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„Lass uns doch diese Treppe hier hoch gehen!“
Die Köpfe zweier langohriger Katzen waren auf den Steinboden vor der ersten Treppe gemalt. Lisa schüttlelte energisch den Kopf. „Nein, das ist kein poetischer Hinweis!“
Trotzdem stiegen die beiden den schmalen Aufgang hoch. Oben angekommen, empfing sie ein wunderbarer Blick über Glasgow. Ziegeldächer und Hausfassaden glänzten trotz des bewölkten Himmels in protzigem Rot, höhere Häuser, Türme und Kirchturmspitzen streckten sich vereinzelt aus dem Dächermeer.
„Alwin, wir Menschen wissen so wenig…“, sagte Lisa unvermittelt und sah ihrem Mann in die Augen.
„Das ist mir klar seit ich dich kenne…“
Kapitel 8 Zu heiß für viel PS
Wie immer herrschte rege Betriebsamkeit. Jeder der Angestellten wusste, was er zu tun hatte. So auch Walter. Am liebsten drückte er in seiner Vorstellung die rechte Schulter Roys zu Boden – nein, nicht nur zu Boden, sondern noch tiefer: hinunter zu den Zawosars. Doch Roy, der schräg vor ihm am Computer arbeitete, schien nichts davon zu bemerken.
„Hast du die Position der SEPEs, die über die Grenze geflogen ist, schon registriert?“, hörte Walter die Stimme seines Kollegen.
„Natürlich!“, antwortete er, ohne sich umzublicken, denn er hatte nur einen Blick für Roys Schulter.
„Okay, dann setzen wir die PS auf die noch ausständigen SEPE an!“
„Natürlich!“
Eine Stunde später hörte Walter den Kollegen hinter sich fluchen.
„Verdammt, die PS sind nicht südseetauglich!“
Lerry, Kat und Maracella wanderten nachdenklich am Strand entlang. Wenn sie nur wenigstens, wie ganz normale Menschen, Alwin und Lisa anrufen hätten können!
„Was ist denn das?“, rief Kat plötzlich. Nach einer Sekunde allgemeinen Unbehagens gingen die drei vorsichtig weiter.
„Vielleicht ein toter Hai?“, meinte Lerry unsicher.
„Ist der Hai überhaupt tot?“, fragte Maracella ängstlich.
„Das Ding ist weder tot noch ein Hai!“, resümierte Kat als sie näherkamen. „Es wird von der Brandung bewegt – schaut eher aus wie ein Teil von einem Schiffswrack, vielleicht eine eiserne Tür!“
„Oder wie ein ausrangierter Roboter!“. Lerrys Stimme klang aufgeregt, als er mit Kat das schwarze Metallstück aus den Wellen zog.
„Schon wieder etwas Geheimnisvolles!“, rief Maracella voller Erwartung. „Ob das auch etwas mit der Botschaft auf dem Korken zu tun hat?“
Kat und Lerry bezweifelten es. Am nächsten Tag fanden sie noch mehr Metallstücke.
Kapitel 9 Ein netter Reisegefährte
Alwin blickte über die große Stadt. Eine Haarsträhne wehte ihm fast in die Augen. Aus der Ferne klang der Ruf einer Möwe, weiter unten auf einer Bank begann jemand Gitarre zu spielen. Ein Fünfjähriger heulte, während ein Geier etwas außerhalb der Stadt nicht mehr daran glaubte, einen Auftrag zu haben und sich ausgehungert auf einen toten Maulwurf stürzte. Ein Südseemädchen wurde von einer Robbe gerettet, als sie von Haien umgeben alleine in einem Boot saß. Dies ist aber nun wirklich eine andere Erzählung. Dass ein wirklicher Schotte jedoch einer österreichischen, anglophilen Touristin freundlicherweise den Weg zur Saussagehallstreet erklärte, in welcher über einer schwarzgelben Tür die Vorderfront eines kleinen Vehikels montiert ist, ist aber Wahrheit und nichts als Wahrheit, über die der Wind seine tausend Geschichten bläst und sich in einem Kuss verliert.
