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Die nordaustralischen Aborigines wiederum benutzen als reines Rhythmusinstrument meist Klanghölzer und ersetzen die dabei weitgehend fehlenden Oberschwingungen durch die variationsreichen Brummtöne eines begleitenden Didgeridoos.
Der Herzschlag der Erde
Viele Stammesschamanen bezeichnen den 3- bis 7-Hertz-Rhythmus der Trommel als Pulsschlag von Mutter Erde. Mit dieser Benennung scheinen sie tatsächlich seinen wahren Charakter getroffen zu haben. Vor rund einem Jahrzehnt haben Geophysiker mit ihren höchst sensiblen Messinstrumenten und -methoden herausgefunden, dass die Erde als Ganzes »atmet«. Sie dehnt sich dabei rhythmisch um einige Zentimeter aus und zieht sich wieder zusammen, wie ein aufgeblasener Luftballon, in den man stoßweise zusätzliche Luft hineinbläst, um sie gleich danach wieder entweichen zu lassen. Dieser »Atemrhythmus« der Erde liegt, so die wissenschaftlichen Ergebnisse, genau im Frequenzbereich der geschlagenen Schamanentrommel und auch der rhythmischen optischen Reize bei der Autobahnhypnose. Hier drängt sich nun eine Frage auf: Sind wir alle unbewusst von diesem Erdrhythmus beeinflusst und deshalb gerade für den schamanischen Trommelrhythmus so empfänglich? Als Antwort lässt sich das folgende Beispiel anführen. Haben Sie einmal eine junge Mutter beobachtet, die ihr Neugeborenes in den Armen wiegt? Ganz instinktiv und ohne es jemals zuvor gelernt zu haben, schaukelt sie das kleine Wesen, und das nicht etwa in langsamen und schwingenden Bewegungen, sondern im rascheren Takt der schamanischen Frequenz.
Im schamanischen Bewusstseinszustand bleibt ein Teil des Bewusstseins an die Realitätsebene des Alltags gebunden.
Trance - ein vieldeutiger Begriff
Bisher habe ich in diesem Buch stets von schamanischer Trance gesprochen, und ich werde das auch weiterhin tun. Denn das Wort ist kurz und gebräuchlich, auch wenn es keineswegs im eigentlichen Sinn uneingeschränkt zutreffend ist.
Unter Trance kann man vielerlei verstehen. Ihr Spektrum reicht beispielsweise von tiefer hypnotischer Trance, über die Trance des Schlafwandlers, bis hin zu narkotischen Zuständen. Von Trance spricht man auch bei einer bewusst durchgeführten Meditation. Und selbst hier ist zu unterscheiden, um was für eine Art von Versenkung es sich handelt.
Auch Medien nehmen bei spiritistischen Sitzungen für sich in Anspruch, in Trance zu fallen, um mit Geistern oder Verstorbenen in Kontakt zu treten. Von der Seherin Pythia, die in der griechischen Antike über das Delphische Orakel waltete, ist überliefert, dass sie sich durch postvulkanische Schwefeldämpfe in Trance versetzen ließ.
Der schamanische Bewusstseinszustand
Die schamanische Trance hat mit alldem nichts zu tun. Am ehesten ist sie noch mit der Trance bei einer Mantrameditation verwandt. Um Verwechslungen zu vermeiden, sollte man daher korrekterweise nicht von schamanischer Trance sondern besser vom schamanischen Bewusstseinszustand sprechen. Der Kürze und Gängigkeit wegen werde ich jedoch den Begriff »Trance« verwenden.
Bei diesem Zustand handelt es sich um nichts Außergewöhnliches oder gar Exotisches. Wir alle haben ihn schon oft — allerdings meist unbewusst - erlebt. Schließlich ist es ein wesentliches Kennzeichen des schamanischen Bewusstseinszustands, dass man hierbei bei vollkommen klarem Verstand ist und zu jeder Zeit selbstbestimmt und gezielt handeln kann. Auch lässt sich diese Art Trance jederzeit willentlich beenden.
