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Nach wenigen Metern blieb Titus stehen. Das Kunstwerk besaß größere Ausmaße, als er sich vorgestellt hatte. Es war etwa zwei Meter hoch und einen Meter breit. Direkt daneben befand sich eine aus Holz geschnitzte Figur des Heiligen Georg, der mit einer Lanze den Hals eines Drachen durchbohrte. Die Farbe war fast vollkommen abgeblättert. Die Schnitzarbeit wirkte unbeholfen.
Titus richtete seine Aufmerksamkeit auf das Gemälde. Es zeigt eine kleine Stadt oder ein Dorf, dessen Bewohner von einer Horde Dämonen heimgesucht wurde. Die Ungeheuer saßen rittlings auf den Dächern der Gebäude, jagten Menschen durch den Ort, fraßen Kinder und brieten Körperteile über Lagerfeuern. Manche Personen wurden von den Angreifern durch die Luft gezerrt. Die vor Schreck verzerrten Gesichter der Betroffenen ließen erahnen, dass diesen der Spaß rein gar nicht gefiel.
Das Werk zeichnete sich durch seine durchweg düsteren, bis ins Schwarz hineingehenden Farben aus. Die Augen der Dämonen besaßen auch nach Jahrhunderten ein glühendes Rot. Manchmal ähnelten ihre Gesichter denen verwester Leichname, manchmal waren sie halb menschlich, halb tierisch und dann gab es welche, deren bizarres Aussehen Titus nicht einordnen konnte.
„Ein interessantes Gemälde, nicht wahr?“
Der Mann, der auf einmal neben ihm stand, erwies sich als einer der beiden, die vorhin den Christbaum geschmückt hatten. Mit Ausnahme seines weißen Priesterkragens war er ganz in Schwarz gekleidet. Das Hemd und die Hose, die aufgrund ihres Schnitts eine gewisse konservative Strenge ausstrahlten, passten nicht zu seinem jungen Aussehen und seiner modischen Frisur.
„Der Künstler ist tatsächlich unbekannt?“, hakte Titus nach.
„Sie haben also bereits unser Faltblatt studiert“, bemerkte der Mann mit einem süffisanten Grinsen. „Es stimmt. Kunsthistoriker können dieses Werk niemandem zuordnen. Allerdings befürchte ich, dass die Wissenschaftler gerade aus diesem Grund das Bild für belanglos halten.“
„Hat es Ihrer Meinung nach einen gewissen Wert?“
Der Mann legte den Kopf leicht schief. „Nun, es ist Teil unserer Kirche. Daher besitzt es jedenfalls für mich einen bestimmten Wert, auch wenn dieser rein persönlicher Natur ist. Mein Name ist übrigens Walter Dorn. Ich bin der Pfarrer dieser Gemeinde.“
Titus schüttelte ihm die Hand. „Titus Hardt. Wahrscheinlich kennen Sie meinen Freund Gregor Kranz.“
Dorn öffnete überrascht die Augen. „Aber ja! Sind Sie etwa auch Volkskundler?“
„Ich bin Schriftsteller. Gregor hat mich über Weihnachten zu sich eingeladen. Wir wohnen in dem Haus neben dem Friedhof.“
„Ich weiß, das Haus der Bardins. Wahrscheinlich sind Sie Lisa bereits begegnet.“
„Ich hatte ein kurzes Gespräch mit ihr.“
Der Pfarrer seufzte. „Arme Lisa. Sie tut mir richtiggehend leid. Sie ist völlig alleine.“
„Ihr Mann hat sie verlassen“, bemerkte Titus.
Dorn machte ein betroffenes Gesicht. „Nicht nur das. Ihre Eltern sind ums Leben gekommen als sie noch ein kleines Kind war. Aber trotz ihrer Schicksalsschläge lässt sie sich nicht unterkriegen. Sind Sie vielleicht schon in den Genuss Ihrer Kochkunst gekommen?“
„Sie kocht gut. So viel steht fest.“
Dorn lachte auf. „Gut? Sie kocht erstklassig. Und das Beste daran ist, es sind ihre eigenen Rezepte. Wirklich schade, dass es in Tiefenfall keine Touristen gibt. Wenn schon nicht unsere Kirche, so würde Lisas Küche die Besucher scharenweise hierher locken.“
„Sie kennen Gregors Haushälterin anscheinend recht gut.“
Dorn errötete leicht. „Sie backt die Kuchen für unsere diversen Feiern. Sonst aber mischt sie sich nur ungern in das Leben unserer Gemeinde ein. Das große Bild in ihrem Haus. Haben Sie es bereits gesehen?“, wechselte er abrupt das Thema.