„Komm, es ist Zeit, wir müssen zum Bahnhof!“
Alwin und Lisa gingen die Treppe hinab, durchquerten die Straßen Glasgows und erreichten zu Fuß den zentrumsnahe gelegenen Bahnhof, von dem aus die Züge Richtung Norden abfuhren.
Lisa wäre gerne länger in Glasgow geblieben, da zwischen den Pflastersteinen und jenseits der Sprache merkantiler Geschäftigkeit auch noch die Sprache der Tiere, der Fabelwesen, der Pflanzen und der Hausgeister aus dem Boden wuchs, wenn man genau hinhörte – zumindest für ihre Ohren. Sie meinte, auch die Figur eines steinernen Gelehrten aus dem fünfzehnten Jahrhundert hätte ihr etwas zugeflüstert, aber für einen poetischen Hinweis, das Nichtige Reich betreffend, reichte diese Ahnung nicht aus. Sie verabschiedete sich leise von der Stadt, vor allem von all jenen ihrer Bewohner, die nicht zur Gattung der Menschen gehörten. Dann betrat sie mit Alwin die Bahnhofshalle.
Bald darauf hatten sie den richtigen Zug gefunden und setzten sich in ein leeres Abteil. Lisa beobachtete die vielen Menschen am Bahnsteig und sah dem geschäftigen Treiben nachdenklich zu. Als der Zug langsam aus der überdachten Vorhalle ratterte, waren sie noch immer alleine im Abteil. Vorstadtsiedlungen zogen an ihnen vorbei, bald schon sahen sie das Meer. Die Stadt wurde kleiner, je weiter sie nach Norden fuhren, die Besiedelung spärlicher. Zwischen ungezähmten Heidelandschaften tauchten vereinzelt Tümpel auf sowie kleine Hügel, während sich auf der anderen Seite das Meer mit seinen Armen in die Landschaft streckte. Lisa lehnte sich zurück und begann mit offenen Augen zu träumen. Auch Alwin sah schweigend aus dem Fenster. Wolken rissen auf, Sonnenstrahlen erhellten die Wiesen, und das Spiel von Licht und Schatten zeichnete große Flecken in sich verändernden Mustern auf die Graslandschaft. Der starke Küstenwind schuf immer wieder neue Farbformationen, während die Umrisse im Zugabteil länger wurden. Wenn die Hügelketten den Blick zum Meer abschnitten, verschwand der Horizont öfters aus ihrer Sicht.
Alwin knipste schließlich das Licht an und zog eine Zeitung aus seiner Gepäckstasche. Der Zug wurde plötzlich langsamer und hielt. „Fort William“ stand mit großen Buchstaben auf der Tafel neben den Gleisen.
„Das ist übrigens der nächste Halt für den Aufstieg auf den Ben Nevis, hast du Lust?“ Da Lisa wusste, dass Alwin nur äußerst widerwärtig etwas erklomm, das höher war als er selbst, egal ob es sich dabei um einen Fenstersims oder einen Berg handelte, grinste sie ihren Mann an. Alwin hatte nämlich schreckliche Höhenangst.
„Ich sagte, ich geh mit dir wandern, wenn die Steigung nicht mehr als drei Prozent beträgt.“ Er hob den Blick nicht von der Zeitung.
Der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Lisa griff in ihre Handtasche und holte ein Buch hervor. Dabei fiel ihr Blick auf den Mann, der an ihrer Abteiltür stand. Er starrte sie einen Moment lang durch das Fensterglas an, lächelte jedoch sofort und zog die Tür auf.
„Einen schönen Abend, ist hier vielleicht noch ein Platz frei?“ Der Mitreisende war vornehmen gekleidet, herbes Parfüm begann das Abteil zu durchströmen. Er setzte sich Alwin gegenüber und stellte seine Aktentasche auf den leeren Platz am Fenster. „Entschudigen Sie, Sir.“ Alwin stieß unbeabsichtigter Weise an den Schuh des jüngeren Mannes und ärgerte sich darüber, dass er kaum eine Möglichkeit hatte, nicht daran zu stoßen. Lisa und die Aktentasche hingegen hatten kein Platzproblem.
„Kein Problem, Sir!“, meinte der Fremde und lächelte. Er packte keinen Laptop aus und schlug auch nicht die „Financial Times“ auf, sondern blickte seine Mitreisenden ostentativ neugierig an. Lisa begann in ihrem Buch zu blättern, als suchte sie eine bestimmte Seite.