Damit rückt die schamanische Trance ihrem Wesen nach sehr nahe an das Alltagsbewusstsein, nur sind die Erlebnisinhalte deutlich andere.
Man kann versuchen, sein Gehirn völlig von allen Gedanken zu entleeren, etwa um Nirwana-Erfahrungen zu machen, oder ganz bewusst über etwas meditieren, beispielsweise über ein Mantra oder einen bestimmten Gegenstand.
Ein alltägliches Beispiel für schamanische Trance
Wohl jeder routinierte Autofahrer, der Tag für Tag dieselben Strecken abfährt, könnte das Folgende erzählen: »Ich bin soeben eine mir sehr gut bekannte Strecke von meinem Arbeitsplatz bis nach Hause gefahren. Die Fahrt muss wie gewöhnlich etwa eine Stunde lang gedauert haben. Währenddessen war ich allerdings die ganze Zeit mit meinen Gedanken woanders. Dabei habe ich die Strecke und auch die Fahrt gar nicht mehr richtig wahrgenommen, obwohl ich an sich aufmerksam für den Verkehr war. Ich weiß, dass ich an der großen Ampelkreuzung vorbeigefahren sein muss, dann das kurze Waldstück passiert haben muss und danach am Supermarkt vorbeigefahren bin. Aber ich kann mich an diese einzelnen Etappen überhaupt nicht mehr erinnern. Ich habe nicht einmal die Dauer der Fahrt realisiert; mir kam es eher so vor, als seien es nur fünf oder höchstens zehn Minuten gewesen.«
Kennen Sie diesen Zustand? Ja? Dann wissen Sie auch, um was es sich beim so genannten schamanischen Bewusstseinszustand handelt. In den folgenden Kapiteln werden Sie lernen, wie man solche Trancezustände durch schamanische Reisen gezielt herbeiführen kann und wie überraschend einfach und wunderbar es sich in ihnen spirituell arbeiten lässt.
Der Kosmos der Schamanen
Erlebnisberichte über das Erreichen schamanischer Bewusstseinszustände liegen uns aus den verschiedensten Kulturen vor. Legenden, Sagen, Märchen und Lieder künden von Menschen, die sich auf spirituelle Reisen begeben haben. Ihre Erfahrungen dabei sind durchaus ähnlich. Berühmt ist die Geschichte des Ritters Owein, der zur Zeit der Regentschaft des englischen Königs Stephan von Blois (1135-1154) lebte. Er macht sich eines Tages auf den Weg, um dem Bischof der irischen Diözese Clogher seine zahlreichen und schweren Sünden zu beichten. Seine Bußübung hatte sich der Ritter bereits im Vorfeld ausgedacht. Auf sein Drängen hin erlaubte ihm der geistliche Herr widerwillig, zur spirituellen Reinigung das Fegefeuer des heiligen Patrick, »St. Patrick's Purgatory«, zu besuchen, welches in seinem Amtsbereich lag.
Die Erlebnisse des irischen Ritters Owein geben bereits erste Hinweise darauf, wie sich das schamanische Weltbild aufbaut.
St. Patrick's Fegefeuer
Dieses Fegefeuer befand sich in einer schmalen Höhle, nur etwa einen Meter breit, drei Meter tief und so niedrig, dass man darin nur knien konnte. Die Höhle war auf einer kleinen Insel von nicht mehr als 8000 Quadratmetern Fläche inmitten eines einsamen Sees im Norden der heutigen Republik Irland gelegen. Lough Derg, wie er genannt wird, liegt in völliger Abgeschiedenheit in einer weiten, grünen Hügellandschaft.
Der Prior des Inselklosters warnte den Ritter vor dem Weg, der ihm bevorstand. Schon viele hätten die Höhle besucht, aber so mancher sei nicht lebendig zurückgekommen. 16 Tage lang bereitete sich Ritter Owein auf das Fegefeuer vor, mit Fasten, Gebeten und Bußritualen. Dann betrat er den Felsspalt.
