etwa?“
Das angesprochene elegante Gegenüber wandte sich voll Ennui dem herbei gewunkenen Kellner zu. Lisa hatte ihre Frage aber durchaus ernst gemeint und hätte sich über eine ehrliche Antwort gefreut. Mit eisiger Miene richtete die Dame ein paar Worte an den Kellner.
Als dieser vor Alwin und Lisa erschien, schenkte er ihnen einen übertrieben freundlichen Blick. „Sie haben nach der Rechnung verlangt?“
„Also, das ist ein Service! Ich wusste gar nicht, dass hier die Wünsche der Gäste bereits fünf Minuten im Voraus erahnt werden!“ Lisa schenkte dem Pinguin in seinem Frack ebenfalls einen überaus freundlichen Blick und dessen Lächeln gefror zu Polareis. Alwin bezahlte rasch. In solchen Situationen konnte es leicht vorkommen, dass Lisa, überfallen von jäher Verzweiflung über die menschliche Spezies, in wochenlang anhaltende Schwermut versinken konnte. Nachdem sie das Pub verlassen hatten, hängte sie sich bei ihrem Mann ein. Schweigend bummelten sie durch die Straßen, da noch etwas Zeit war, bevor der Zug abfuhr. Aus den Auslagen der Geschäfte drängte sich ihnen alles Glück der Welt in schrillen Farben auf. Lisa war froh, als sie in etwas abgelegenere Straßen kamen.