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„Da kannst du Recht haben. Aber was soll’s. Setz dich lieber. So wie du aussiehst, kannst du sicherlich eine Menge vertragen.“
Titus nahm sich von der Suppe. „Das kannst du laut sagen. Ich habe einen Bärenhunger.“
Gregor lächelte. „Das hört sich schon einmal gut an. Vielleicht vertreibt das Essen ja deine trüben Gedanken.“
Titus stockte in seiner Bewegung. „Merkt man mir das so sehr an?“
„Anmerken? Man braucht nicht einmal Licht dazu. Hör einmal auf deinen ältesten und besten Freund. Deine Muse war nicht die einzige Frau auf diesem Planeten.“
„Das sagt einer, der seit Jahren mit seiner Mutter zusammen lebt und noch nie eine Freundin gehabt hat.“
Gregor schmunzelte. „Oh, da kennst du nur die halbe Wahrheit.“
„Halbe Wahrheit? Sollte innerhalb der Zeit, in der wir uns nicht gesehen haben, ein Wunder geschehen sein?“
Gregor lachte auf. „Wunder? Nicht wirklich. Eine meiner Studentinnen, Titus. Sie ist jetzt meine Assistentin.“
Titus probierte die Suppe. Gut war kein Ausdruck. Sie schmeckte göttlich. Eine Kürbissuppe wie sie nicht besser hätte sein können. „Ich kann mir denken, aus welchem Grund.“
„Jetzt wirst du geschmacklos, Titus. Sie hat das Zeug zu einer hervorragenden Wissenschaftlerin.“
„Und ist zufällig auch gut im Bett.“
Gregor rückte verlegen seine Brille zurecht. „Ihre Brüste, Titus …“
„Jetzt fängst du damit an. Und wieso ist sie nicht mit hierher gekommen?“
„Sie kommt morgen.“
Titus schaute von seiner Suppe auf. „Ich dachte, ich sei dein einziger Gast.“
„In Ordnung, ich hätte es dir schon früher sagen sollen. In deiner Lage war es sicher unfein. Aber ich brauche sie hier bei mir.“
„Als Betthäschen oder als intellektuelle Unterstützung?“
„Es gibt zu viele Dinge zu untersuchen. Alleine werde ich nicht damit fertig.“
Titus löffelte seinen Teller aus. „Ich brauche Ruhe. Eine fremde Person …“
Gregor seufzte. „Streiten wir nicht, Titus. Sie kommt morgen und damit basta. Sie wird dich nicht stören. Theresa ist ein äußerst sanftmütiger Mensch.“
„Theresa heißt die Gute?“
„Theresa Chambers.“
„Engländerin?“
„Sie kommt aus den USA. Spricht aber hervorragend deutsch.“
Titus stellte den Suppenteller zur Seite. „Ich werde mir Mühe geben.“
„Mühe? Bei was?“
„Freundlich zu sein. Und jetzt schneide mir etwas von dem Braten ab. Am besten gleich zwei Scheiben. Lisa kocht hervorragend.“
Nach dem Essen holte Gregor die Kanne Kaffee, die auf der Kommode gestanden hatte. „Die gute Fee hat an alles gedacht. Setzen wir uns damit vor den Kamin. Du schaust übrigens müde aus.“
Titus unterdrückte ein Gähnen. „Die Fahrt war nicht gerade kurz.“ Er setzte sich in einen der beiden Lehnstühle, die Gregor vor den Kamin gerückt hatte.
