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„Nein.“
„Die Leute glauben, dass sie von einer Horde übernatürlicher Wesen bedroht werden. Bist du bereits einem von ihnen begegnet?“
Gregor seufzte. „Nein.“
„Da hast du es.“
„Sie würden keinen guten Volkskundler abgeben“, meinte Theresa.
Ihre Aussage verwirrte ihn. „Wie meinen Sie das?“
„Jede Vorstellung beruht letzten Endes auf einer realen Begebenheit. Um die Aspekte eines Brauchs verstehen zu können, muss man ihn zurück bis zu seinen Anfängen verfolgen. Sie wehren sich allerdings schon allein gegen die grundlegende Möglichkeit, dass etwas Wahres dran sein könnte.“
„Ich wehre mich nicht dagegen“, stellte Titus richtig. „Ich stelle die Theorie lediglich in Frage. Aber Sie haben Recht, als Wissenschaftler tauge ich nichts. Ein Grund, weswegen ich damals mein Studium abgebrochen habe.“
Theresa wirkte interessiert. „Sie haben studiert?“
„Ich weiß, dass sieht man mir nicht an. Es gibt auch nichts Brotloseres als Literaturwissenschaft. Die Professoren langweilten mich zudem mit ihrer Rechthaberei.“
„Brotloser als dein Fach ist Volkskunde. Das schlägt so ziemlich alles“, wandte Gregor ein. „Wenn man keine Stelle an einer Uni bekommt, ist man für den Rest seines Lebens arbeitslos. Aber zurück zu unserem eigentlichen Thema. Wie du weißt, kenne ich die Geschichte des Hauses nicht. Das heißt jedoch nicht, dass ich mich nicht umgesehen habe. Du hattest bisher noch nicht das Vergnügen, das Gebäude durch die Eingangstür zu betreten. Hättest du es gemacht, dann wären dir sieben Silberschlösser aufgefallen. Silber ist schädlich für Werwölfe.“
Gregors Ausführung wirkte nicht gerade überzeugend. „Vielleicht gibt es hier Diebe. Deswegen die Vorkehrung. Mich würde es nicht wundern, wenn die Fenster aus irgendeinem Sicherheitsglas bestünden. Das Haus liegt völlig alleine. Ich halte das für die logischere Erklärung.“ Titus’ letzter Satz blieb zunächst ohne Widerhall.
Nach einer Weile fragte Theresa: „Hat Ihnen Gregor einmal etwas über die Wilde Jagd erzählt?“
„Ein Heer aus albtraumhaften Kreaturen. Und dass es hierzu verschiedene Bräuche gibt.“
Theresa strafte Gregor mit einem tadelnden Blick. „Dann ist Ihre Einstellung natürlich zu verstehen.“
Gregor setzte zu einer Verteidigung an, doch Theresa stoppte ihn mit einer sanften Handbewegung.
„Der genaue Ursprung der Wilden Jagd verliert sich in grauer Vorzeit. Bereits in der Antike findet man Berichte über ein sonderbares Brausen in der Luft, dem schreckliche und albtraumhafte Phänomene folgen. In der Regel ist ihr Auftreten verbunden mit einer Frau, welche die Wilde Jagd anführt. Entweder handelt es sich dabei um Diana oder um Pharaildis. Manchmal tauchen auch die Namen Satia und Holda auf. In manchen Gegenden glaubt man, dass diese Frauen die Toten und Verfluchten um sich scharen. Diese Armee, die aus Wiedergängern, Werwölfen, Hexen und Dämonen besteht, bezeichnet man als ihr Gefolge. In einem Konzil, das 314 nach Christus in Ankara abgehalten wurde, wird zum ersten Mal offiziell auf diese Frauen und ihr Gefolge hingewiesen. Sie werden schlicht und ergreifend als Frauen der Nacht bezeichnet.“
Theresa war voll und ganz in ihrem Element. Ihre Augen strahlten, während sie über die bisherigen Erkenntnisse referierte, die mit diesem sonderbaren Glauben im Zusammenhang standen.