„Sie meinen das mit dem Wald und der dunklen Wolke?“
„Es stammte von ihrem Vater. Er war Künstler.“
Titus betrachtete wieder das Gemälde. „Künstler.“
„Tim Bardin. Anscheinend zählte er sich zu den Surrealisten. Genau kann ich es Ihnen nicht sagen. Vielleicht hat Herr Kranz bereits erwähnt, dass ich mich erst seit etwas mehr als einem Jahr in Tiefenfall aufhalte.“
„Das hat er. Sie wissen demnach nichts von den Gerüchten, die sich um diesen Ort ranken?“
Dorn schaute flüchtig in Richtung des Weihnachtsbaums. Der andere Mann war noch immer dabei, Strohsterne an die Zweige zu hängen. „Herbert ist zum Glück taubstumm. Aber ich muss Sie dennoch warnen, nicht so laut darüber zu sprechen. Die Bewohner kennen in dieser Hinsicht keinen Spaß.“
„Können Sie mir erklären, wieso?“
Dorn richtete seinen Kragen, so als würde er ihn zu sehr drücken. „Genau kann ich Ihnen das nicht sagen. Es ist nur so, dass sich die Bewohner zwischen Weihnachten und Dreikönig recht eigenartig verhalten. Es hat etwas mit Aberglauben zu tun. Sie errichten Feuer, feiern seltsame Rituale und …“
„Und bauen eine Palisade aus Eichenstämmen“, beendete Titus den Satz.
„In meinen Augen ein nicht weniger heidnisches Ritual. Kennen Sie die volkstümliche Bedeutung der Eiche?“
Titus schüttelte den Kopf.
„Sie soll vor dem Bösen schützen.“
„Und aus welchem Grund errichten sie den Zaun auf der Nordseite?“
Dorn deutete auf das Gemälde. „Ich befürchte, aus demselben Grund, weswegen sich dieses Bild an der Nordwand befindet. Mehr kann ich allerdings nicht dazu sagen.“
Titus erschauerte. Erst jetzt fiel ihm eine weitere Eigentümlichkeit des Gemäldes auf. Diese hatte mit der mysteriösen Lebendigkeit zu tun, die von den Figuren ausging. Es machte nicht den Eindruck, als hätte der Maler seiner Fantasie freien Lauf gelassen. Vielmehr erschien es, als hätte er etwas geschaffen, was er mit eigenen Augen gesehen hatte. „Kam es letzte Weihnachten zu ähnlichen Reaktionen unter den Bewohnern?“
Dorn überlegte kurz. „Es herrschte eine gewisse Anspannung. Die Leute versteckten sich in ihren Häusern und gingen nur hinaus, wenn es unbedingt sein musste. Das heißt, wenn ich genau überlege, kam es zu ein paar seltsamen Zwischenfällen.“ Er hielt kurz inne. „Drei Kinder verschwanden spurlos. Mir persönlich sind die Gründe dafür unklar. Sie tauchten jedenfalls nicht wieder auf. Damals schlug ich vor, die Polizei einzuschalten. Doch mein Vorschlag stieß auf strickte Ablehnung.“
„Sagten die Betroffenen auch, weshalb?“
Vom Chorraum ertönte ein lautes Stöhnen. Herbert stand neben dem Christbaum und deutete energisch auf denselben.
Dorn zeigte ein sanftmütiges Lächeln. „Er ist mit dem Schmücken fertig. Es tut mir Leid, dass ich unser Gespräch hier abrupt beenden muss. Aber ich darf Herbert nicht weiter warten lassen. Er wird schnell unwirsch.“ Dorn reichte Titus die Hand. „Es hat mich sehr gefreut, Sie kennen zu lernen, Herr Hardt. Grüssen Sie Herrn Kranz von mir. Und sagen Sie auch Lisa schöne Grüsse.“ Er machte kehrt und eilte zu dem taubstummen Mann.