Gregor legte Holz nach, bevor er in dem anderen Stuhl Platz nahm. Er betrachtete gedankenverloren die tanzenden Flammen. Schließlich richtete er seine Augen auf Titus. „Über sie hast du mir so gut wie gar nichts erzählt.“
Titus verkrampfte sich. Er beobachtete die Spiegelung der Flammen auf der Kaffeeoberfläche, während er sagte: „Was soll ich dir über sie erzählen? Sie inspirierte mich. In dem Zeitraum, in dem wir zusammen waren, schrieb ich zwei meiner besten Romane. Seit sie weg ist, bringe ich absolut nichts mehr zustande.“
„Sie ist einfach auf und davon?“
Titus nickte. „Ohne Grund. Ich wachte eines Morgens auf und sie war nicht mehr da. Keine Nachricht, kein Anruf, keine Email.“
„Eindeutig ein billiges Flittchen, das sich von seinen Liebhabern aushalten lässt.“
„Du musst es ja wissen.“
Gregor schenkte sich Kaffee nach. „So hört sich das für mich an. Du solltest ihr nicht nachtrauern.“
„Elvira Mohn war wie eine Droge.“
Gregor horchte auf. „Sagtest du soeben Mohn?“
„Ihr Nachname. Wieso?“
Sein Freund runzelte die Stirn. „Nur so. Ich kenne einen Wissenschaftler mit diesem Namen. Er ist … Wir sind das, was man schlechthin als Rivalen bezeichnet. Er zieht meine Artikel durch den Dreck und ich seine. Mohn versucht alles, um dahinter zu kommen, an was ich gerade forsche.“
Titus zuckte mit den Achseln. „Und wenn schon. Was hat er davon, wenn er es herausfindet?“
Gregor hob seinen Zeigefinger. „Eine ganze Menge, Titus. Er würde versuchen, mir Konkurrenz zu machen, indem er schnell irgendwelche Artikel über meine Forschungen veröffentlicht. Damit würde er meine Arbeit zunichte machen. Um es auf den Punkt zu bringen, er ist das, was man gemeinhin als Arschloch bezeichnet.“
„Und was ist so besonders an deiner derzeitigen Forschung? Ich meine, außer Männer dabei zu beobachten, wie sie Holzstämme durch den Ort schleppen.“
Gregor zog seine Mundwinkel auseinander und runzelte die Stirn. „Ich bin in einem alten Dokument auf eine sonderbare Spur gestoßen. Es handelt sich dabei um den Brief eines Gelehrten namens Theophilus Gotthelf aus dem 18. Jahrhundert. Auf seinen ausgedehnten Reisen durch Europa kam er eines Tages nach Tiefenfall. In seinem Brief erwähnt er eine rätselhafte Tradition, die im Zusammenhang mit etwas steht, dass im Volksmund als Wilde Jagd bekannt ist.“
Titus reichte ihm seine leere Tasse, damit Gregor sie nachfüllte. „So, so. Auch wenn dieser Begriff im Volksmund so heißt, habe ich trotzdem keine Ahnung, was es damit auf sich hat.“
Gregor griff nach der Kanne, die neben ihm auf einem Rauchertischchen stand. Während er nachschenkte, erklärte er: „Die Wilde Jagd ist reiner Aberglaube. Es soll sich dabei um ein Heer aus Monstern, Dämonen und Untoten handeln, die zwischen Weihnachten und Neujahr die Nächte unsicher machen. Diese Vorstellung ist in den Alpen nicht gerade unbekannt. Aber hier in Tiefenfall scheint sie eine ganz andere Dimension angenommen zu haben.“
„Das alles erwähnte er in dem Brief?“
„Er erwähnte eigentlich nur, dass er das Haus des Pfarrers besucht habe. Dieser besaß eine eigene Waffenkammer, die voll gestellt war mit Musketen, Schwertern, Sprengstoff und weiß der Teufel was noch. Gotthelf erstaunte diese Ansammlung von Waffen bei einem Pfarrer natürlich. Daher wollte er wissen, was das zu bedeuten habe. Der Pfarrer zögerte ein wenig. Er gab schließlich preis, dass Tiefenfall gelegentlich heimgesucht werde. Auf die Frage, wer oder was diesen Ort heimsuche, antwortete der Pfarrer lakonisch: ‚Die Wilde Jagd’.“
Titus nippte an seiner Tasse. „Ich nehme an, dieser Theophilus Gotthelf hielt den Pfarrer für unzurechnungsfähig?“
„Das weiß ich nicht. Mehr hat der gute Mann nicht notiert. Es gibt nur diese eine Stelle in seinen unzähligen Briefen. Keine ähnlichen Bemerkungen in seinen Tagebüchern. Nichts. Verwunderlich, nicht wahr?“
