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Bei der progressiven Muskelentspannung (nach Edmund Jacobson) werden die Muskeln willkürlich angespannt und entspannt, was zu einer generellen Entspannung führt und noch leichter als das Autogene Training durchzuführen ist. Dieses meist in der Gruppe praktizierte Verfahren eignet sich für stationäre PatientInnen als Zusatzmethode bei Angsterkrankungen und somatoformen Störungen.
Biofeedback ist eine mit Apparaten unterstütze Methode, bei der vegetative Veränderungen und Vorgänge, wie Atmung, Hauttemperatur, Durchblutung und Muskelspannung, in sicht- oder hörbare Signale umgewandelt und der bewussten Wahrnehmung zugänglich gemacht werden. Ziel ist, dass rückgemeldete Körpersignale in die therapeutisch gewünschte Richtung verändert werden und der Betroffene mehr willentliche Kontrolle über biologische Vorgänge erhält, die für ihn bislang nur schwer beeinfluss- und wahrnehmbar waren. Klinische Anwendungsgebiete sind allgemeine Schmerzen, Spannungskopfschmerzen, Migräne, Schlafstörungen, Herzrhythmusstörungen oder Angsterkrankungen.
3.3.6Sonstige Therapieverfahren
Kunsttherapie ist ebenso ein wirksames Therapieverfahren, bei welchem PatientInnen ohne Verwendung der Sprache innere Wahrnehmungen und Bilder der Psyche ausgestalten können und somit eigenes Erleben und Erkenntnis aktivieren. Gearbeitet wird mit Medien der bildenden Kunst, wie Malen, Zeichnen, Bildhauern, Textil oder Fotografie.
Musiktherapie ist eine kreativitätsbezogene Therapiemethode, die unterschiedliche Formen und Techniken beinhaltet, deren Gemeinsamkeit der Einsatz – sowohl rezeptiv als auch aktiv – von Musik zur Behandlung von psychisch erkrankten Menschen ist. Theoretische Grundlage dieser sehr wirksamen Methode ist die Annahme, dass über vorsprachliche Darstellung unbewusste Prozesse, Ängste oder Motivationen eine Ausdrucksform finden und so wahrgenommen und verarbeitet werden können.
4Ergotherapie und Soziotherapie
4.1Ergotherapie
Der Begriff „Ergotherapie“ wird fälschlicherweise mit Beschäftigungstherapie gleichgesetzt. Ergotherapie ist einerseits ein Oberbegriff für alle Maßnahmen im Rahmen der Arbeits- und Beschäftigungstherapie und anderseits ein spezielles Verfahren, welches dem Patienten kreative Tätigkeit zur Wiedererlangung seiner Alltagsfähigkeiten unter Anleitung ermöglicht. Moderne Ergotherapie beinhaltet daher weit mehr als reine Beschäftigung oder handwerkliche Übungen und betont die handlungsorientierte Interaktion zwischen dem Patienten und seiner Umwelt. In der Krankheitsphase, etwa während einer depressiven Episode, sollen durch Malen, Basteln, Schneidern oder handwerkliche Tätigkeiten Ausdrucks- und Wahrnehmungsmöglichkeiten gefunden werden. Die eigentlichen Ziele der Ergotherapie sind aber das Üben von Alltagstätigkeiten (Haushaltstraining, Kochen, Fahren mit öffentlichen Verkehrsmitteln etc.), das Fördern von Ausdauer, Selbstständigkeit und Konzentration, die Erarbeitung von Kompensationsstrategien sowie die Diagnostik und Befunderhebung von allgemeinen Fähigkeiten. Arbeitstherapie, Belastungserprobung und Freizeitaktivitäten mit PatientInnen sind weitere Aufgaben der Berufsgruppe der ErgotherapeutInnen. Die Therapie, welche sowohl als einzelfall- als auch als gruppenbezogene Behandlung durchgeführt werden kann, ist im stationären, teilstationären und ambulanten Bereich eine etablierte Methode der modernen Psychiatrie und stellt ein Basisprogramm für alle psychischen Störungen dar.