„Dorin Gray sieht in sein Spiegelbild“, schoss es Lisa durch den Kopf.
Doch bevor sie über diesen Satz nachdenken konnte, meinte der Fremde: „Sie machen eine kleine Urlaubsreise? Eine wunderbare Landschaft hier. Sehr erfreut, Sie kennen zulernen!“
„Ja, wir machen eine Reise“, antwortete Alwin ohne von der Zeitung aufzusehen. Um nicht zu unhöflich zu wirken, ließ er kurz darauf den „Guardian“ sinken und fügte eine kleine Spur freundlicher hinzu: „Und Sie sind vermutlich… geschäftlich unterwegs?“
„Geschäftlich? Ach, nein, da bin ich Zeit derzeit meist in Übersee. Ich bin hier geboren und habe ein Anwesen geerbt. Es war natürlich schwierig, meine Firma in den USA gerade in dieser Phase alleine zulassen. Wir sind nämlich gerade dabei, unsere Angebote enorm zu erweitern. Aber da wir ja in einem Zeitalter universaler Vernetzung leben, ist die Welt ein… enger Ort geworden. Finden Sie nicht, Sir?“
Alwins Mund zuckte, dann lächelte er ebenfalls und sah zum Fenster hinaus.
Plötzlich stoppte der Zug.
„Was ist los? Hier ist doch gar keine Haltestelle!“ Im Dämmerlicht versuchte Lisa draußen etwas zu erkennen.
„Nein, Miss, das ist eine Brücke. Und da unten ist das Glenfinnan Monument mit der Statue von Bonnie Prince Charlie. Er hisste im Jahr 1745 an dieser Stelle das Banner der Stuarts und damit begann das Sterben von vielen Männern, eine unglückselige Geschichte…“
„Das ist aber wohl nicht der Grund, warum der Zug stehenbleibt!“ Lisas Stimme klang seltsam gereizt. Sie konnte es einen Moment nicht verhindern, länger in die tiefblauen Augen des Fremden zu schauen. Inzwischen verkündete ein Lautsprecher, dass an dieser Stelle der Zugstrecke Außenaufnahmen für eine Hollywoodverfimung gedreht worden waren.
Lisa sah in ihr Buch und Alwin in die Zeitung.
„Haben Sie nichts davon gehört?!“
“Nein“, erwiderte Alwin, nahm umständlich seine Zeitung auseinander und legte sie genauso umständlich wieder zusammen.
„Eine wunderbare Geschäftsidee, diese Serie soll mittlerweile auch in der britischen Außenhandelsbilanz aufscheinen!“, fuhr ihr Gegenüber fort.
„Was bei der britischen Außenhandelsbilanz nicht allzu schwierig ist“, brummte Alwin genervt und versuchte sich wieder in den „Guardian“ zu vertiefen.
Lisa hingegen war zu angepannt, um den Wortwechsel witzig zu finden. Unwirsch meinte sie: „Natürlich! Es gibt für Schriftsteller nichts Wichtigeres als die nationale Wettbewerbsfähigkeit ihres Landes zu steigern…“
„Aber…, nein, so habe ich das gar nicht gemeint, Miss… Sehen Sie, ich habe Wirtschaft studiert und leite jetzt eines der erfolgreichsten Mobilfunkunternehmen in Massachusetts und betrachte die Welt somit… aus etwas anderen Augen… Mac Futuroy, wenn ich mich übrigens vorstellen darf.“
Lisa sah abrupt aus dem Fenster.
Während sich der Zug wieder in Bewegung setzte, hörte sie ihren Mann langsam sagen, „Ihr Name klingt asiatisch, Sie sehen aber nicht danach aus!“
Lisa biss sich auf die Lippen, doch das bemerkte niemand.
„Ja, ich…“ Abrupt brach der jüngere Mann seinen Satz ab, um nach einer kurzen Pause leise hinzuzufügen, „das ist reiner Zufall… Ich hoffe, Sie werden eine angenehme Zeit in Schottland verbringen!“
Lisa sah von Alwin auf den Fremden, dann meinte sie äußerst liebenswürdig: „Dasselbe wünschen wir Ihnen auch!“ Eine Zeit lang blieb es im Abteil still. Lisa konzentrierte sich auf den Text ihres Buches, während Alwin immer wieder aus dem Fenster zu sehen versuchte und nichts anderes sah als den Fremden, der sich im Fensterglas spiegelte.