Genau 24 Stunden, nachdem er die Höhle betreten hatte, verließ er sie wieder, freudig vom Prior und seiner Gemeinde empfangen. Was er dort erlebt hatte, erzählte er später einem Zisterzienser- Bruder aus dem Kloster Saltery im englischen Lincoln. Der Mönch protokollierte den Bericht in lateinischer Sprache.
Der Bericht des Ritters
Zunächst gelangte Owein in verschiedene düstere Gebäude, dann durchstreifte er Täler und weite Ebenen. Dabei begegnete er gefährlichen Dämonen, die ihn zehn verschiedenen Martern unterzogen. Er sah Teufel, die sündenbeladene Seelen mit weißglühenden Nägeln und in Kesseln voll mit brodelndem geschmolzenem Metall quälten.
Schließlich überquerte er sicher einen trügerischen Steg, der zum Eingang der Hölle führte, und gelangte schließlich in ein Paradies voller Schönheit und Freuden. Auf demselben Weg, den er gegangen war, kehrte er später auch wieder zurück, diesmal jedoch ohne weiteren Schwierigkeiten und Gefahren ausgesetzt zu sein.
Es heißt, der Owein-Bericht habe den berühmten italienischen Dichter Dante Alighieri zu seiner »Göttlichen Komödie« inspiriert.
Die Verbreitung des Berichts in Europa
Die Beschreibung der visionären Erlebnisse des englischen Ritters machte in Europa rasch die Runde, und die kleine Insel in dem einsamen irischen See wurde zum berühmten Wallfahrtsort. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts war er sogar so bekannt, dass beispielsweise auf einer Weltkarte aus dem Jahr 1492 das »St. Patrick's Purgatory« als einzig erwähnenswerter Ort in ganz Irland verzeichnet war.
Für uns ist der Bericht über das Höhlenerlebnis des Ritters Owein heute so interessant, weil er erstaunliche Gemeinsamkeiten mit den Erlebnissen sibirischer, schwarzafrikanischer oder indianischer Schamanen aufweist.

Als Eingang in die untere Welt kann beispielsweise der Quelltopf eines Geysirs dienen, eine heiße Quelle, die in regelmäßigen Zeitabständen eine Wasserfontäne ausstößt.
Warum der Bericht schamanische Elemente aufweist
Nun mag es den Gegeneinwand geben, dass der Ritter als gläubiger Katholik schon aufgrund seiner religiösen Erziehung mit Höllen- und Himmelsvisionen vertraut war und sein Bericht über das Fegefeuer deshalb nichts mit schamanischem Erleben zu tun habe. Doch umfasste seine Erzählung weit mehr als die bekannten Elemente aus der christlichen Überlieferung. So schritt er, lange bevor er das Höllenszenario erreichte, durch düstere Gebäude und durchstreifte im Anschluss daran noch Täler und weite Ebenen. Dieses ausgedehnte Herumschweifen kann niemand erleben, der - getrieben von strengen Selbstbeschuldigungen und Bußfertigkeit - ausschließlich strafende Höllenvisionen erwartet. Genau diese Art der Wanderungen und des Erlebens ist jedoch typisch für schamanische Reisen.
Auch ein Schamane ist bei der Wahrnehmung und Deutung der Bilder, die ihm im schamanischen Bewusstseinszustand begegnen, nicht frei von der Prägung durch sein kulturelles Umfeld.
Volksmärchen mit schamanischen Wurzeln
Schöne Beispiele finden wir auch in unseren alten Volksmärchen, die ebenfalls schamanische Wurzeln haben. So fällt im Märchen von »Frau Holle« die Heldin der Geschichte, Goldmarie, in einen tiefen Brunnen und gelangt anschließend in ein blühendes Land. Hier bittet sie ein Apfelbaum darum, geschüttelt zu werden und Brote mit menschlicher Stimme rufen, das Mädchen möge sie doch aus dem Backofen befreien. Danach erst trifft sie auf das Haus von Frau Holle und lässt es beim Bettenschütteln auf der Erde schneien. Diese Geschichte könnte in anderer Gestalt genauso gut das Protokoll der Trancereise eines schamanischen Regenmachers sein.