4.2Soziotherapie
Neben der Psychopharmakotherapie und der Psychotherapie stellt „Soziotherapie“ die dritte Behandlungssäule der Psychiatrie dar. Soziotherapie sind alle Verfahren oder Methoden, die in erster Linie die Umgebung und die interaktiven Prozesse von PatientInnen fokussieren. Eine schwere psychische Störung wie eine Schizophrenie oder Demenz stellt immer auch ein soziales Problem für den Betroffenen selbst und dessen Angehörige dar. Da zwischenmenschliche Beziehungen und die soziale Umgebung wesentliche Faktoren für den Verlauf psychischer Störungen sind, sind soziotherapeutische Maßnahmen entscheidend, um dem sozialen Abstieg vorzubeugen, ihn zu bremsen oder gänzlich anzuhalten. Durch soziale Aktivitäten sollen die Fähigkeiten zu Kommunikation und eigenverantwortlichem Handeln gefördert werden. Der Begriff „Soziotherapie“ umfasst neben den bereits erwähnten Maßnahmen vor allem die psychiatrische Rehabilitation. Hier besteht das Ziel einer Wiedereingliederung in die Gesellschaft von Menschen mit Behinderungen und/oder psychischen Störungen, d. h. einer Rehabilitation in eine geregelte Tagesstruktur oder im günstigsten Fall in Erwerbstätigkeit und Beruf. Obwohl fast alle Berufsgruppen in psychiatrischen Institutionen an soziotherapeutischen Handlungen beteiligt sind, zeichnen sich SozialarbeiterInnen mit der größten Fachkompetenz auf diesem Gebiet aus. Existenzsichernde Maßnahmen sowie materielle, soziale und berufliche Hilfestellungen werden etwa durch Einbeziehung der Familie oder Begleitung bei Ämter- und Behördengängen gegeben. Zum Bereich des Tätigkeitsprofils von SozialarbeiterInnen gehören auch Pflegeheimunterbringungen, Abklären von Pensionsansprüchen, Kontaktaufnahme mit Arbeitgebern, Hilfe bei Wohnungssuche, das Stellen von Rehabilitationsanträgen etc.
IVUrsachen von psychischen Störungen
A. Karwautz
In diesem Kapitel sollen
1.Grundbegriffe der Ursachenlehre erklärt,
2.die bekannten Ursachen bzw. Vorbedingungen psychischer Störungen dargestellt und
3.Modelle, mit denen versucht wird, die bekannten, zur Entstehung der Störungen beitragenden Faktoren in Zusammenhängen zu erfassen, beschrieben werden.
Grundsätzlich ist festzuhalten: Die Ursachen fast aller psychischer Störungen sind weitgehend unbekannt. Psychiatrische Störungen werden als komplexe Erkrankungen verstanden, die verschiedene Ursachenfelder in ihrer Vorgeschichte vereinen. Diese tragen unterschiedlich stark dazu bei, dass eine Person erkrankt.
1Begriffsdefinition
Die Pathogenese (von griech. pathos, das Leiden, Erleiden und griech. genesis, Entstehung) beschreibt die Mechanismen, wie jemand erkrankt. Pathogenetische Modelle beziehen alle relevanten Faktoren ein, die zur Entstehung einer Krankheit beitragen und setzen sie in Beziehung zueinander.
Die Pathoplastik (von griech. pathos, das Leiden, Erleiden und griech. plastein, formen, bilden) beschreibt diejenigen Faktoren, die eine Erkrankung im Verlauf und in ihrer Ausprägung und individuellen Gestaltung formen (z. B. wirken Persönlichkeit, Lebenssituation und die Qualität sozialer Beziehungen pathoplastisch auf den Verlauf der Erkrankung).
Die Ätiologie (griech. ätia, Ursache und griech. logos, Lehre) beschreibt die Ursachen einer Erkrankung.
Der veraltete Begriff „endogen“ (griech. endo, aus sich selbst heraus und griech. genesis, Entstehung) bedeutet „von innen aus dem Organismus kommend“ und soll jene psychischen Störungen charakterisieren, bei denen keine erkennbare somatische Ursache vorliegt, jedoch eine „im Körper“ vorhandene Krankheitsursache angenommen wird. Zu den endogenen Störungen zählte man u. a. die Schizophrenie und die affektiven Psychosen. In der Depressionsforschung war die Unterscheidung zwischen endogener, psychogener und neurotischer (griech. psyche, Seele; griech. genesis, Entstehung; neurotisch bedeutet: bedingt durch innerseelischen Konflikt) üblich. Dies führte zum triadischen System, welches lange Zeit große Bedeutung im Krankheitsverständnis von psychischen Erkrankungen hatte (siehe Kapitel V, 3.1). In der ICD-10, deren Klassifikation nicht ursachenorientiert konzipiert ist, wurde diese Differenzierung aufgegeben. Der Konflikt zwischen Anhängern der endogenen und der psychogenen bzw. neurotischen Ursachentheorien wird heutzutage wissenschaftlich nicht mehr ernsthaft geführt.