Titus blieb noch einer Weile vor dem unheimlichen Gemälde stehen. Es fiel ihm schwer, das eben geführte Gespräch einzuordnen. Er gehörte nicht zu den Leuten, die alles für bare Münze nahmen. Im Gegenteil, Titus gehörte zu den Zweiflern und Skeptikern. Andererseits besaß er genug Toleranz, um nicht sogleich Dinge als absurd abzutun, nur weil er sie nicht verstand. Er glaubte weder an das Übernatürliche noch glaubte er nicht daran. Er wusste einfach nicht, ob es Dinge dieser Art gab. So lange es weder Beweise dafür noch dagegen gab, lag alles, was damit zu tun hatte, im Bereich des Möglichen.
Dennoch konnte er nicht verhindern, dass er sich in diesem Ort nicht sonderlich wohl fühlte. Was passierte in Tiefenfall zwischen Weihnachten und Dreikönig? Eigentlich hatte sich Titus mit Gregors Forschung nicht weiter abgeben wollen. Nun aber kreisten seine eigenen Gedanken um dieses Thema. Was hatten die verschwundenen Kinder zu bedeuten? Waren sie vielleicht längst wieder aufgetaucht, ohne dass Dorn etwas davon mitbekommen hatte? Kinder spielten gerne Streiche. Gelegentlich büchsten sie auch von zuhause aus.
Titus holte einmal tief Luft und stieß den Atem langsam aus. Er sollte erst einmal einen Kaffee trinken, um sich aufzuwärmen.
Als er vor der Kirche stand, konnte er beim besten Willen nicht sagen, durch welche der Gassen er auf den Platz gekommen war. Aber egal. Um seinen Rückweg zu finden, hatte er noch genug Zeit. Im schlimmsten Fall konnte er den Pfarrer fragen. Zunächst brauchte er etwas Warmes zu trinken. Er entdeckte ein Café, das sich ihm direkt gegenüber befand, und schlenderte darauf zu.
Die Glastür wurde plötzlich aufgerissen.
„Titus!“ Gregor stand am Eingang des Cafés und winkte ihm zu. „Ich hab dich gerade durch eines der Fenster gesehen.“
Er versuchte, sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen. „Ich dachte, du holst, deine Freundin ab.“
„Sie sitzt da drinnen.“
Titus zögerte. „Dann lasst euch nicht stören.“
Gregor lachte auf. „Du wirst sie sowieso kennen lernen. Wieso also nicht gleich jetzt?“
Titus suchte vergeblich nach einer Ausrede. „Da hast du auch wieder Recht.“
„Bist du den ganzen Weg hierher zu Fuß gekommen?“, wollte Gregor wissen, als mit Titus das Café betrat.
Der Duft nach Kaffee und Sahnetorten schlug ihm entgegen. „Geflogen bin ich jedenfalls nicht.“
Gregor lachte. „Eine dumme Frage, ich weiß.“
„Ich habe mit dem Pfarrer gesprochen.“
Sein Freund blieb stehen. „Du warst in der Kirche?“
„Hätte ich nicht sollen?“
„Doch, doch. Natürlich.“
„Das Gemälde …“
Gregor wies ihn mit einer flüchtigen Handbewegung an, zu schweigen. „Nicht jetzt“, flüsterte er. „Später können wir darüber reden.“ Darauf setzte er sich wieder in Bewegung.
Titus zuckte mit den Schultern und folgte ihm. Die Inneneinrichtung verblüffte durch ihr Jugendstildesign. Ein völliger Gegensatz zu dem mittelalterlichen Ambiente des Ortes.
Gregor steuerte auf einen der Tische zu, die direkt neben dem Fenster standen. Eine junge Frau saß dort und blätterte in einem Buch.
„Das ist Theresa“, stellte Gregor sie ihm vor.
Gregors Assistentin blickte auf und zeigte dabei ein entspanntes Grinsen. Sie trug einen engen braunen Pullover, der ihre Rundungen voll zur Geltung brachte. Ihr langes, blondes Haar reichte ihr bis über die Schultern. Ihr dunkler Lidschatten und ihre kirschroten Lippen erhöhten ihre attraktive Ausstrahlung.