„Nur dann, wenn man dem Aberglauben der Bergleute skeptisch gegenübersteht.“
Gregor lachte laut auf. „Seit wann glaubst du an Spuk oder Hexerei?“
„Ich glaube an gar nichts. Daher bin ich für alles aufgeschlossen.“
„Ein interessantes Paradoxon. Aber zurück zum eigentlichen Thema. Es gibt keinen einzigen Ort in den Alpen, in dem sich die Bewohner gegen die Wilde Jagd im wahrsten Sinne des Wortes wappnen. Es gibt natürlich gewisse Bräuche, mit denen sich die Bewohner versuchen zu schützen. Aber nicht mit Pistolen, Gewehren, Schwertern und dergleichen. Die Rituale sind dadurch gekennzeichnet, dass als Dämonen verkleidete Männer durch die Straßen ziehen und Häuser aufsuchen, um deren Bewohner vor dem Bösen zu schützen. In manchen Gegenden achtet man auch darauf, dass nach Sonnenuntergang keine Kinder mehr auf den Straßen spielen. Aber damit hat es sich. Im Grunde genommen ist es ein Spiel, eine Art Karneval oder Fasching. Keiner hortet irgendwo Waffen, um sich gegen diese Bedrohung zu schützen.“
Titus zeigte ein flüchtiges Grinsen. „Die Leute von hier sind eben Pragmatiker.“
„Oder etwas völlig Anderes steckt dahinter. Ich hatte ein Gespräch mit dem Pfarrer. Der einzige Mann, der relativ aufgeschlossen mir gegenüber ist. Wahrscheinlich, weil er noch nicht lange die Gemeinde in diesem Ort leitet. Ich fragte ihn nach dieser Kammer. In der Tat zeigte er mir einen kleinen Raum, der ihm als Abstellkammer dient. Keine Waffen. Er lagert darin nur alte Kartons.“
„Wenn es nichts gibt, wieso hast du dann vorhin gemeint, es gebe zuviel zu untersuchen?“
„In der Kirche lagern alte Dokumente. Walter Dorn, der Pfarrer, hat sie sich noch nicht genau angesehen. Mir hat er jedoch erlaubt, die Schriften zu studieren. Auch hier in der Bibliothek gibt es ein paar Bücher, die für meine Arbeit wichtig sein könnten. Du siehst, ich stehe mit meinen Forschungen noch völlig am Anfang. Irgendetwas geht hier vor. Es kommt mir vor, als habe dieser Ort ein dunkles Geheimnis, das von seinen Bewohnern aufs strengste bewahrt wird. Wie gesagt, außer dem Pfarrer redet niemand mit mir. Und Dorn weiß so gut wie nichts über die Geschichte des Ortes.“
Titus und sein Freund saßen noch bis kurz vor Mitternacht am Kamin. Da Titus bereits ein paar Mal in seinem Stuhl beinahe eingeschlafen war, beschlossen sie, sich beim Frühstück weiter zu unterhalten.
Als Titus wieder sein Zimmer betrat, ließ er das Licht zunächst aus und ging zur Balkontür. Der Friedhof lag ruhig und vergessen inmitten der Winterlandschaft. Die Berge waren in der nächtlichen Dunkelheit nicht mehr zu erkennen.
Er öffnete die Tür und trat hinaus auf den Balkon. Die Kälte erfrischte ihn. Noch immer wehte ein Wind. Im gesamten Ort herrschte eine fast gespenstische Stille. Es gab nur ein einziges Geräusch, das seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Ein regelmäßiges Hämmern und Schlagen, so als wären mitten in der Nacht mehrere Zimmerleute am Werk.
Titus dachte an die großen Holzstämme. Gregor hatte wahrscheinlich Recht. Tiefenfall hatte ein Geheimnis.
4
Als Titus erwachte, war es draußen bereits hell. Er warf einen flüchtigen Blick auf seine Armbanduhr, die er neben dem Bett auf den niedrigen Kasten gelegt hatte. Es war kurz nach Zehn. Die Fahrt hatte ihn wohl mehr erschöpft, als er angenommen hatte. Schnell stieg er aus dem Bett, duschte sich und verließ das Zimmer.
Aus der Küche hörte er ein emsiges Klappern von Töpfen. Lisa hatte demnach wieder ihren Posten als Haushälterin aufgenommen. Als er das Speisezimmer betrat, stellte er überrascht fest, dass Gregor nicht am Tisch saß. Es war lediglich für eine Person gedeckt. In einem Korb lagen fünf Brötchen. Es gab mehrere Marmeladen zur Auswahl, dazu Honig und Schinken. Eine Kanne Kaffee stand auf einem Porzellanstövchen mit kitschigem Blumenmuster. Neben dem Teller lag eine zusammengefaltete Tageszeitung.