Risikofaktor: Das Vorliegen eines Risikofaktors erhöht die Wahrscheinlichkeit zu erkranken. Der Faktor geht der Erkrankung zeitlich voraus und zeigt eine Dosis-Wirkungs-Beziehung: Je mehr Risikofaktoren auf ein Individuum treffen, desto eher kommt es zum Ausbruch einer Erkrankung. Die in verschiedenen Bereichen (biopsychosozial) vorkommenden Umstände können kumulieren und sich in ihrer Wirkung potenzieren wie z. B. bei gleichzeitig bestehendem Alkoholkonsum, Übergewicht, Bewegungsmangel und Nikotinabusus. Risikofaktoren werden im Gruppenvergleich zwischen gesunden und erkrankten Probanden verrechnet und mittels Odds Ratio (OR) bzw. Risikoratio (RR) beschrieben. Sie stellen dar, um wie viel höher das Risiko ist, sich bei Vorliegen von Risikofaktoren in der erkrankten und nicht in der gesunden Gruppe wiederzufinden. Sie sind rein beschreibend und geben keine direkte Auskunft über ursächliche Zusammenhänge.
Die Prädisposition ist eine genetische (ererbte) Anlage oder Neigung bzw. Empfänglichkeit für bestimmte Erkrankungen oder Symptome. Prädisponierende Faktoren können biologisch, psychologisch oder psychosozial sein. Ein zur Prädisposition gehöriger Begriff ist die Vulnerabilität (lateinisch: vulnerabel: verletzlich, neigend zu).
2Risikofaktoren und prädisponierende Faktoren
2.1Genetik
Für viele psychiatrische Störungen liegen Zwillingsstudien, Adoptionsstudien und Familienstudien vor, die auf eine gewisse Vererbbarkeit hinweisen. Dabei wirken Gene nicht deterministisch, sie tragen aber zur Entstehung psychischer Störungen in unterschiedlichem Maße bei. Bestimmte Gene sind für die Entstehung einer Erkrankung weder notwendig noch allein erklärend („Genes are neither necessary nor sufficient“). Die Wirksamkeit der Genetik ist indirekt, indem bestimmte Mutationen eine neurobiologische Veränderung herbeiführen, die wiederum die Betroffenen vulnerabler für psychosoziale Belastungen macht. Neueste Studien zeigen, dass psychiatrische Erkrankungen in hohem Maß untereinander genetisch korrelieren (Brainstorm Consortium, 2018).
2.2Neurobiologie
Der Stoffwechsel von manchen Neurotransmittersystemen (z. B. Noradrenalin-System, Serotonin-System, Dopamin-System, GABA-System) ist bei psychischen Störungen unspezifisch verändert. Biologische Veränderungen sind bei bestimmten Störungen nachgewiesen, die Kausalität ist aber dadurch nicht geklärt. Neurobiologische Störungen sollen nicht als ursächliche Faktoren angesehen werden, was aber manchmal so dargestellt wird.
Strukturelle Veränderungen des Gehirns bei bestimmten psychischen Störungen werden radiologisch (z. B. mittels Computertomografie oder Magnetresonanztomografie) festgestellt, wie erweiterte Ventrikelsysteme im Gehirn, Auffälligkeiten des Thalamus und limbischen Systems. Ebenso beobachtet man Abbauprozesse und Entwicklungsstörungen des Gehirns (z. B. Gyrierungsstörungen) bei PatientInnen mit psychischen Auffälligkeiten. Ihre Bedeutung für die Entstehung von psychischen Störungen ist Gegenstand der Forschung und im Einzelnen noch nicht geklärt.
2.3Prä- und Perinatalfaktoren bzw. virale Infektionen
Probleme rund um Schwangerschaft (Pränatalperiode) und Geburt (Perinatalperiode) sind wichtige Risikofaktoren, die Individuen dazu prädisponieren, Erkrankungen zu entwickeln.
Zu den pränatalen Faktoren zählen höheres Alter der Mutter bei Konzeption, Blutgruppenunverträglichkeit zwischen Mutter und Fötus, Mangelernährung während der Schwangerschaft, Rauchen, Alkoholabusus, Drogenabusus oder Infektionen. Diese Faktoren können das intrauterine gesunde Wachstum und die Reifung des embryonalen Gehirns verzögern bzw. hemmen.