Sie reichte Titus die Hand. „Nett, Sie kennen zu lernen, Herr Hardt.“
Titus versuchte, nicht auf ihren Busen zu schielen. „Ganz meinerseits.“ Er setzte sich. Die plötzliche Wärme, die ihn umgab, juckte auf seiner Haut. Er bestellte sich eine Tasse Kaffee.
„Keinen Kuchen?“, wunderte sich Gregor.
„Ich hasse Süßkram.“
„Gregor erwähnte, dass Sie Schriftsteller sind“, eröffnete Theresa pflichtbewusst die Konversation.
„Ich versuche damit, mein Geld zu verdienen.“
Theresa runzelte die Stirn. Seine Antwort war wohl etwas zu grob ausgefallen.
„Er ist manchmal ein bisschen griesgrämig“, schaltete sich Gregor in das Gespräch ein. „Aber man gewöhnt sich relativ schnell daran.“
Theresa lächelte wieder, wenn auch etwas verunsichert. „Sie sind erst gestern hier angekommen?“
Titus hasste solche rhetorischen Fragen. Mit Sicherheit wusste sie die Antwort schon. Wahrscheinlich hatte ihr Gregor bereits seine ganze Biographie erzählt. „Gregor lud mich ein, über Weihnachten hier zu bleiben. Allerdings frage ich mich, ob ich die Einladung inzwischen nicht bereue.“
„Oh.“
„Ich glaube, mit dem Ort stimmt etwas nicht.“
Gregor forderte ihn mit einer Geste auf, leiser zu sprechen. „Du befindest dich gerade in der Höhle des Löwen, Titus. Wieso schreist du nicht gleich deine Bedenken laut heraus, sodass alle es mithören können?“
„Also gut, ich war auf dem Friedhof“, flüsterte Titus.
„Auf dem Friedhof?“, staunte Gregor.
„Wieso nicht? Ich dachte, vielleicht würden mich die alten Gräber auf irgendeine neue Idee bringen. Aber nichts dergleichen. Stattdessen stellte ich etwas recht Sonderbares fest. Am ersten Weihnachtstag 1981 kam es hier zu mehreren Todesfällen.“
„Ist das wahr?“ Theresa betrachtete Titus erschrocken.
„Irgend so ein Typ aus dem Ort lauerte mir auf dem Friedhof auf. Ich fragte ihn, ob er wisse, was damals geschehen sei. Er sagte nur, ich solle abhauen.“
Gregor meinte: „Das Gespräch sollten wir besser zuhause weiterführen. Reden wir so lange lieber über etwas Anderes.“
„Und sieh dir einmal diese bizarren Dornen auf dem Kirchendach an …“
„Titus!“ Gregor hob warnend seinen Zeigefinger. „Wenn wir zuhause sind. Dann reden wir darüber.“
Titus zuckte mit den Achseln und trank einen Schluck Kaffee. „Was haben Sie da für ein Buch?“
Theresa klappte es zu und zeigte ihm das Cover. „Eine kulturwissenschaftliche Analyse über Dämonen und Wiedergänger.“
„Oh ha.“
„Wie Sie sicherlich bereits wissen, arbeite ich mit Gregor zusammen. Ich beschäftige mich mit den sozialen und historischen Hintergründen von Legenden und Aberglauben.“
„Vorhin sah ich im Schaufenster eines Antiquariats ganz ähnliche Bücher.“
„Ich liebe Bücher“, bemerkte Theresa erfreut. „Können wir nachher dort vorbeischauen?“
„Es hat geschlossen“, sagte Titus. „In Gregors Haus gibt es allerdings eine Bibliothek.“
„Ist das wahr?“, wandte sie sich an Titus’ Freund.
„In der Tat, meine Liebe. Ein ganzer Raum voller Bücher. Es wird eine unsere Aufgaben sein, dort nach brauchbaren Werken zu suchen.“
„Am besten, wir fangen gleich heute damit an.“
„Sie sind wirklich tüchtig“, stellte Titus fest.