Titus setzte sich. Ohne sich weiter über den Verbleib seines Freundes Gedanken zu machen, nahm er sich ein Brötchen, schnitt es auf und bestrich es mit Butter und Erdbeermarmelade.
Gerade als er sich Kaffee einschenken wollte, sagte eine sanfte Stimme hinter ihm: „Herr Kranz ist bereits außer Haus.“
Titus drehte sich um.
In der Tür zur Küche stand eine überaus hübsche Frau. Als Titus die Bezeichnung Haushälterin vernommen hatte, war in ihm das Bild einer kleinen, buckligen Alten entstanden, welche die Atmosphäre mit ihrer griesgrämigen Laune vergiftete. Die schlanke Frau, deren Äußeres eine irritierende Sinnlichkeit ausstrahlte, erstaunte ihn. Sie betrachtete ihn mit einer interessanten Mischung aus Neugierde und Zurückhaltung. Sie hatte langes, schwarzes Haar und kastanienbraune Augen. Ihre Kleidung bestand aus einer orangeroten Bluse und einer blauen Jeans. Sie faltete ihre Hände wie zum Gebet.
„Hat er gesagt, wohin er wollte?“, fragte Titus. Er hatte ganz vergessen, dass er noch immer die Kanne in der Hand hielt.
„Ich glaube, zum Bahnhof, um seine Assistentin abzuholen.“
Titus’ Stimmung verdüsterte sich augenblicklich. „Sie kommt schon in der Früh?“
„Das dürfte wohl der Fall sein.“
Titus wandte sich wieder seinem Frühstück zu. Er trank einen Schluck Kaffee und biss daraufhin in das Brötchen.
„Ich hoffe, es schmeckt Ihnen.“
Titus drehte sich wieder um.
Die Frau wirkte auf eine merkwürdige Art verunsichert. Zugleich schien sie darauf aus zu sein, mit Titus ein kurzes Gespräch zu führen.
„Schmeckt sehr gut“, antwortete er. „Ist die Marmelade von Ihnen?“
Ein zurückhaltendes Grinsen huschte über ihre Lippen. Sie trat an den Tisch, wobei sie sich hinter einen der Stühle stellte und dessen Lehne festhielt. „Alle Marmeladen sind von mir. Die Rezepte stammen von meiner Mutter.“
Titus nickte. „Wirklich gut. Mein Name ist übrigens Titus Hardt.“
„Der Schriftsteller, ich weiß.“
Titus hob seine Augenbrauen. „Sie haben schon etwas von mir gelesen?“
„Um ehrlich zu sein, nein. Aber Herr Kranz erzählte mir bereits viel über Sie. Was schreiben Sie denn?“
„Lesbenthriller.“
Die Frau errötete. „Und … können Sie davon leben?“
„Noch“, antwortete Titus. „Ich befinde mich zurzeit in einer Schaffenskrise. Seit mehreren Wochen bringe ich nichts mehr zustande. Es kommt mir vor, wie wenn ich von einer Sekunde auf die andere das Schreiben verlernt hätte.“
„Das tut mir Leid.“
Titus nickte. „Wenn ich nicht mehr schreiben kann, kann ich klarerweise nicht mehr davon leben.“
„Wahrscheinlich klingt meine Frage sehr aufdringlich, aber gibt es einen Grund dafür?“
„Dass ich nicht mehr schreiben kann?“ Titus trank einen Schluck, bevor er fortfuhr: „In der Tat, den gibt es. Meine Muse hat sich auf und davon gemacht. Eine Frau namens Elvira Mohn. Genauso wie in einem kitschigen Drama.“
Die Haushälterin schwieg. Sie betrachtete verunsichert die Tischoberfläche. Schließlich sagte sie: „Ich bin übrigens Lisa Bardin. Sie können mich einfach Lisa nennen. Ich … Nun ja, ich verwalte dieses Haus.“
Titus hielt im Kauen kurz inne. „Das ist ja interessant. Gregor meinte nämlich, er wisse nicht, wer vor ihm in diesem Haus gewohnt habe.“
„Das stimmt auch. Herr Kranz hat sich lediglich gewundert, weswegen das Haus leer stand.“
„Und weswegen stand es leer?“ Titus ließ Lisa bei der Frage nicht aus den Augen.