„Sie lesen gerne, Miss?“
„Genau, und das würde ich jetzt auch verdammt gerne tun!“, dachte Lisa. Sie wünschte sich, der Zug würde bald wieder halten und der Mitreisende aussteigen. Irritiert sah sie von ihrem Buch auf. Ihr Lächeln glich einem Hochseilkünstler, der registrierte, dass das Seil immer länger und dünner wurde, auf dem er tanzte. Der Fremde blickte zum Fenster, wo ihn Alwins Blick traf. Ein paar Minuten schwiegen alle, die Stimmung war angesapnnt, Lisa hätte am liebsten in ihr Buch gebissen.
„Wir kommen bald in Mallaig an“, sagte Alwin schließlich, bloß um irgendetwas zu sagen.
„Ja, und ich steige eine Station früher aus. Aber wenn es ihr Zeitplan zulässt, besuchen Sie mich doch einmal auf meinem Anwesen!“ Alwin hob die Augenbrauen und Lisa sah eine Spur zu schnell auf. Der Fremde genoss es sichtlich, seine Mitreisenden in Erstaunen zu versetzen und legte lächelnd seine Visitenkarte auf das Amaturenbrett des Wagonfensters.
„Ich hoffe, Sie haben sich durch meine Anwesenheit in keiner Weise belästigt gefühlt. Ich weiß, ich habe nichts mehr von der britischen Reserviertheit an mir, die man uns gemeinhin zuschreibt, dafür habe ich schon zulange in Amerika gelebt. Ich bitte Sie, meine Geste nicht als Höflichkeitsfloskel abzutun. Es würde mich wirklich freuen, Sie in meinem Haus als Gäste begrüßen zu dürfen! Wie ich heraushören konnte, darf ich Sie ja in gewissem Sinn als Landsleute betrachten. Danke für Ihre kurzweilige Präsenz, ich wünsche Ihnen noch eine angenehme Reise.“ Mit diesen Worten erhib sich der Fremde. „Ach, und, ich hätte es beinahe vergessen…“ Er öffnete seine Aktentasche und nahm ein Mobiltelefon heraus. „Zur Zeit entwickeln wir ein Gerät, das bereits 46 verschiedene audiovisionelle Zusatzfunktionen beinhaltet…! Tja, unser Mobiltelefon kann schon einiges… und noch viel mehr...!“ Beflissen legte er das Telefon neben seine Karte. „Ein kleines Werbegeschenk, sozusagen. Ich wünsche Ihnen noch alles Gute!“
Lisa versuchte abermals zu lächeln und es gelang ihr sogar etwas. Ein Hochseilkünstler erblickte das Ende der Seilstrecke. Als der Fremde die Abteiltür hinter sich geschlossen hatte, schüttelte sie den Kopf.
Alwin lachte laut auf und nahm die Karte in die Hand. „Mister Mac Futuroy, Director of ‚Mobiles Word Wide’, Frebur Elm, Massachusets, USA.“ Darunter stand eine Telefonnummer. Lächelnd steckte er die Karte ein, griff nach dem Telefon und schaltete es ein. „Na, wunderbar!“
„Alwin, bitte lass es da!“
„Wieso? So ein Handy kann man immer brauchen, sogar mit Internetzugang, nicht schlecht.“
„Du weißt doch, mir gehen diese Dinger schrecklich auf die Nerven und ich lege keinen Wert darauf, ein Andenken an diesen netten Zeitgenossen mit uns herumzutragen! Bitte!“
„Lisa, ich weiß, du bist…“
„Alwin, lass es liegen!“
„Und wenn Bruce Springsteen mit uns gefahren wäre? Hättest du es von ihm angenommen?“ Grinsend warf er das Telefon auf den Sitz gegenüber.
„Bruce Springsteen hat es nicht nötig, Mobiltelefone zu verschenken!“
Alwin lachte noch ziemlich oft an diesem Abend. Es dauerte nicht mehr lange, bis sie Mallaig erreichten, wo sie sich in einem Hotel ein Zimmer nahmen.