„Ist mit Diana etwa die römische Göttin gemeint?“, wunderte sich Titus.
Gregor kam Theresa zuvor. „Eher nicht. Es handelt sich dabei wahrscheinlich um eine Waldgöttin, die bis ins fünfte Jahrhundert von den Bauern angebetet wurde. Ihr Ursprung liegt in einer keltischen Gottheit namens Di Ana. Pharaildis dürfte dir bekannt sein. Sie ließ Johannes den Täufer enthaupten. Einer Legende zufolge wurde sie dazu verdammt, in den Nächten durch die Lüfte zu fliegen. Pharaildis wollte mit Johannes dem Täufer in die Kiste. Ihr Vater verbot es ihr allerdings. Als sie schließlich das Haupt des Heiligen küssen wollte, blies er ihr ins Gesicht, was dazu führte, dass sie durch eine Öffnung des Dachs hinauskatapultiert wurde. Bis heute rätseln Volkskundler, wohin es diese Hexe verschlagen hat. Über ihren weiteren Verbleib in Literatur und Folklore sucht man vergeblich und dies, obwohl sie als Mutter der Hexen bezeichnet wird. Selbst Theologen machen sich über diese Figur Gedanken, da sie im Gegensatz zu dem steht, was man als heilig verehrt. Ich war erstaunt, dass sogar der örtliche Pfarrer über diese Legende Bescheid weiß.“
„Es ist zudem unklar, ob Satia und Holda alternative Namen dieser Frau sind oder ob sie für verschiedene Persönlichkeiten stehen“, übernahm Theresa wieder das Wort. „Betrachtet man die Frauen der Nacht unabhängig von ihren Namen, so handelt es sich bei ihnen schlicht und ergreifend um einen Geist, der in Gestalt einer Frau auftritt. Manchen bringt er Glück, anderen Unglück. Daher die Riten. Die Leute schützen sich vor den nächtlichen Gestalten, indem sie über Nacht eine gewisse Anzahl an Speisen auf dem Esstisch stehen lassen. Andere verbieten ihren Kindern, abends und nachts das Haus zu verlassen. Denn mit diesem Geist kommen auch die Lamien. Dabei handelt es sich um grässliche, alte Hexen, die kleine Kinder fressen. Es gibt Berichte, dass manche von ihnen auch in die Häuser eindringen, um die Kinder zu stehlen. Wie gesagt, kommt es darauf an, die Regeln des Brauchs einzuhalten, damit so etwas nicht geschieht.“
Titus lehnte sich gegen den Fenstersims. „Das klingt schon wieder so, als würde die Wilde Jagd tatsächlich existieren.“
Gregor hob seinen rechten Zeigefinger. „Im Mittelalter war der Glaube an die Armee der Nacht so stark, dass die Kirche diesen als Bedrohung für ihre eigene Existenz betrachtete. Die Folgen muss ich dir wohl nicht nennen.“
„Inquisition?“, hakte Titus nach.
Theresa nickte. „Die Kirche versuchte, durch brutale Strafen und strenge Regeln dem Aberglauben Herr zu werden. Berthold von Regensburg mahnte in einer Predigt, dass man unter keinen Umständen an die Frauen der Nacht, an Gespenster, Kobolde, Untote und ähnliche Kreaturen glauben sollte.“
„Aber wie sollte der Glaube eingedämmt werden, wenn es immer wieder Augenzeugenberichte gab?“, fügte Gregor hinzu.
„Augenzeugenberichte?“
„Wir finden diese über das gesamte Mittelalter verstreut. Zum Beispiel berichtet ein gewisser Sulpicius Severus darüber, dass ein Kloster von einer Horde Dämonen heimgesucht wurde. Er schreibt von Schrittgeräuschen, Stimmen und Lichterscheinungen. Sein Bericht muss ungefähr 400 nach Christus erschienen sein. Im Jahr 1092 nach Christus erschien ein Bericht über die Heimsuchung der weißrussischen Stadt Polock. Es wurde notiert, dass eines Nachts plötzlich hässliche Dämonen durch die Stadt gerannt seien und jeden mitgenommen haben, der sich auf die Straße traute.“
Titus kamen nun doch wieder Zweifel. „Schön und gut. Aber diese angeblichen Augenzeugenberichte stammen aus dem Mittelalter, einer Zeit, in welcher der Aberglaube Hochkonjunktur hatte. Wie sieht es mit heutigen Berichten aus?“
Theresa und Gregor versanken abrupt in ein betretenes Schweigen.