Die Haushälterin wich seinem Blick aus. „Die Leute glauben, dass es hier spukt. Deswegen stand es die ganze Zeit über leer.“
„Oh, der Friedhof lässt grüßen.“
„Das ist es wahrscheinlich“, erwiderte Lisa schnell. „In diesem Sinne liegt das Haus wirklich ungünstig. Es gehört meiner Familie seit mehr als zweihundert Jahren.“
„Tatsächlich? Und aus welchem Grund leben Sie mit Ihren Angehörigen nicht darin?“
„Ich lebe alleine. Mein Mann hat mich vor drei Jahren verlassen. Und meine Eltern leben nicht mehr. Was soll ich also alleine in solch einem großen Haus?“
Titus zuckte bei dem Wort Mann leicht zusammen. Er schätzte Lisa auf Anfang dreißig. Wieso verließ jemand eine solch hübsche Frau? „Haben Sie Kinder?“
„Nein.“
Titus stopfte sich den Rest des Brötchens in den Mund. Nachdem er es mit einem Schluck Kaffee hinuntergespült hatte, sagte er: „Gregor hat behauptet, dass sich so gut wie keine Touristen nach Tiefenfall verirren. Ist das richtig?“
„Touristen suchen Sie hier vergeblich. Sie und Herr Kranz sind seit längerer Zeit die ersten Besucher, die wir in diesem Ort haben.“
Titus schüttelte den Kopf. „Ein seltsames Kaff.“
Lisa betrachtete ihn furchtsam. „Wie meinen Sie das?“
„Gestern beobachteten wir eine Gruppe Männer, die Pfähle an die Nordseite des Ortes trugen. Gregor zufolge errichten sie dort einen Zaun.“
Die Haushälterin verkrampfte ihre Hände, sodass sie wie zwei weiße Knorpel wirkten, die aus der Stuhllehne ragten. „Ich habe davon gar nichts mitbekommen.“
Titus stand auf. Es war offensichtlich, dass Lisa nicht die Wahrheit sagte. „Vielleicht sehe ich mir heute Vormittag die Konstruktion einmal an.“
Lisa trat abrupt hinter ihrem Stuhl hervor. „Tun Sie das lieber nicht, Herr Hardt. Die Leute mögen es nicht, wenn man sich in ihre Angelegenheiten einmischt.“
„Dann erklären Sie mir, was hier vorgeht.“
„Sie hätten besser gar nicht nach Tiefenfall kommen sollen. Das ist das Einzige, was ich Ihnen sagen kann. Sie sollten in den nächsten Zug steigen und von hier wieder verschwinden. Zusammen mit Herrn Kranz.“
„Wollen Sie damit andeuten, dass wir in irgendeiner Gefahr schweben?“
Lisa trat zurück an die Küchentür. „Bald wird es zu spät sein.“ Damit ließ sie Titus alleine.
5
Als Titus das Haus verließ, vernahm er aus der Küche wieder das Klappern der Töpfe. Es fiel ihm schwer, Lisas Bemerkungen aus dem Kopf zu bekommen. Welche Art von Gefahr hatte sie gemeint? Titus bezweifelte, eine Antwort zu erhalten, wenn er die Küche aufsuchte, um sie danach zu fragen. Lisa war eigenartig. Mindestens soviel stand fest. Dennoch musste er sich eingestehen, dass ihn ihre Erscheinung faszinierte.
Vor dem Haus zündete er sich eine Zigarette an. Die Kälte schnitt wie eine Rasierklinge in sein Gesicht. Der Schnee blendete in den Augen, obwohl der Himmel mit graublauen Wolken verhangen war.
Er hatte vor, einen Rundgang durch den Ort zu machen, bevor Gregor mit seiner Assistentin zurückkam. Vielleicht führte ihn sein Spaziergang auch in die Nähe des obskuren Zauns, den die Bewohner aus Holzstämmen errichteten.