Welche Erfahrungswelten Trancereisen zugrunde liegen
Doch zurück zu Ritter Owein. Gewiss war er als Kind seiner Zeit von der Vorstellungswelt des christlichen Mittelalters in Bezug auf die Begriffs- und Bildwelten von Himmel und Hölle beeinflusst. Aber woher stammen diese Vorstellungen ursprünglich? Welche Erfahrungen stecken darin?
Ein ganz besonderes Beispiel aus der christlichen Überlieferung gibt uns die Kreuzigungserfahrung Jesu Christi. Im Neuen Testament ist sehr präzise aufgezeichnet, was Jesus nach seiner Kreuzigung auf dem Hügel Golgatha widerfuhr: »Gekreuzigt, gestorben und begraben; niedergefahren zur Hölle; am dritten Tage wieder auferstanden von den Toten. Aufgefahren zum Himmel...«
Die Nahtodeserfahrung Jesu Christi
Es ist in diesem Zusammenhang müßig, hier die viel diskutierte Frage aufzuwerfen, ob Christus nach seiner Kreuzigung wirklich tot war oder nicht. Mediziner und Physiologen gehen heute übereinstimmend davon aus, dass er nach den Folterqualen am Kreuz in ein Koma verfiel. Dies bedeutet nichts anderes, als dass Jesus sich zwar in tiefster Bewusstlosigkeit befand, nicht aber tot im eigentlichen Sinn war.
Im 24. Kapitel des Lukas-Evangeliums lässt dessen Autor Christus selbst nach seiner Auferstehung zu seinen versammelten Jüngern sagen: »Seht meine Hände und meine Füße: Ich bin es selbst. Fühlt mich an und seht; denn ein Geist hat nicht Fleisch und Beine, wie ihr seht, dass ich habe.« Danach verlangte er etwas zu essen, wie um sich und den anderen seine wiedererwachte Lebendigkeit zu beweisen.
Nahtodeserlebnisse weisen Konstanten auf, die von Raum und Zeit unabhängig sind.
Die Berichte von Nahtodespatienten ähneln sich
Ganz ähnliche Fälle von Koma und sogar klinischem Tod mit nachfolgender erfolgreicher Wiederbelebung durch künstliche Beatmung, Herzmassage oder Elektroschock kennen wir zu tausenden. Die moderne Medizin ist heute in der Lage, derartig starke Weckreize zu bieten, dass manche Komapatienten aus jener »anderen Welt« wieder zurückgeholt werden. Und - das ist das Erstaunliche - die meisten dieser Nahtodespatienten berichten anschließend, befragt auf ihre Gedanken und Erlebnisse während ihrer Bewusstlosigkeit, von ähnlichen Erfahrungen wie die, die von Ritter Owein oder Jesus Christus überliefert sind. Sie alle gelangten durch eine Art dunkle Röhre oder einen ähnlichen Eingang in eine »untere« oder in eine »obere« Welt, oft sogar in beide nacheinander.
Das Erlebnis des »schamanischen Todes«
Vernunftbetonte, aufgeklärte Menschen mögen bei diesen wundersam anmutenden Berichten ungläubig den Kopf schütteln. Einen Schamanen hingegen werden sie nicht im mindesten aus der Fassung bringen. Schließlich sind ihm diese Erfahrungen bestens vertraut.