Zu den perinatalen Faktoren zählt man vorwiegend eine Hirnschädigung durch Geburtskomplikationen (durch Sauerstoffmangel) oder eine Frühgeburt.
Bei bestimmten Störungen (z. B. Schizophrenie, Zwängen, Autismus) wurden im Verlauf der Jahrzehnte Hypothesen vertreten, dass auch virale Infektionen bei der Verursachung eine Rolle spielen könnten. So wurde eine Virushypothese der Schizophrenie verfolgt, welche sich wegen deren Unspezifität aber nicht durchgesetzt hat (siehe Kapitel VI, 1.3.3). Ein kleiner Anteil von Zwangsstörungen konnte als streptokokkenbedingte Symptomatik (PANDAS) verifiziert werden (siehe Kapitel XVI, 5.1.5).
2.4Psychosoziale Ursachen
Die Forschung konnte zeigen, dass auch persönlichkeitsrelevante Faktoren für die Entstehung und Aufrechterhaltung einer psychischen Störung vorliegen können. Dazu zählt man u. a. Intelligenzminderung, schwieriges Temperament, fehlende Passung des Temperaments von Erziehungspersonen und Heranwachsenden, gering entwickelter Selbstwert oder perfektionistische Persönlichkeitszüge. Als prädisponierenden Faktor kann auch ein Persönlichkeitszug angesehen werden, den man als „externer locus of control“ bezeichnet: Hierbei legen Betroffene die subjektiv empfundene Ursache für den eigenen Zustand in die Umwelt und betrachten sie als ihrer Kontrolle entzogen. Diese PatientInnengruppe neigt eher zu Depressionen als solche mit „internem locus of control“ und ungünstigen Coping-Strategien wie vermeidenden Umgang mit Stress.
Im psychosozialen Bereich sind folgende Faktoren von Relevanz: Bindungsprobleme in der Kindheit, Fehlen intellektueller Stimulation, autoritärer oder antiautoritärer Erziehungsstil, Missachtung bzw. Ignorieren der Bedürfnisse eines Kindes und inkonsistenter Erziehungsstil wie „Double-bind“-Situationen, wo inkompatible Botschaften an das Kind weitergegeben werden und das Kind in einen innerseelischen Konflikt gebracht wird.
Missbrauch, Misshandlung, Alkoholabusus bzw. Drogenabusus der Eltern, Kriminalität der Eltern, massiver elterlicher Streit, Gewalt zwischen den Eltern und delinquente Geschwister sind besonders schwerwiegende Stressoren, die die Anfälligkeit von psychischen Störungen erhöhen. Aber auch andere Belastungen von unterschiedlicher Stärke, Potenz und Dauer sind risikosteigernd. Dazu zählt man Trauer, Trennungssituationen, Heimerziehung und emotionaler Missbrauch wie beispielsweise Parentifizierung. Dabei werden Kinder als Betreuer der Eltern herangezogen, mit der Aufgabe, sich um diese emotional und praktisch zu kümmern (z. B. auch den Haushalt zu führen). Im sozialen Bereich gelten auch Armut und Migrantenstatus als Risikofaktoren.
Eine lineare, eindeutige und direkte psychosoziale Ursache für die meisten psychischen Störungen im psychosozialen Bereich ist nicht vorhanden. Beispielsweise wurde in der Vergangenheit bei der Schizophrenie von der krankheitsauslösenden bzw. verursachenden Mutter ausgegangen (siehe Kapitel VI, 1.3.4). Bei der Anorexie wurden ursächlich eindeutige Familientypologien, die spezifisch zu Magersucht führen würden, postuliert. Beide Hypothesen konnten empirisch nicht bestätigt werden. Dennoch hatten diese Theorien starken Einfluss auf das Laienverständnis und führten zu falschen Schuldzuweisungen. Paradoxerweise erwarten Eltern selbst heutzutage noch, dass sie für die Entstehung der Krankheit ihrer Kinder schuldig gesprochen werden. Diese Meinung setzt sich oft bis ins Erwachsenenleben fort, sodass auch in der Psychotherapie der Erwachsenen dem entgegenzuwirken ist.