Während er rauchte, fiel sein Blick auf den Friedhof, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite lag. Der Schnee, der in der Nacht gefallen war, hatte auf den ungepflegten Hecken einen weißen Wall errichtet. Er wusste nicht, was er sich davon versprach, doch als er seine Zigarette ausdrückte, beschloss er, dem Gottesacker einen kurzen Besuch abzustatten. Er kannte einen Autor, der sich von Grabsteinen inspirieren ließ. Vielleicht hatte Titus ja dieses Mal auch Glück und kam beim Anblick der Gräber auf eine neue Romanidee.
Er überquerte die verlassene Straße und öffnete das schwarz lackierte Tor. Die moosbedeckten Grabsteine mit der windschiefen Kapelle im Hintergrund erschienen wie das Motiv für das Plakat eines klassischen Gruselfilms. Gelegentlich ragten verwitterte Skulpturen in Form trostloser Engel aus dem Schnee.
Während Titus an den Gräbern vorbeischlenderte las er die Namen der Verstorbenen. Seltsamerweise stand auf mehreren Grabsteinen dasselbe Sterbedatum: 25.12.1981. Hatte damals eine Epidemie den Ort heimgesucht? Vor einem der Grabsteine blieb er abrupt stehen. Bardin. Besaß nicht die Haushälterin denselben Nachnamen? Tim Bardin 1952-1981 und Anna Bardin 1950-1981. Unterhalb dieser beiden Namen stand: Thomas Bardin. 1979-1981. Es musste sich dabei um den Sohn der beiden handeln. Lisas Eltern und ihr Bruder waren hier begraben. Er zog seinen Mantel fester, da es ihn plötzlich fröstelte.
Er spazierte weiter bis zur Kapelle. Die Holztür hing schräg in den Angeln. Dem Aussehen nach hatte sich nie jemand die Mühe gemacht, diese zu reparieren. Er drückte dagegen. Sie öffnete sich, wobei sie über den Steinboden schabte. Fünf hölzerne Kirchenbänke reihten sich hintereinander. Am gegenüberliegenden Ende stand ein Altar. Darüber hing ein schweres Steinkreuz. Es gab keine Verzierungen, nichts, das sich lohnte, näher in Augenschein zu nehmen. Also schloss er die Tür wieder und drehte sich um.
Titus zuckte zusammen. Er blickte direkt in das mürrische Gesicht eines alten Mannes. Der Kerl musste sich regelecht von hinten angeschlichen haben. Er trug eine dunkelblaue Wollmütze und einen schäbigen Anorak. Sein grauer Stoppelbart verlieh ihm ein ungepflegtes Aussehen.
„Was machen Sie hier?“, fuhr ihn der Mann an.
Titus versuchte, sich seinen Schrecken nicht anmerken zu lassen. „Mich umsehen.“
„Sich umsehen? Wer sind Sie überhaupt? Ich kenne Sie nicht.“
Titus begann sich, über diese grobe Art zu ärgern. „Darf ich fragen, wer Sie sind?“
„Sie sind fremd hier, nicht wahr?“, fuhr der Mann fort, so als ob er Titus’ Frage nicht gehört habe. „Fremde in Tiefenfall sind nicht gut. Wir mögen keine Leute von außerhalb. Besonders nicht, wenn sie sich auf unserem Friedhof aufhalten.“
Titus räusperte sich. „Gibt es dafür auch so etwas wie eine Erklärung?“
Der Mann glotzte Titus verdutzt an. „Eine Erklärung? Hören Sie, junger Mann, ich weiß noch immer nicht, wer Sie sind und was Sie hier wollen. Daher rate ich Ihnen, sich von hier fernzuhalten.“
Titus trat an dem Mann vorbei auf die Reihe von Grabsteinen zu, in welche dasselbe Sterbedatum eingemeißelt worden war. „Können Sie mir nicht einmal sagen, weswegen so viele Leute an Weihnachten einundachtzig gestorben sind?“
Die Augen des Mannes funkelten zornig. „Wer sind Sie? Ein verdammter Reporter? Hauen Sie von hier ab!“
„War nur eine Frage“, erwiderte Titus, drehte sich um und verließ den Friedhof.