„Dachte ich mir’s doch. Keine Spur von alldem.“
„Tiefenfall ist der einzige Ort, wo sich die Gerüchte über die Wilde Jagd aufrechterhalten haben“, sagte Gregor.
„In anderen Dörfern oder kleinen Städten gibt es lediglich noch die Percht“, meinte Theresa. „Es handelt sich dabei um eine Art Faschingsumzug. Menschen in Kostümen marschieren durch die Straßen und versuchen durch Glockenläuten und Peitschenknallen die Wintergeister zu vertreiben. Der Name ist übrigens ebenfalls ein Synonym für die Frauen der Nacht. Man spricht auch von Frau Percht oder Perchta.“
„Hinzu kommen immer wieder Warnungen vor Geistermessen“, setzte Gregor seinen Vortrag fort. „In den Rauhnächten sollte man nach Mitternacht keine Kirche aufsuchen, da dann die Toten darin ihre Messen feiern.“
„Gibt es dazu etwa auch Augenzeugenberichte?“
„Aus dem Mittelalter.“ Gregors Antwort hätte sich Titus eigentlich denken können.
„Woher sonst“, gab er zurück.
„Und dann ist da noch die Sache mit den sprechenden Tieren“, zeigte Theresa auf. Sie machte aber keineswegs einen so selbstsicheren Eindruck wie zuvor. „Also Tiere, die plötzlich beginnen …“
„Ich habe schon verstanden.“
Gregor nahm seine Brille ab und massierte sich den Nasenrücken. „Jetzt weißt du jedenfalls ungefähr, was es mit der Wilden Jagd auf sich hat.“
„Eine Horde Monster, die von einer Frau angeführt wird. Hinzu kommen Geistermessen und sprechende Tiere.“
Gregor grinste. „In einer meiner Klausuren hätte ich dir dafür eine Eins gegeben.“
„So einfach ist das also?“, gab Titus zurück.
Theresa kicherte. „Gregor ist bei seiner Benotung stets äußerst großzügig.“
Das konnte sich Titus gut vorstellen. Gut aussehende Studentinnen erhielten bei ihm mit Sicherheit auch dann gute Noten, wenn sie leere Blätter abgaben.
Gregor stand auf. „Ich weiß nicht, wie es euch geht. Aber langsam bekomme ich Hunger. Ich bin der Meinung, wir sollten hiermit unsere Diskussion beenden und lieber nachsehen, was Lisa für uns vorbereitet hat.“
„Die Idee klingt verlockend“, gab Theresa zurück. „Was meinen Sie, Herr Hardt?“
„Lisas Kochkünste lass ich mir nicht entgehen. Wilde Jagd hin oder her.“
„Mindestens beim Essen sind wir einer Meinung“, erwiderte Gregor und verließ als erster die Bibliothek.
8
Das Essen hatte seine Erwartungen bei weitem übertroffen. Lisa hatte Lammbraten mit Champignonsauce zubereitet. Dazu gab es Kartoffeln und gedünstetes Gemüse. Der Braten war auf der Zunge zergangen. Obwohl Titus Saucen nicht mochte, hatte er den Teller blitzblank gelöffelt. Sowohl die Kartoffeln als auch das Gemüse besaßen einen Geschmack, den Titus bei solch gewöhnlichen Beilagen nicht für möglich gehalten hatte. Er fand es überaus schade, dass Lisa nicht anwesend war. Ihre Kochkünste hatten ein eindeutiges Lob verdient.