Theresa strich sich verlegen eine Haarsträhne zurück. „Da müssen Sie Gregor fragen, ob ich wirklich so tüchtig bin. Die Arbeit macht mir jedenfalls Spaß. Ein stupider Bürojob wäre nichts für mich. Ich mag es, Neues hinzuzulernen. Es ist so, als würde man auf einem staubigen Dachboden in alten Kisten wühlen und dabei faszinierende Gegenstände entdecken.“
„Wie zum Beispiel Bücher über die Wilde Jagd?“
Gregor hob erneut seine Hände, um Titus dazu zu drängen, leiser zu sprechen. Doch es war bereits zu spät. Ein paar der Gäste spähten mit stechenden Augen zu ihnen herüber.
Theresa, die von alldem nichts merkte, antwortete: „Bücher, Briefe, alles mögliche. Das Thema wird zwar immer wieder erforscht, aber Gregor ist durch Zufall auf eine neue, recht eigenartige Spur gestoßen. Sie wissen, was die Wilde Jagd ist?“
Titus blieb nicht die Möglichkeit, etwas darauf zu erwidern. Im selben Moment trat eine der Kellnerinnen an ihren Tisch. Ihr erbostes Gesicht, ließ nicht gerade darauf schließen, dass sie ihnen noch Kaffee nachschenken wollte. „Ich muss Sie bitten, das Lokal umgehend zu verlassen.“
„Wir haben noch nicht einmal ausgetrunken“, bemerkte Titus und erntete dafür einen giftigen Blick.
„Es ist mir egal, ob Sie ausgetrunken haben oder nicht. Sie beunruhigen unsere Gäste.“
Titus wechselte mit Gregor und Theresa fragende Blicke. „Wegen der Wilden Jagd?“
Die Kellnerin zuckte zusammen. Ihr Gesicht lief dunkelrot an. „Ich meine es ernst damit. Gehen Sie auf der Stelle.“
Titus konnte es nicht lassen zu fragen: „Ist unsere Bestellung dafür umsonst?“
„Auf Ihr Geld verzichte ich gerne. Ich möchte lediglich, dass Sie unser Lokal sofort verlassen. Ich habe keine Ahnung, wer Sie sind oder was Sie hier wollen. Auf jeden Fall reden Sie über Dinge, von denen Sie keine Ahnung haben.“
Gregor tippte Titus leicht an den Arm. „Gehen wir lieber.“
Theresa nahm ihr Buch und steckte es in ihre Handtasche. „So etwas habe ich ja noch nie erlebt.“
Während Titus sich den Mantel anzog, sagte er: „Betrachten Sie es doch einfach aus einer anderen Perspektive. Immerhin war das Essen umsonst.“
Die Kellnerin folgte ihnen bis zum Ausgang, als wollte sie sich dadurch vergewissern, dass alle drei auch wirklich das Café verließen.
7
Das Garagentor senkte sich mit einem leisen Summen herab und verbannte das trübe Licht des Winternachmittags nach draußen. Mit einem leichten Klicken rastete das Tor ein.
Titus war froh, wieder in dem Haus zu sein, das Gregor für seine Forschungsarbeit gemietet hatte. Zum einen fühlte er sich durch seinen langen Spaziergang noch immer durchfroren, zum anderen verspürte er eine Art Erleichterung, zwischen sich und den paranoiden Bewohnern von Tiefenfall eine gewisse Distanz zu wissen.
Er trat in die Diele, zog seinen Mantel aus und hängte ihn in die Garderobe. Gregor half Theresa, ihre beiden Koffer nach oben zu tragen. Danach wollten sie sich in der Bibliothek treffen, um über ihr weiteres Vorgehen zu diskutieren. Titus glaubte nicht, dass er zu den Forschungsplänen etwas beitragen könnte, hatte sich jedoch dazu entschlossen, an dem Gespräch teilzunehmen.
