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Angetrieben von ihrem übersteigerten Sicherheitsbedürfnis und dem sie stets leitenden Grundgedanken, man dürfe nichts unversucht lassen, wenn es um die körperliche und seelische Gesundheit geht, ließ Frau Sihet diese sinn- und erfolglosen Maßnahmen über sich ergehen. Statt einer Besserung der Beschwerden stellte sich eine Verschlimmerung ein.
Das Gefühl, ein besonders schwerer, hoffnungsloser Fall zu sein, wurde ihr zur Gewissheit. Angst überwältigte sie, die wiederum Muskelverspannungen, Gefäßverengungen und neue Magen- Darm-Probleme mit sich brachte.
Fatalerweise eskalierte dieser missliche Zustand, je mehr Frau Sihet davon überzeugt war, sich nicht nur um die Gesundheit ihres Körpers, sondern auch um die ihrer Seele zu kümmern. Sie glaubte sogar, ihre Seele und deren Zustand zu kennen. In Wirklichkeit aber engte sie diese mehr und mehr ein. Ihr geschliffener Verstand, ihr starkes Sicherheitsbedürfnis und die feste Überzeugung, sie dürfe in ihrem Leben nichts dem Zufall überlassen, ließen ihrer Seele nicht mehr den geringsten Spielraum, den eigenen Lebensbereich selbst zu gestalten oder in ihm frei zu atmen. Frau Sihets Angst steigerte sich zur Verzweiflung. Sie war nicht mehr in der Lage, rhythmisch zu atmen, sondern nur noch stoßweise mit längeren Pausen.
Der schamanische Reisebericht über Frau Sihets »Seelenzimmer« stammt aus dem Buch »Der Zeitvogel und andere schamanische Erzählungen«, ebenfalls von Felix R. Paturi.
Der Einfluss der Eltern
Dass es so etwas wie das Land der Seele gibt, in dem diese ein sehr eigenständiges Leben führt, war Frau Sihet nicht bewusst. Und hätte sie das erbärmliche und heruntergekommene Zimmer auch nur einmal gesehen, in das ihre Seele eingepfercht war, dann wäre sie wohl zutiefst entsetzt gewesen.
Niemand freilich gestaltet sein Seelenland allein. So bekam Frau Sihets Seele schon bei ihrer Geburt von ihren Eltern ein freundliches kleines Zimmer als Wohnstatt zugewiesen, ohne dass Vater und Mutter sich dieses Raums allerdings tatsächlich bewusst waren. Unbewusst gestalteten sie ihn während der Kindheit des kleinen Mädchens ganz systematisch. Alles, was ihr Kind in dieser Zeit erlebte und erfuhr, hinterließ Spuren in seinem Seelenzimmer. Spuren dieser Art sind oft sehr dauerhaft und lassen sich noch lange Zeit danach betrachten.
Erste Spuren im Seelenraum
Die erste Maßnahme der Eltern war, dass sie die Türe des Seelenzimmers ihrer Tochter sorgsam verschlossen. Sie glaubten, so der kleinen Seele Sicherheit vor den Gefahren von außen zu geben. Wie leicht hätte sie sonst den Raum neugierig und - wovon sie überzeugt waren - leichtsinnig verlassen können. Das Seelchen drückte zwar zunächst öfter auf die Türklinke, fand sich aber bald damit ab, dass dieses nichts bewirkte und vergaß die Türe als möglichen Weg ins Freie schließlich ganz. Immerhin war das Zimmer selbst ein schöner Raum, denn er war weitgehend leer und man konnte darin nach Herzenslust herumkrabbeln, spielen und toben.
Ein Seelenzimmer wird eingerichtet
Als das Kind größer wurde, erhielt der Raum immer mehr Einrichtungsgegenstände. Seelenräume haben jedoch ein völlig anderes Mobiliar als die in der Welt der Sinne und des Verstands. Das von den Eltern sorgfältig ausgewählte Internat hinterließ beispielsweise als Spur im Seelenraum eine massive Eisenstange, die mitten im Zimmer stand und vom Boden bis zur Decke reichte. Das war ein Gegenstand, an dem man sich aufrichten und festhalten konnte. Auch sorgsam geplante Freizeitaktivitäten, die die Tage ihrer Tochter ausfüllten, zogen sich bald als straffe Stahlseile kreuz und quer durch den Raum: viele Möglichkeiten, sich festzuhalten.
Die bildhafte Zustandsbeschreibung führt unmittelbar und auf direktem Weg zur Einsicht in die schwierige Situation, in der sich die Frau befindet.
Eine Seele beginnt zu verkümmern
Die Fenster des Zimmers hatten die Eltern in der Zwischenzeit zur Hälfte verschlossen und mit uninteressanten Ausblicken bestückt. Beschränkt auf das Zimmer, suchte die Seele nach Gestaltungsmöglichkeiten. Die aber waren äußerst begrenzt. Doch selbst wenn es der Seele gelang, sich ein neues Spielzeug zu basteln, nahmen es ihr die Eltern fort. Sie sahen es als nichtsnutzig oder sogar gefährlich an. Stattdessen zogen sie neue Seile und Stangen ein. Bald konnte sich die Seele nicht mehr frei im Raum bewegen. Die Seile und Stangen machten bestimmte Teile des Zimmers unerreichbar. Dort lagen zwar noch einige interessante Dinge herum, die die Seele einst erdacht hatte, aber im Lauf der Zeit legte sich Staub darüber.

So sah ein junger Franzose das Umfeld seiner Seele auf einer schamanischen Reise.