Nachdem sie den Abend vor dem Kamin bei einer Tasse Kaffee hatten ausklingen lassen, hatte sich Titus wieder zurück in sein Zimmer begeben. Inzwischen zeigte die Wanduhr kurz nach zwei. Titus fühlte sich alles andere als müde. Er hatte versucht, zu lesen, doch die Buchstaben waren vor seinen Augen zu sinnlosen Mustern verschwommen. Seine Gedanken kehrten immer wieder auf das Gespräch mit dem Pfarrer zurück. Die Erinnerung an das Verhalten der Kellnerin ließ ihn nicht los.
Für ihn ergab das alles keinen Sinn. Obwohl er von Gregor und Theresa ein paar Dinge über die Wilde Jagd erfahren hatte, konnte er sich nicht vorstellen, dass es Menschen gab, die vor diesen abergläubischen Ideen wirkliche Angst empfanden. Bestand die Möglichkeit, dass es sich hierbei um eine Massenhysterie handelte? Titus war kein Psychologe, doch diese Erklärung erschien ihm näher liegend als die Angst auf das Vorhandensein übernatürlicher Wesen zurückzuführen.
Aus einem der Zimmer drang Theresas lautes Stöhnen. Gregor und seine Assistentin trieben es bereits zum dritten Mal. Alle Achtung. In dieser Hinsicht hatte er Gregor völlig unterschätzt.
Titus öffnete die Balkontür und trat hinaus. Er zog eine Zigarette aus seiner Schachtel und zündete sie an. Vielleicht verhalf ihm dies dazu, seinen Kopf leer zu bekommen. Aus der Ferne hallte auch jetzt noch das emsige Hämmern. Der Zaun schien demnach immer noch nicht fertig zu sein. Der Wind hatte zugenommen. Teils kräftige Böen wirbelten den Schnee auf. Das Licht des Vollmonds ließ die kleinsten Kristalle erkennen, die durch die Luft fegten. Die Kälte tat gut. Er schaute hinüber zum Friedhof.
Und erstarrte.
Zwei Schatten bewegten sich zwischen den Gräbern. Titus konnte es nicht schwören, aber er glaubte, dass sich die beiden Gestalten vor den Grabsteinen aufhielten, in die das Todesjahr 1981 eingraviert war. Obwohl der Mond genug Licht spendete, um einen Faden in eine hauchdünne Nadel einfädeln zu können, leuchtete einer von ihnen mit einer Taschenlampe. Sie schlichen von einem Grab zum nächsten. Vor jedem Grabstein blieben sie ein paar Minuten stehen. Es sah aus, als würde einer von ihnen etwas auf einem Schreibblock notieren. Danach zuckte das Blitzlicht eines Fotoapparats auf. Titus lehnte sich über das Geländer, um besser sehen zu können. Die Gesichter der beiden Gestalten verbargen sich in den hochgezogenen Kapuzen ihrer Daunenjacken. Wieso trieben sie sich mitten in der Nacht auf dem Friedhof herum? Wie Grabschänder sahen sie nicht aus. Ihr Verhalten erinnerte eher an das von Archäologen oder Historikern, die an einer neuen Fundstelle Daten sammelten.
Titus drückte die Zigarette aus und warf sie über den Balkon. An Schlaf war nun sowieso nicht mehr zu denken. Er ging zurück ins Zimmer, schloss die Glastür und lief hinunter in die Eingangshalle. Dort griff er sich seinen Mantel und verließ das Haus. Er wusste selbst nicht, aus welchem Grund er sich plötzlich in diese Angelegenheit hineinsteigerte. Er war nach Tiefenfall gekommen, in der Hoffnung, einen schriftstellerischen Neuanfang zu starten, und nicht, um sich mit nächtlichen Herumtreibern, abergläubischen Alpenbewohnern und den gewagten Theorien seines Freundes herumzuplagen.
Vielleicht bewirkte ja auch Lisas Essen seinen ungewohnten Tatendrang. Wenn er es genau bedachte, fühlte er sich nach jedem Verzehr ihrer Kochkünste regelrecht aufgemuntert. So kannte er sich gar nicht. Essen hatte bisher auf ihn noch nie eine psychische Auswirkung gehabt. Wie dem auch sei. Er hatte sich plötzlich in den Kopf gesetzt, zu ergründen, was auf dem Friedhof vor sich ging.