Um auf der rutschigen Straße in den Ort zu kommen, benötigte er mehr als fünfzehn Minuten. Kein Mensch kam ihm entgegen. Wenn er Glück hatte, traf er in Tiefenfall auf Gregor, damit er sich den Fußmarsch zurück ersparte. Vielleicht wusste sein Freund noch nichts darüber, dass es am ersten Weihnachtstag 1981 auffällig viele Sterbefälle gegeben hatte. Normalerweise hätte er ihn mit seinem Handy anrufen können. Gregor aber gehörte zu einer Minderheit von Handy-Gegnern. Daher blieb Titus nichts anderes übrig, als abzuwarten.
Er kam nicht gerade an vielen Geschäften vorbei. Es gab unter anderem ein kleines Antiquariat, das jedoch geschlossen hatte. Titus blieb kurz vor dem Schaufenster stehen, in dem Bücher über Geister- und Hexenglauben auslagen. Anscheinend beschäftigten sich nicht wenige Leute mit Esoterik.
„Was auch immer das zu bedeuten hat“, murmelte Titus vor sich hin.
Endlich erreichte er das Ortszentrum von Tiefenfall. Direkt vor ihm ragte die Kirche wie ein abstruses Artefakt aus dem mit unebenen Pflastersteinen belegten Platz. Ihre schmutzigbraune Fassade sowie die gotischen, teils blinden Fenster trugen nicht gerade dazu bei, dass er sich in dieser Gegend wohl fühlte. Erst jetzt erkannte er auf dem Kirchturm eine dornenähnliche Spitze. Auch auf dem Dach des Kirchenschiffes ragten in regelmäßigen Abständen große, silberfarbene Dornen in die Höhe. Diese Auffälligkeiten machten ihn neugierig.
6
Im selben Augenblick, als Titus das unverzierte Kirchenportal öffnete, wurde er von einem dicken, kräftigen Mann zur Seite gestoßen, der die Kirche in rasendem Tempo verließ.
„Gehen Sie aus dem Weg, verdammt!“
Titus schaute dem Mann überrascht nach. Er trug einen dunkelgrauen Anzug und um seinen Hals hatte er einen rotbraunen Wollschal gewickelt. Die Kälte schien ihm nichts auszumachen, ansonsten hätte er wohl einen Mantel getragen. Sichtbar verärgert stapfte er über den rutschigen Platz und verschwand schließlich in einer schmalen Straße.
Sein Gesicht hatte Titus nicht richtig erkennen können. Er glaubte aber, sich an einen dichten Schnauzbart zu erinnern sowie an eine breite Nase. Er zuckte mit den Schultern und betrat die Kirche.
Vor ihm erstreckte sich ein breites Kirchenschiff. Es gab keine Säulen. Das Längsschiff sowie der Chor wirkten wie aus einem Guss. Rechts und links verliefen zwei Bankreihen. Es roch nach Weihrauch und altem Gemäuer.
Direkt neben dem Altar erhob sich ein Weihnachtsbaum, der von zwei Männern geschmückt wurde. Ein Adventskranz stand auf einem Stahlgestellt, das Ähnlichkeiten mit einem Folterinstrument besaß. Neben dem Eingang lagen auf einem Tisch mehrere Faltzettel. Einer davon trug die Überschrift St. Georg – Geschichte unserer Kirche. Der Inhalt des kurzen Textes erwies sich als mehr oder weniger belanglos. Der Architekt der Kirche war unbekannt.
Der Bau wurde zum ersten Mal in einem Dokument aus dem achten Jahrhundert erwähnt. Das einzig wirklich Interessante an der Kirche hatte mit einem Wandgemälde zu tun, das auf der Nordseite angebracht war. Kunsthistorikern zufolge stammte es aus dem 15. Jahrhundert. Der Künstler konnte bisher nicht identifiziert werden, nach Art des Gemäldes aber könnte es sich um einen Maler aus dem Umfeld von Hieronymus Bosch handeln.
Titus legte den Zettel zurück auf den Tisch. Die beiden Männer waren weiterhin in ihre Arbeit vertieft. Er spazierte an den Holzbänken vorbei und hielt nach dem erwähnten Gemälde Ausschau. Ob Gregor davon wusste? Wahrscheinlich. Immerhin hatte sein Freund bereits mit dem Pfarrer Bekanntschaft geschlossen und demzufolge die Kirche bereits aufgesucht.