Eigene Spuren kommen hinzu
In dem Maß, wie die sorgfältige Erziehung des Mädchens in der Welt der Sinne und des Verstands zur Freude ihrer Eltern fruchtete, hinterließ das Kind nun auch zunehmend selbst ähnliche Spuren wie die vorgegebenen in seinem Seelenzimmer. Dabei diktierte in erster Linie der Verstand, der weder um die Existenz des Seelenraums wusste, noch ihm bekannt war, was er dort anstellte.
Das Kind, das instinktiv fühlte, wie es seiner Seele mehr und mehr an Beweglichkeit fehlte, und dass diese kaum noch aufrecht stehen konnte, ohne sich an Stangen und Seile zu klammern, begann, selbst weitere Stützen und Hilfsmittel in dem immer enger werdenden Seelenraum unterzubringen.
Als die junge Frau mit großen Ehrgeiz ihr Studium absolvierte, ersetzte sie die Eisenstange im Zentrum des Raums durch eine massive Säule. Als sie ihren begüterten und beruflich erfolgreichen Mann heiratete - eine Liebesheirat war es nicht - stellte sie eine zweite Säule neben die erste. Beide waren nur so weit voneinander entfernt, dass die junge Frau Sihet sich mit jeder Hand an eine davon klammern konnte. Als dritte Säule ganz in der Nähe ragte bald die kleine Boutique im Raum empor, die ihre Eltern und ihr Mann gemeinsam finanziert hatten.
Das im Seelenzimmer installierte Geflecht vermag nicht, ein wirklicher Halt zu sein, im Gegenteil - es wird mehr und mehr zum bedrohlichen Dickicht.
Die Katastrophe nimmt ihren Lauf
Frau Sihet selbst verbot ihrer Seele hinfort, den engen Raum zwischen den drei Säulen zu verlassen. So musste sich die Seele auf einen kleinen Platz innerhalb des Zimmers zurückziehen und war hier gar nicht mehr in der Lage zu erkennen, dass die Zimmertür und der Weg ins Freie schon längst nicht mehr verschlossen waren.
Frau Sihets Seele wurde immer unsicherer in ihrem Gefängnis. Sie hatte ohnedies niemals richtig laufen gelernt, und ein Rückgrat, das es ihr gestattet hätte, aus eigener Kraft aufrecht zu stehen, hatte sie auch nicht entwickelt. Als Ersatz diente das künstliche Außenskelett aus Seilen und Säulen, an das sie sich klammerte. Wenn sie auch nur für einen Augenblick losgelassen hätte, wäre sie gestürzt, schlimmstenfalls sogar zwischen die Säulen. Deshalb spannte sie straffe Seile von einem Träger zum anderen. Übertragen auf die Welt der Sinne und des Verstands waren dies ihre zahllosen Versicherungen sowie ihre überpenible Gesundheitsvorsorge.
Die Seelenflügel werden gestutzt
Schließlich kam es soweit, dass Frau Sihet im Zentrum der Säulengruppe noch einen Stahlmast errichtete, an den sie ihre Seele festband. Jetzt endlich konnte ihr nichts mehr passieren, dachte sie. Sie konnte nicht mehr umfallen. Aber sie hatte nicht bedacht, dass auch die Seele Augen und Ohren besitzt. Die sahen und hörten, wie die Stahlseile zwischen den Säulen zu verrotten begannen, wie andere Menschen an den Seilen sägten und auf die Säulen einhämmerten, wie die Fensterscheiben des Seelenraums zerbrachen und kalter Wind hineinblies.
Die Seele ist in einen engen Käfig eingepfercht und dadurch jeglicher Chance zur freien Entfaltung beraubt.
Der schlechte Rat von Wunderheilern
Die Seele fror und sah sich alldem machtlos ausgeliefert, denn sie war gefesselt. Das war der Moment, wo Frau Sihet Hilfe bei Esoterikern und Spiritisten suchte, denn selbst ihr Verstand konnte nun nachvollziehen, wie ihre Seele litt. Er konnte es sich nur nicht erklären, weil er vom Land der Seele - bei Frau Sihet eingeengt auf die Mitte eines kleinen Raums - nichts wusste.
Die Okkultisten gaben der gefangenen Seele scheinbar neue Sicherheit. Sie stülpten ihr einen Sack, gesponnen aus esoterischer Weltanschauung, über den Kopf, so dass sie die verrottenden Stahlseile und zerbröckelnden Säulen nicht mehr wahrnehmen konnte und redeten ihr ein: »Im Lauf der Zeit wirst du lernen, in dieser Hülle neue Welten zu sehen.« Aber eine Hülle ist eine Hülle und nicht mehr. Es kann in ihr keine Welten geben, die einer Seele mit ihren Bedürfnissen angemessen wären. Eine Seele braucht Flügel.
Wer wirklich helfen kann
Nur weise Menschen, die gelernt haben, das Land der Seele zu sehen, können eine gefesselte Seele wie die von Frau Sihet befreien. Sie können sie lehren, wieder selbstständig zu gehen und sie aus ihren unbewohnbar gewordenen Räumen herausführen, bis ihre Seele stärker wird als ihr eigener Verstand und es versteht, ihren Lebensraum selbstbewusst zu gestalten.
Wie kann man einen echten Seelenheiler finden? Mit Hilfe des Verstands sicher nicht. Er erkennt sie nur selten. Nur die Seele, das eigene Gefühl erkennt einen Weisen. Vielleicht gibt es darüber hinaus doch noch ein untrügliches wahrnehmbares Kennzeichen, nämlich ihren Blick. Das ist Ihr Blick. Doch auch hier lässt sich das Besondere nicht beschreiben, nur erfühlen.
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