2.5Auslösende Faktoren
Damit eine Störung ausbricht, spielen neben den genannten prädisponierenden Faktoren auslösende Faktoren eine wichtige Rolle. Diese sind entweder massive Stressoren oder das Zusammenkommen gering potenter Faktoren in einer gewissen Häufung. Zu den akuten schweren Lebensereignissen (life events) zählen der Tod eines nahen Verwandten oder Freundes bzw. Partners oder Kindes, Katastrophenfälle, Miterleben von Tod und Sterben, Unfälle, Geburt eines Kindes, Verlust des Arbeitsplatzes, Trennung oder Scheidung, Inhaftierung, akute körperliche Krankheit oder Verletzung, Missbrauch und Misshandlung.
Zu den kleineren Auslösern, den sogenannten „daily hassles“ bzw. zu den länger einwirkenden und daher weniger akuten Auslösern zählen Hänseleien in der Schule, Schulwechsel oder Wechsel des Arbeitsplatzes, Mobbing, Arbeitslosigkeit, Verlust bzw. Rückzug von Freunden, Umzug oder finanzielle Probleme.
3Modelle psychischer Störungen
Jedes Zeitalter hat sein eigenes Verständnis psychischen Leids hervorgebracht und daher gibt es auch verschiedene Modelle über die Ursachen psychischer Störungen. Forscher wollten seit je her verstehen, warum manche Menschen eine oft rätselhafte Krankheit bekommen und andere nicht. Betroffene wollen ihr Leiden erklären und wissen, wie die Veränderungen der Erlebens-, Verhaltens- und Leidenszustände zustande gekommen ist. Patientinnen und deren Angehörige stellen sich die Fragen, ob man selbst oder jemand anderer Schuld trägt und ob man etwas dagegen tun hätte können.
Begonnen hat es im westlichen Kulturkreis mit Vorstellungen göttlichen Einflusses und eines direkten Zugriffs auf menschliches Sein und Werden (siehe Kapitel I, 2). Animistische Vorstellungen, wie die Annahme der allgemeinen Belebtheit der Natur sowie der Glaube an die Beeinflussung von Göttern und Geistern auf das Leben der Menschen, prägten über Jahrhunderte die Vorstellung auch von psychischen Auffälligkeiten bei Menschen. Dies führte zu Teufels- und Dämonenaustreibungen, um Sünde und Schuld reinzuwaschen. Noch in der Zeit der Aufklärung herrschten einseitige biologistische und psychologistische Modelle vor, später auch hypnotische Theorien wie die des Mesmerismus. Dies ist die Bezeichnung für eine elektromagnetische Kraft im Menschen, die Franz Anton Mesmer (1734–1815) spekulativ glaubte erkannt zu haben. (Der „Mesmerismus“ wird bei Peter Sloterdijk in seinem Buch „Der Zauberbaum“ dargestellt).
Peter Tyrer und Derek Steinberg, englische Psychiater, haben 1997 (engl. 2005) in ihrem Buch „Modelle psychischer Störungen: Theorie- und Praxiskonzepte in der Psychotherapie“ den Versuch unternommen, die führenden Modelle psychischer Störungen (aus Sicht der gängigen psychotherapeutischen Schulen) darzustellen. Ein weiterer wichtiger Beitrag zum Thema ist das Kapitel von Wolfgang Gaebel in Hans-Peter Kapfhammer et al.: Psychiatrie & Psychotherapie, Springer 2005. Beide Beiträge dienen hier als Grundlage und ermöglichen weitere Anregungen zur Vertiefung des Themas. Nach Tyrer und Steinberg (1997, 2005) können die Ursachen nach den im Folgenden dargestellten sechs Modellen systematisiert werden.
3.1Medizinisches Krankheitsmodell
Das Medizinische Krankheitsmodell setzt sich aus mehreren Bereichen zusammen:
•Beschreibung der Symptome und Zuordnung zu einem klinischen Syndrom
•Diagnostik der pathologischen (krankhaften) Veränderungen (z. B. Strukturveränderungen durch Magnetresonanztomografie; chemische Veränderungen, messbar in Blut, Liquor, Harn etc.)