Noch am selben Abend fuhr der Zug nach Glasgow zurück, um am nächsten Tag pünktlich zur Generalüberholung bei Whisley und Co, zwischen Containerhallen, etwas außerhalb Glasgows, bereit zu sein. Doch es war seine letzte Fahrt. Er stand auf dem Abstellgleis, als ein Mobiltelefon klingelte. Es klingelte einmal. Es klingelte zweimal. Es klingelte dreimal…
Die Anrainer rundherum weckte eine ohrenbetäubende Detonation, dichte Rauchwolken erhoben sich über die Containerhallen.
10 Kapitel Die Grenze schreitet voran
Eulalia und Lord Waxmore bildeten die Vorhut. Die Amerikanerin war wieder zu Kräften gekommen, überzeugt davon, doch noch nicht im Jenseits gelandet zu sein. Obwohl die Nebel an Dichte nichts zu wünschen übrig ließen, kam die Gruppe gut vorwärts. Hinter dem Kapuzenmann und den beiden Jugendlichen bildete Jim, der die amerikanische Nationalhymne in allen Vierteltonlagen sang, zusammen mit dem blinden Vampir die Nachhut. „Wann gehen denn endlich seine Alkoholreserven zu Ende?“, jammerte Pat.
„Leider nie, solange wir im Nichtigen Reich sind!“, antwortete Elester, während er mit den Metallspitzen gegen einen herabhängenden Ast schlug.
„Hier bleibt alles so, wie es war, als wir am ersten Tag in diese Welt geschleudert wurden: es gibt keine wesentliche Veränderung. Habt ihr euch nicht gefragt, warum eure Kleider nicht schmutzig und zerfetzt werden?“
„Aber essen und trinken müssen wir!“, stellte Penny Lo fest.
„Ja, das schon, aber sonst bleibt immer alles gleich!“
Irgendwann würde man hier wahrscheinlich vor Langeweile sterben!“, sinnierte das Mädchen weiter, während Draculetta tief schlafend über ihrem Schulterblatt baumelte, die Krallen im Mantel festgehakt.
„Was passiert mit den Tieren, die wir essen, und dem Wasser, das wir trinken, wenn hier alles gleich bleibt?“, wollte Pat wissen, der gerne länger über ein Problem nachdachte.
„Sie reproduzieren sich, als wäre nichts gewesen“, gab Elester zur Antwort.
„Das heißt, es gibt hier auch keinen Tod?“, wandte Penny Lo ein. Eulalia hielt mitten in ihren Ausführungen inne. Lord Waxmore musste leider darauf verzichten, schnell etwas über den Vorteil von Flachbildschirmen gegenüber herkömmlichen Fernsehgeräten zu erfahren.
„Wir können hier also nicht sterben…?“, fragte die einzig normale Erwachsene nach und fügte schnell hinzu, „aber wir lösen uns doch auf, wenn wir mehr als sieben Stunden an einem Ort verweilen. Das ist doch unlogisch!“
„Nun, auflösen schon, aber dann würden wir als Partikel herumschwirren. Stelle ich mir nicht gerade lustig vor! Tatsache ist, dass wir in dieser Welt keine Verbindung zu den Menschen und zu anderen Wesen haben. Niemand weiß etwas von uns, wir haben keinen Kontakt zur Erde, auf der Pflanzen wachsen und verblühen, hier ist alles so unveränderlich wie in einer Konservendose! In gewisser Hinsicht können wir also nicht sterben. Aber, wie gesagt, leben können wir hier auch nicht! Und irgendwann würden wir in Nichtigkeit vergehen.“
„Aber, Mister Claw...!“, nuschelte Merlot, „dann könnte ich ja alle aussaugen, und sie würden sich wieder regenerieren. Das würde mir die ewige Jagd in der Nacht ersparen!“
„Sie vergessen, lieber Vampir, es würde uns Schmerz bereiten, und Schmerz ist hier nur zu gut zu spüren, da diese Welt in ihrer Eintönigkeit selbst schon fast als schmerzlich bezeichnet werden kann!“, entgegnete Lord Waxmore und war froh, einen Moment lang eine andere Stimme als die von Eulalia zu hören. Die Sicht betrug nur noch ein paar Meter, die Nebel schienen sie einzukreisen.