Alle Menschen, die in unseren Beispielen genannt wurden, Owein, Christus sowie die Patienten, die aus einem Koma wiedererwachten und gesundeten, haben tatsächlich eine gemeinsame Erfahrung: den an Leib und Seele erlebten »schamanischen Tod«. Den beschriebenen Reisen in die untere und die obere Welt kam dabei »nur« die Bedeutung eines begleitenden, wenngleich höchst lehrreichen Szenarios zu. In den meisten Fällen änderte dieses tiefe Erlebnis das spätere Leben und die Lebensweise dieser Menschen sehr drastisch. Nicht selten handelten sie verantwortungsbewusster sich und anderen gegenüber, vertraten eine höhere Moral und Ethik als in ihrem früheren Leben; und nicht wenige fanden erst durch dieses einschneidende Ereignis zu einer tiefen Religiosität.
Das Entscheidende an dieser Erfahrung war der eigene Tod an sich, den die Betroffenen erlebten, also die als wirklich erlebte Vernichtung des Ich. Auf diesen Aspekt werde ich an anderer Stelle noch genauer eingehen.
Menschen, die den Tod geschaut haben, verlieren die Angst vor dem Sterben. Möglicherweise ist es diese neue Freiheit, die sie anders leben lässt.
Die Wirklichkeit schamanischer Reisen
Spirituelle Reisen ins Jenseits sind jedem Menschen, der sich mit Mystik beschäftigt, vertraut. Dabei ist es ganz gleich, ob es sich dabei um einen Schamanen, Christen oder Andersgläubigen handelt. So ist auch von Mohammed, dem großen Propheten des Islam, zumindest eine spirituelle Reise bekannt, die uns überliefert ist.
Auf einem weißen, geflügelten Ross ritt er eines Nachts von der Kaaba in Mekka aus zunächst nach Jerusalem und von dort weiter durch Hölle und Himmel. Für ihn selbst war diese »Nachtfahrt «, nach der die 17. Sure des Korans benannt ist, wirklich. Und das steht auch in keinem Widerspruch zu den Beteuerungen seine Gattin, er habe die ganze Nacht auf den 17. Rabî'al-awwal im Jahre vor der Auswanderung nach Medina, zu Hause in seinem Bett verbracht.
Die Wiederhol- und Reproduzierbarkeit der Reisen
Es gibt eben in der Mystik wie im Schamanismus, die sich beide ohnehin weitgehend überschneiden, verschiedene Realitätsebenen. In ihrem Wirklichkeitsanspruch sind sie gleichberechtigt. Wie real schamanische Reisen in einer ganz anderen Hinsicht sind, belegt auch ihre Wiederhol- und Reproduzierbarkeit. Zu allen Zeiten und in allen Kulturkreisen erlebten und erleben Schamanen auf ihren Reisen grundsätzlich Gleichartiges, wie in den obigen Beispielen beschrieben.
Es gibt tatsächlich eine ganz Reihe von Bereichen, die früher oder später jeder schamanisch arbeitende Mensch kennen lernt: die untere Welt, die obere Welt, das große Nichts, die Höhle der verlorenen Kinder, das Grenzgewässer zum Reich der toten Seelen (das in zahlreichen Mythologien eine dominierende Rolle spielt), eine weite, ruhige grüne Tallandschaft und noch unzählige andere Welten.
Die Übereinstimmungen dieser Szenarien sind derart augenfällig, dass sich Michael Harner's Foundation of Shamanic Studies in einem wissenschaftlichen Großprojekt daran wagte, Zehntausende von Reiseberichten auf verwandte Bilder zu untersuchen, um eine »Kartografie der nicht alltäglichen Realität« zu erarbeiten.
Jung definierte das transpersonale Unbewusste als »die geistige Erbmasse der Menschheitsentwicklung«. Ausdruck dieser Gemeinsamkeit sind nach Jung die so genannten Archetypen (Urbilder), die - unabhängig von Kultur und Zeitalter - in Träumen, religiösen Symbolen, Mythen und Märchen auf tauchen.