•Verlaufsdokumentation und Beobachtung der Veränderungen wie z. B. Spontanremission, Schwankungen in Stimmung und Antrieb oder Steigerung bis hin zur Suizidalität
•Bestimmung der Ursache
•Die Behandlung (Therapie) aufgrund der erhobenen Befunde
•Prognose der Krankheit
Dieses Modell hat eine große Bedeutung, da Krankheiten aus allen medizinischen Fachbereichen auf diese Art klassifiziert, diagnostiziert und behandelt werden. Für psychisch erkrankte Menschen bedeutet dies auch, körperlich untersucht zu werden, was u. a. eine laborchemische Untersuchung bzw. eine bildgebende Diagnostik einschließt (siehe Kapitel V, 5). Auch die Erhebung des psychopathologischen Status beruht auf dem medizinischen Modell. Das Krankheitsmodell, welches maßgeblich die gesamte WHO-Klassifikation beeinflusst hat, ist auch in der Psychiatrie unumgänglich. Es ist wissenschaftlich gestützt, nicht-spekulativ, hypothesengeleitet und rational. Daneben können Befunde und Fortschritte aus anderen Disziplinen der Medizin und den Naturwissenschaften integriert werden.
Als Gefahr des medizinischen Krankheitsmodells ist anzuführen, dass die Individualität des Kranken übersehen wird und stattdessen ein „Fall“ behandelt wird. Ein Nachteil ist, dass der Patient als passiver Empfänger von diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen gesehen werden kann. Zur Rolle des abhängigen und passiven Patienten passt die Rolle des autoritären Arztes, der die Behandlung führt. Unterschiedliche Betrachtungsweisen oder demokratische Entscheidungsprozesse, wie in multidisziplinären psychiatrischen Teams üblich, sind bei konsequenter Befolgung des medizinischen Krankheitsmodells selten anzutreffen. Um eine teamorientierte Behandlungsmethode durchzuführen, reicht daher das Modell nicht aus und bedarf einer Erweiterung.
3.2Psychodynamisches Modell
Das psychodynamische Modell sucht hinter den körperlichen oder seelischen Beschwerden nach Denkmustern, Gefühlen, Konflikten, die in frühen Lebensperioden wurzeln. Eine zentrale Vorstellung ist, dass viele Verhaltensweisen unbewusst erfolgen und dem Betroffenen nicht verständlich sind. Die von Sigmund Freud begründetet Psychoanalyse gilt als grundsätzliche Theorie für alle psychodynamischen Vorgänge und beobachtet z. B. genau die Beziehung des Klienten zum Therapeuten, deutet Regungen mit Rückgriff auf frühe Beziehungsmuster (Übertragungen, Projektionen) und nützt diese für den Heilungsprozess. Der Therapeut achtet ebenso auf seine eigenen Emotionen dem Klienten gegenüber (Gegenübertragung, Projektionen). Durch die freie Assoziation des Patienten, die Deutung von Trauminhalten und Fehlleistungen, können zugrunde liegende Konflikte bewusst gemacht und therapeutisch bearbeitet werden. Abwehrmechanismen wie Rationalisierung, Verleugnung, Verdrängung, Projektion und Reaktionsbildung werden identifiziert, ihr Einsatz wird durch den Klienten beobachtet und in ihrer Bedeutung und Notwendigkeit reduziert.
Unzählige Schulen mit unterschiedlichen Modellen haben sich nach Freud aus dem psychoanalytischen Modell weiterentwickelt, z. B. die von Alfred Adler, Carl Gustav Jung, Melanie Klein, Viktor Frankl, Manès Sperber, Wilfried Bion, Otto Kernberg, John Gunderson und Glen Gabbard.
Nach Tyrer hat die psychodynamische Sicht vor allem eines eingebracht: „die Anerkennung der Reichhaltigkeit und Vielfalt des Lebens, der Entwicklung und letztendlich der Evolution des Menschen; sie fördert Gefühlsausdruck und Anpassung“. Kritisch fügt er jedoch an: „Die psychodynamische Theorie kann allgemeine Ursachen menschlichen Leids und Konsequenzen von Problemen und Beziehungsstörungen besser erklären als spezifische Symptombildungen“ (Tyrer und Steinberg, 1997, 70).
3.3Verhaltenstheoretisches Modell
Das Modell der Verhaltenstheorie ist grundsätzlich anders als das psychodynamische: „Es sieht nicht über die Symptome hinaus, die Symptome und das Verhalten das daraus erfolgt, sind die Störung“ (Tyrer und Steinberg, 1997, 81).
Psychische Symptome bilden sich entweder durch operante (Modell der Skinner-Box: Konditionierung wird nicht durch den Reiz, sondern durch das Verhalten bestimmt) oder durch klassische Konditionierung (Modell des Pawlow'schen Hundes: Reflex).