Der Schnee knirschte unter seinen Füßen. Zusammen mit dem Hämmern, das kontinuierlich durch die Nacht hallte, ergab sich daraus ein ungewöhnlicher Rhythmus. Er schaute zwischen den Gitterstäben des Friedhofstors hindurch, um zu ermitteln, wo sich die beiden Personen aufhielten. Enttäuscht stellte er fest, dass er sie nirgendwo sah.
Er öffnete das Tor.
Der Friedhof lag still und friedlich vor ihm. Keine Schatten huschten zwischen den Gräbern umher. Hatten die beiden Besucher ihn bemerkt und sich aus dem Staub gemacht? Das Geräusch, das seine Schuhe im Schnee verursachten, war laut genug gewesen, um sie vor seiner Ankunft zu warnen.
Titus ging an den Grabsteinen vorbei, bis er zu der Reihe aus dem Jahr 1981. Der Schnee wies an dieser Stelle mehrere Spuren auf. Er erkannte die Abdrücke schwerer Schuhe und schmaler Stiefel. Ein Mann und eine Frau?
Aus der Kapelle drang auf einmal ein gedämpftes Niesen. Soviel zum Thema Versteckkunst. Titus schritt auf das schiefe Tor zu, an dem der eisige Wind rüttelte.
„Ist da jemand?“ Eine tiefe Stille folgte seiner Frage.
Er legte seine rechte Handfläche gegen die Tür und drückte sie auf. Die untere Kante schabte über den grauen Steinboden. Das Licht des Mondes fiel schräg in den Eingangsbereich. „Sind Sie hier drin?“
Die Bewegung eines Armes lenkte seine Aufmerksamkeit auf sich. Plötzlich blendete ihn das grelle Licht einer Taschenlampe. Schritte hinter ihm. Etwas Hartes knallte gegen seinen Hinterkopf. Dann fühlte er nichts mehr.
Mit heftigen Kopfschmerzen kam Titus wieder zu sich. Ihn fröstelte. Der Geruch nach feuchtem Holz und altem Gemäuer drang in seine Nase. Das Mondlicht sickerte in schmalen Streifen durch die Türritzen.
Er lag ausgestreckt auf einer der Holzbänke. Vorsichtig richtete er sich auf. Die Schmerzen in seinem Kopf nahmen zu. Mit was hatte dieser Jemand auf ihn eingeschlagen? Mit einer Stahlstange?
Die Antwort darauf konnte warten. Was er benötigte, war eine Tasse heißen Kaffee, um sich aufzuwärmen. Die Kälte war tief in seinen Körper eingedrungen. Arme und Beine fühlten sich starr an. Er rieb an seinen Gelenken, um sie wieder einigermaßen bewegen zu können.
Er tastete sich die Kirchenbank entlang. Kaum hatte er das Ende der Bank erreicht, als er ein seltsames Gurgeln vernahm. Dem folgte ein gespenstisches Ächzen.
„Bist du das?“, ertönte eine raue Stimme.
Titus blieb mucksmäuschenstill.
„Bist du das, Lisa?“
Er blieb wie festgewurzelt am Ende der Bank stehen. Wer war dieser Mensch? Einer der beiden Friedhofsbesucher? Das Mondlicht reichte nicht dazu aus, um die gesamte Kapelle in Augenschein zu nehmen. Titus sah sich einem undurchdringlichen Schatten gegenüber.
„Du bist es doch, Lisa. Nicht wahr? Ich kann dich doch riechen.“
Ein Verrückter? Die Stimme hatte etwas Bedrohliches an sich. Schlurfende Schritte bewegten sich direkt in seine Richtung.
„Du bist es, Lisa. Nicht wahr?“, wiederholte der Mann.
Titus wich zurück. In seiner Aufregung hatte er völlig die Orientierung verloren. Was wollte dieser Mann von ihm? Wieso hielt er ihn für Lisa?