Subjektive Empfindungen und objektive Wirklichkeit
Wer solche nicht alltäglichen Szenarien das erste Mal als erwachsener Mensch bereist, ist danach im Allgemeinen sehr erstaunt und hält das subjektiv Erlebte für Früchte seiner eigenen Phantasie. Doch schon in einem schamanischen Basisseminar mit etwa zehn Personen lassen sich interessante Vergleiche ziehen. Bei allen Teilnehmern, die diese Räume erstmals betreten haben, ergeben sich erstaunlich viele Übereinstimmungen - auch im Vergleich mit »Reiseberichten« von Stammesschamanen aus uns fremden Kulturen.
Das überpersönliche Unbewusste C.G. Jungs
Der Psychologe Carl Gustav Jung (1875-1961), dessen Arbeiten nicht nur stark auf die Psychotherapie sondern daneben auch auf die Religions- und Mythenforschung sowie die Ethnologie wirkten, prägte nicht von ungefähr den Begriff des transpersonalen Unbewussten. Er hatte selbst durch tibetisch inspirierte Meditationsübungen und im Zug seiner Forschungsarbeiten zum Sinnzusammenhang von Natur und Seele erfahren, dass Erlebnisse in nicht alltäglichen Realitätsräumen weit über die eigene Phantasie und über das eigene Unbewusste hinausführen können.
Diese Erfahrungsräume erscheinen uns zwar zunächst fremdartig, sind aber trotzdem wirklich und objektiv. Solche Bereiche bezeichnete Jung als transpersonal, über die persönliche Erfahrung, das Unbewusste und die subjektiv empfundene Wirklichkeit hinausgehend.
Unterwegs in bekanntes Land
Wollen wir uns heute dem Schamanismus praktisch nähern, dann können wir uns die gesammelten Erfahrungen der in früheren Zeiten und heute praktizierenden Schamanen zunutze machen. Das ist von großem Vorteil. Schließlich zeigen uns diese Erlebnisse, wohin wir reisen können und was uns dort erwartet, ohne Schaden zu nehmen.
Für die europäischen Seefahrer und Eroberer des 15. und 16. Jahrhunderts beispielsweise war es weitaus schwerer und risikobehafteter, in ferne Länder wie das unbekannte Amerika, Südafrika, in arktische Gewässer oder nach Südostasien zu gelangen, als später für ihre Kinder und Kindeskinder. Schließlich mussten die Pioniere ihre Zielhäfen erst einmal entdecken und dafür eine mühevolle Reise ins Ungewisse mit Gefahren für Leib und Leben auf sich nehmen.
Auf den Schamanismus übertragen, bedeutet dies: Wenn man vor Antritt einer spirituellen Reise weiß, wo das Ziel liegt und was einen dort erwartet, wird das Reisen leichter, und man benötigt nur noch einen Bruchteil der Vorbereitungen.
In der nordischen Mythologie nimmt der Weltenbaum, die Weltesche Yggdrasil, ebenfalls eine zentrale Stellung ein. Die Weltesche breitet ihre Äste über das All, und ihre Wurzeln sind die Quellen der Weisheit und des Schicksals.
Die viergeteilte Welt
Was genau erwartet uns nun auf unserer schamanischen Reise? Dazu möchte ich mit wenigen Strichen ein Bild der schamanischen Kosmologie skizzieren.
Der Schamane versteht die Welt als viergeteilt. Es gibt eine untere Welt, die Religionen wie das Christentum oder der Islam als Hölle »umfunktioniert« haben. Und es existiert eine obere Welt, die Christen und Moslems in ihren Überlieferungen als Himmel bewerten. Auch die Naturvölker kennen eine untere und obere Welt, nur fehlt die auf Belohnung und Strafe, Gut und Böse zielende Wertung. Die eine Welt ist nicht schlechter oder besser als die andere. Beide sind notwendig und lediglich verschieden in ihrer Art und Darstellung.