„Ach, ich finde es hier gar nicht so unbequem, außer dass wir keine Unterkunft haben. Ich meine, so ein kleines grünes Waldhäuschen vielleicht, das sich nicht sofort auflöst, mit einem netten Garten und einem sehr süßen Gartenzwerg, ich liebe Gartenzwerge. Gut, das Klima ist nicht so besonders und ich vermisse ‚Das Liebesnest von Charlie und Ann’ am Dienstag Nachmittag um halb drei, aber man könnte doch… Aua!!“ Eulalia hatte sich während ihren Mitteilungen zu Elester und den Jugendlichen umgedreht. Da auch Lord Waxmore nicht geradeaus, sondern auf den Moosboden geschaut hatte, hatte die Vorhut den Metallmasten nicht gesehen, gegen den Eulalia soeben gerannt war.
„Die Grenze…, sie kommt näher!“, flüsterte Elester beinahe andächtig. Alle starrten den Pfosten hoch, der vom Waldboden aufragte.
„Ahhhh! Wie nah ist denn diese Grenze?“, fragte Eulalia entsetzt. Grenzen waren für sie seit jeher etwas Unbequemes mit all dem Fremden, das dahinter lauern mochte.
„Das weiß nur die Grenze selbst. Sie entscheidet, wann sie sich ganz offenbart. Aber eines ist gewiss: wir müssen achtsam sein!“
„Achtsam, wieso?“, fragte Pat unruhig.
„Je näher die Grenze kommt, desto näher rückt der Sumpf der Banalen Belanglosigkeiten. Das ist die Grenze des Nichtigen Reiches auf unserer Seite. Wenn wir nicht genau überlegen, was wir sagen, dann reden wir, je näher wir dem Sumpf kommen, nur noch Stumpfsinn!“ Der Kapuzenmann fixierte Eulalia, als wollte er sie aufspießen. Einen Moment lang schwiegen alle.
„Und was ist das hier? Ein Grenzpfosten?“ Penny Lo deutete auf den Masten.
Elester zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht…“
Hinter den Sprechenden schnüffelte jemand. Die einzig normale Erwachsene, Lord Waxmore, Elester, die Jugendlichen sowie Sucky drehten sich jäh um.
Der Vampir hatte seine Nase in die Luft gestreckt, saugte die Waldluft ein und witterte. „Irgendetwas bewegt sich auf uns zu, ich rieche es! Etwas Lebendiges…, etwas, das Blut in seinem Köper hat!“, flüsterte Merlot, während Fischa mit großen Augen in den Dunsthimmel über ihnen starrte.
Plötzlich stach ein kleiner Vogel aus der Nebeldecke und landete. Merlot wollte sich schon auf ihn stürzen, doch plötzlich stockte er.
„Posi!“, rief Penny Lo.
„Mist!”, fluchte der Vampir.
Ein völlig atemloser Spatz saß mit hängenden Flügeln im weichen Moos. „Hab’ ich euch endlich erreicht!“, keuchte er.
Penny Lo kniete sich zu Posi und hob ihn behutsam auf. Die Brust des kleinen Vogels hob und senkte sich hastig. Es dauerte eine Weile, bis er sich in der Wärme von Penny Los Händen etwas erholte. Jeder bombardierte ihn natürlich sofort mit Fragen: wie es der restlichen Gruppe gehe und so fort.
„Chaos... komplettes Chaos!“, piepste Posi, nach Atem ringend. „Die Gruppe gibt es nicht mehr, sie hat sich aufgelöst…“
„Was? Heißt das, es sind alle verschwunden?“, fragte Pat erschrocken.