Während Gregors und Theresas Schritte vom Obergeschoss widerhallten, trat Lisa aus der Küche. Sie wirkte angespannt, so als befürchtete sie schlechte Nachrichten. „Wie war Ihr Ausflug?“
„Anstrengend.“
„Ist etwas geschehen?“
Titus betrachtete Lisa nachdenklich. „Geschehen? Wir wurden aus einem Café hinausgeschmissen. Ich persönlich halte die Bewohner für geisteskrank.“
„Ich habe gesehen, wie Sie zum Friedhof gegangen sind.“
Titus nickte. „Die Gräber. Ich persönlich finde es äußerst sonderbar, dass zu Weihnachten 1981 mehrere Menschen ums Leben gekommen sind. Leider stellte ich fest, dass Ihre Eltern dort ebenfalls ihre letzte Ruhe gefunden haben. Eine Epidemie?“
Lisa drückte ihre Hände fester zusammen. „Meine Eltern und mein kleiner Bruder. Es … Es war keine Grippewelle. Hat Ihnen Gustav etwas gesagt?“
„Gustav?“
„Der Mann, mit dem Sie kurz geredet haben. Er ist der Friedhofswärter.“
Titus gab ein ironisches Lachen von sich. „Er wollte, dass ich von hier verschwinde. Anscheinend hielt er mich für einen Reporter.“
Lisa senkte betroffen ihren Blick. „Seine Art ist etwas grob. Und wie Sie wissen, mögen die meisten Leute von Tiefenfall keine Besucher.“
„Was ist mit den Gräbern?“, unterbrach Titus ihre schüchtern vorgetragenen Bemerkungen. „Was geschah damals?“
Gregor und Theresa kamen die Treppe herunter.
Lisa wandte sich wieder der Küche zu. „Haben Sie nicht bereits mitbekommen, was die Leute von Tiefenfall so sehr aufregt?“
Titus machte einen Schritt auf sie zu. „Sie wollen doch nicht behaupten, dass …?“
Doch Lisa war bereits wieder in der Küche verschwunden.
Gregor klopfte ihm auf die Schulter. „Bist du hier festgefroren? Gehen wir in die Bibliothek. Ich sage Lisa, dass sie den Kaffee dorthin bringen soll.“
Sein Freund verschwand hinter der Küchentür.
Theresa schaute sich in dem Eingangsbereich neugierig um. „Haben Sie sich dieses Gemälde schon einmal angesehen?“
„Wie bitte?“, fragte Titus.
Theresa lachte. „Sie scheinen ziemlich verwirrt zu sein. Hat Sie unser vorheriges Erlebnis so sehr mitgenommen?“
„Ich fürchte eher, dass mich etwas anderes mitgenommen hat.“
„Und das wäre?“, wollte Gregor wissen, der soeben zurück in die Diele kehrte. Mit einer lockeren Handbewegung wies er beide an, ihm zu folgen.
Sie traten durch eine Tür in eine Welt voller Bücher. Der staubige Geruch nach altem Papier beruhigte Titus ein wenig. Die dunkelbraunen Regale der Bibliothek maßen etwas mehr als zwei Meter. Die darin stehenden Bücher besaßen ein teils unbeschreiblich hohes Alter. Auf den Regalen türmten sich weitere schriftliche Werke. Durch ein Erkerfenster drang das trübgelbe Licht des Nachmittags herein. Auf dem Fenstersims lagen ebenfalls mehrere Bücher, eines davon aufgeschlagen.
Gregor hatte diese wahrscheinlich dahin getragen, um sie genauer unter die Lupe zu nehmen. Ein dicker Teppich bedeckte den Boden. Ungefähr in der Mitte des Zimmers stand ein runder Tisch, flankiert von vier eckigen Korbstühlen.
Lisa folgte ihnen mit einem Tablett, auf dem sie eine Kaffeekanne, drei Tassen und einen Keksteller balancierte. Nachdem sie alles abgestellt hatte, sagte sie: „Herr Kranz, bevor ich es vergesse. Ich werde jetzt gleich gehen. Das Abendessen ist bereits vorbereitet.“
Titus schaute instinktiv auf seine Armbanduhr. Es war kurz nach Vier.
Gregor nickte. „In Ordnung, Lisa. Dann bis morgen.“
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, verließ sie das Zimmer.
Titus schaute ihr nach und trat anschließend ans Erkerfenster. Vor ihm erstreckte sich eine weite, schneebedeckte Fläche, die nach mehreren hundert Metern an einem Wald endete. Die einsame Straße, die an dem Haus und dem Friedhof vorbeiführte, verlief in Schnörkellinien bis zur ersten Baumreihe. In größerer Entfernung schimmerten die Berge. Die Bücher vor ihm auf dem Fenstersims handelten von Aberglauben im Mittelalter, Berichten über Dämonen- und Geistererscheinungen und von ungeklärten Phänomenen, die irgendein Pater aus dem achtzehnten Jahrhundert aufgeschrieben hatte.