Vergleichen wir dies einmal mit einem pflanzlichen Lebewesen. Ein Baum benötigt mehrere Faktoren, wie etwa Erde und Luft, zum Leben und Gedeihen. In vielen Kulturkreisen ist er daher auch ein zentrales Symbol für die schamanischen Wirklichkeitsbereiche. Und damit wird er zum Weltenbaum, dessen Wurzeln den Erdmittelpunkt erreichen und dessen Krone bis in den Himmel ragt.
Die mittlere Welt
Zwischen unterer und oberer Welt liegt die mittlere Welt. Das ist die Welt, in der wir in unserem irdischen Alltag leben. Die mittlere Welt in sich ist zweigeteilt: in eine alltägliche Wirklichkeit und eine nicht alltägliche. Alltäglich sind beispielsweise Schule und Finanzamt, Urlaubsreise und Zahnarzt. Nicht alltäglich sind die Zusammenhänge und Vorstellungen hinter diesen materiell und sinnlich wahrnehmbaren Fassaden. Hier ist eine Beschreibung mit Worten schwer. Lassen Sie mich diesen Bereich grob und nicht völlig zutreffend als Seelenleben bezeichnen. Ein Beispiel soll das erläutern.
In der Vorstellungswelt der germanischen Religion gibt es Midgard, den Lebensraum der Menschen, Utgard, dort wohnen die Riesen, die Unterwelt Hel sowie Asgard, das Land der Götter.
Alltägliche und nicht alltägliche Welt
Wenn ich den täglichen Weg zu meinem Arbeitsplatz zu Fuß, mit dem Auto oder mit der Straßenbahn zurücklege, dann tue ich das in der alltäglichen Realität der mittleren Welt. Wenn ich abends im Bett die Augen schließe und mir den Weg zur Arbeit Schritt für Schritt genau vorstelle, dann ist auch das noch alltägliche Realität. Wenn sich währenddessen aber vor meinem geistigen Auge plötzlich Ereignisse abspielen, die mit der erlebten Alltagswirklichkeit nicht übereinstimmen, wenn also an einer Straßenkreuzung plötzlich ein Gemüsehändler mit seinem Karren steht, der sonst niemals dort ist, dann ist das eine nicht alltägliche Realität in der mittleren Welt.
Andere Sphären - untere und obere Welt
In der unteren und der oberen Welt hingegen ist alles Erlebte nicht alltäglich. Schon ihr Aufbau macht dies deutlich. Sowohl bei der unteren Welt als auch der oberen Welt handelt es sich nicht um homogene Räume, d. h., sie sind nicht einheitlich aufgebaut und lassen sich vielfach in bestimmte Regionen unterteilen, die von uns oft auch als Sphären erlebt werden.
Alltägliche und nicht alltägliche Wirklichkeit sollten immer im richtigen Gleichgewicht zueinander stehen. Nur so erhalten wir uns unsere seelische und emotionale Gesundheit. Wenn wir also zu Reisenden zwischen den Welten werden und schamanisch arbeiten, so sollten wir unsere spirituellen Bemühungen mit Bedacht, Umsicht und Selbstbewusstsein in unser irdisches Leben einbauen, ohne jedoch die Anforderungen unseres Alltagslebens an uns als Gemeinwesen in einer vielschichtigen Gesellschaft zu vernachlässigen.
Reisewege der Seele
In anderen Realitätsebenen liegen die Ziele der schamanischen Reisen durch Raum und Zeit. Sie durchdringen unser alltägliches Leben spirituell und haben darauf Einfluss ,auch wenn wir nur in der Lage dazu sind, sie mit der Seele zu besuchen. Wie wir uns auf eine schamanische Reise begeben können, welche Rolle der Rhythmus dabei spielt, um uns in den schamanischen Bewusstseinszustand zu versetzen, erfahren Sie in diesem Kapitel. Auch der richtige Umgang mit den Visionserlebnissen und unseren Lehrern und Beschützern, den Krafttieren, wird hier gezeigt. Sie alle sind Wegweiser zu körperlicher und seelischer Harmonie und jener Gesundheit, die in unserem Inneren, unserer Seele angesiedelt ist.