„Nein, nein, die einzelnen gibt es schon noch, aber sie gehen nicht mehr gemeinsam. Professor Draciterius und Dr. Sanguinis Anatomis haben sich nur noch gezankt! Wir haben den Ort nicht mehr gefunden an dem wir hier im Nichtigen Reich gelandet sind, und bald hat sich jeder mit jedem gestritten. Jetzt irren die meisten alleine durch die Wälder!“
„Oh Gott, das heißt, sie sind verloren! Da sie wohl kaum die Grenze erreichen wollen, werden sie ewig so wandern. Wie entsetzlich!“
Elester blickte auf. Diese Kombinationsgabe in der Nähe des Sumpfes der Banalen Belanglosigkeiten hatte er von Eulalia nicht erwartet. Aber offensichtlich handelte es sich hierbei um eine paradoxe Reaktion.
„Und Bel Raven?“, fragte Penny Lo den kleinen Spatz.
„Ach, Bel, die kennt ja die Geschichte. Sie hat einfach ein Lied gesungen, gelächelt und ist ihres Wegs gegangen, nachdem sie mir den Tipp gegeben hat, euch zu suchen!“ Der Spatz lugte nun keck unter Penny Los Handflächen hervor.
„Und jetzt willst du mit uns zur Grenze?“, fragte Elester ernst.
„Nun ja, ich könnte die Grenze überfliegen und jemandem eine Botschaft überbringen! Ich bin ja ein BMS-Spatz, ein: Bird-Message-Service-Spatz!“
„ Hmm… das wusste ich allerdings nicht. Wo ist denn Geier Willy?“, fragte Elester dann unvermittelt.
„Ach, der ist sicher schon drüben. Wir Vögel können ja die Grenze überfliegen. Er meinte, er hätte einen Auftrag, wusste aber nicht welchen. Flog einfach so los!“
„Das heißt, der Geier hat vielleicht schon den Sumpf, die Mauer… Aber vielleicht hat ihn ja auch das Monster verschluckt!“, rief Pat.
„Aber woher! Wir Tiere sind unempfindlich gegenüber der unendlichen Gier. So etwas kennen nur die Menschen!“ Posi zuckte entschuldigend mit den Flügeln.
„Lasst uns doch erst einmal rasten!“, schlug Penny Lo vor, und alle setzten sich auf den weichen Boden. Doch schon bald überkam sie eine seltsame Unruhe.
„Ich weiß nicht warum, aber ich fühle mich hier nicht wohl!“ Pat starrte den Masten empor.
„Vielleicht sollten wir lieber doch wieder unserer Füße in die Hände nehmen und unseren Schritten Folge leisten!“ Lord Waxmore strich seine glatten Haare im Mittelscheitel zurecht, während er sich erhob. Auch die anderen waren bereit weiterzugehen, da alle ein seltsames Gefühl beschlich. Keiner konnte genau sagen wieso, doch es war ihnen unwohl an diesem Ort. Also brachen sie auf.
Nach längerem Schweigen riss Elester die anderen aus ihren Gedanken: „Eines ist klar: Ohne Hilfe von außen können wir nicht über die Grenze!“Niemand widersprach, Penny Lo und Pat Swift wirkten konfus.
„Sag, warum weißt du immer alles so genau? Wir hingegen haben nie einen blassen Schimmer!“
„Ich habe mich mit Bel Raven unterhalten, bevor sich die Gruppe getrennt hat“, gab Elester zu.
„Und dann hat sie dir alles schon im vorhinein erzählt?“
„Nein, sie hat gesagt, dass ich alles, was nötig sei, im gegebenen Moment erfahren würde! Und so ist es auch. Ich meine, ich hoffe, sie hat die Wahrheit gesagt…“, fügte der Kapuzenmann hinzu und machte kurz einen etwas erschrockenen Eindruck.
„Tja, das hoffen wir alle...!“, meinte Penny Lo und blickte verzweifelt auf Pat.
So wanderten sie und wanderten und wanderten…
„Lord Waxmore, es ist wirklich eine originelle Idee, Radieschenpüree mit Ananastortenecken zu spicken, diese dann mit einer durchsichtigen Hochglanzfolie leicht zu umwickeln, sodass sich daraus, mit dem richtigen Farbstoff blanchiert und mit Vitaminen angereichert, eine Masse Nahrungsmittelergänzungssubstanz ergibt, um diese danach zu kleinen Pastillen zu formen und sich so das aufwändige Kochen zu ersparen, schließlich zu tranchieren und Jamie Oliver als Hengsthuffrikadee in Radieschenpüree mit Ananaseckentorten zu servieren!“