„Und jetzt zurück zu dir, Titus“, nahm Gregor den Faden wieder auf. „Was hat dich mitgenommen?“
Titus wandte sich um. „Das, was Lisa vorhin zu mir gesagt hat.“
„Darf man auch wissen, was sie gesagt hat?“
Titus durchquerte den Raum und blieb vor dem Cafétisch stehen. Gregor und Theresa hatten es sich in den Korbstühlen bereits bequem gemacht. „Die Nervosität, die unter den Bewohnern herrscht, wenn man sie auf gewisse Dinge anspricht oder diese direkt erwähnt. Der Begriff Wilde Jagd wird hier ziemlich ernst genommen. Unser vorheriges Erlebnis zeigt sogar, dass die Menschen in Tiefenfall Angst davor haben. Was haben die Gräber zu bedeuten? Was ist damals geschehen?“
Gregor betrachtete die volle Kaffeekanne, so als blicke er in die Glaskugel einer Wahrsagerin. „Das ist genau der Punkt, der mich dazu gebracht hat, hierher zu kommen. Das habe ich dir gestern bereits erzählt. Von den Gräbern wusste ich nichts. Wahrscheinlich hätte ich selbst auf die Idee kommen sollen, den Friedhof aufzusuchen. Es ist wichtig, dass wir in der Öffentlichkeit nicht mehr darüber reden. Die Reaktionen, die dies hervorruft, hast du bereits mitbekommen. Vielleicht sind die Bewohner paranoid. Vielleicht aber, und das bringt uns zurück auf meine Forschung, ist ihre Angst nicht ohne Grund.“
„Der Grund wäre nichts anderes als die Wilde Jagd“, erwiderte Titus.
„Was würde das deiner Meinung nach bedeuten?“
Titus stützte sich mit den Handflächen auf der Tischplatte ab. „Was das bedeuten würde, Gregor? Die Antwort darauf ist, wie du selbst weißt, völlig absurd.“
Theresa verschränkte ihre Arme. „Sie finden es absurd, dass es die Wilde Jagd tatsächlich geben könnte?“
Titus nickte. „Wer glaubt schon an ein Heer aus Dämonen, Geistern, Hexen und Untoten, das zur Weihnachtszeit durch die Lüfte zieht? Das sind Ammenmärchen. Damit können Sie kleine Kinder erschrecken.“
„Dennoch hat Sie Lisas Hinweis ein klein wenig aus der Fassung gebracht.“
Titus setzte sich. „In der Tat, es hat mich ein wenig aus der Fassung gebracht. Es bedeutet nämlich, dass die Bewohner von Tiefenfall glauben, dass es die Wilde Jagd tatsächlich gibt. Sie halten die Legenden und Erzählungen für echt.“
Gregor und Theresa schwiegen.
Titus legte zunächst ihr Schweigen dahingehend aus, dass beide nach weiteren Antworten suchten. Doch dann dämmerte es ihm zunehmend. „Einen Moment mal. Ihr beide glaubt doch nicht etwa auch an diesen Hokuspokus?“
„Glauben ist übertrieben“, erklärte Gregor. „Es ist die Intensität, mit der dieser Aberglaube in Tiefenfall herrscht. Die Angst vor einer außergewöhnlichen Bedrohung ist so stark ausgeprägt, dass man nicht anders kann, als die Meinung zu vertreten, dass die Bewohner sich tatsächlich vor etwas Ungewöhnlichem fürchten. Die Leute, die wir gestern Abend sahen, haben sicherlich nicht aus purer Lust und Laune heraus schwere Eichenstämme durch den Ort getragen. Ihr Handeln diente einem bestimmten Zweck. Dem Zweck nämlich, sie vor einer unheimlichen Gefahr zu schützen, die jederzeit über sie hereinbrechen kann. Meiner Meinung nach muss es sich um eine reale Bedrohung handeln.“
Titus erhob sich und trat zurück ans Fenster. Die menschenleere Landschaft wirkte auf ihn alles andere als beruhigend. Er drehte sich um und sagte: „Die Leute glauben, dass es in diesem Haus spukt. Ist dir bisher irgendein Geist begegnet?“