Sein Rücken berührte die Wand der Kapelle. Die Schritte kamen näher.
„Lisa? Du bist es doch, nicht wahr?“
Titus brachte keinen Laut hervor. Vermutlich hätte es überhaupt nichts gebracht, die Vermutung des Mannes zu dementieren. Der Stimme zufolge war dieser entweder völlig betrunken oder wahnsinnig.
„Lisa?“
Die Schritte hörten nur wenige Zentimeter vor ihm auf. Danach herrschte Stille. Trotzdem verspürte Titus weiterhin die Präsenz des Unbekannten. Aus welchem Grund bewegte er sich nicht mehr?
Vorsichtig griff Titus in seine Manteltasche. Seine Hand umfasste das Feuerzeug, das ihm vor langer Zeit seine Muse geschenkt hatte. Es besaß die Form eines Kugelschreibers, und Elvira hatte es ihm zum Erfolg eines seiner Bücher gegeben. Er zog seine Hand behutsam wieder heraus und streckte sie in Kopfhöhe von sich, sodass sein Arm weiterhin angewinkelt blieb. Mit dem Daumen betätigte er den Zünder. Kleine Funken sprühten. Als die Flamme seine Umgebung erhellte, hätte er vor Schreck das Feuerzeug beinahe fallen gelassen.
Titus blickte in das verzerrte Gesicht eines Mannes, dessen Augen wie milchigweiße Marmorkugeln auf ihn starrten. Aus seinem offenen Mund ragten verfaulte Zahnstummel.
„Lisa?“
Er stieß den Mann von sich und sprang auf die Tür zu. Riss sie auf und rannte über den Friedhof. Er wagte nicht, zurückzuschauen. Das entstellte Gesicht des Mannes hatte etwas Grauenhaftes an sich. Er schlüpfte durch das Eisentor, hetzte über die Straße und warf sich wie ein erschöpfter Marathonläufer gegen die Haustür. Natürlich hatte er keinen Schlüssel dabei. Hektisch betätigte er die Klingel und klopfte gleichzeitig gegen die Tür. Er spürte, wie sich ihm die Nackenhaare aufstellten. War ihm der Mann etwa gefolgt? Stand er gerade hinter ihm? Titus wagte nicht, sich umzudrehen. Er klingelte und klopfte unermüdlich weiter. Wieso brauchte Gregor so lange? Trieb er es bereits zum vierten Mal? Endlich wurde die Tür geöffnet. Titus sprang hindurch, warf sie hinter sich zu und schob die sieben Riegel vor.
9
Titus lehnte sich mit seinem Rücken gegen die Tür, wie wenn er dadurch verhindern wollte, dass der unheimliche Mann sie auframmte. Sein Atem ging stakkatoartig. Noch immer schmerzte sein Kopf. Hinzu kamen ein intensives Frösteln und ein rasender Herzschlag.
Gregor betrachtete ihn verwirrt und mürrisch zugleich.
Theresa stand auf der untersten Treppenstufe. Wie Gregor trug sie einen Bademantel. Ob sie darunter nackt war, konnte Titus nicht erkennen. Aber das spielte für ihn gerade wirklich keine Rolle. Ihre Miene zeigte weniger Verärgerung als vielmehr Sorge.
„Es ist vier Uhr früh!“, wies Gregor ihn empört darauf hin.
„Was ist passiert?“, fragte Theresa besorgt.
Unter Titus’ Schuhsohlen bildete sich eine Pfütze aus Schmelzwasser. „Ich habe zwei Typen auf dem Friedhof gesehen. Sie betrachteten sich die Gräber von den Leuten, die im Winter einundachtzig gestorben sind.“
„Und da hat Titus Hardt ein wenig Detektiv spielen wollen.“ Gregors Ironie war nicht zu überhören.
„Die Typen haben mir eins übergezogen.“
„Sie wurden geschlagen?“, rief Theresa erschrocken. „Gregor, was stehst du hier noch rum? Wir müssen uns um ihn kümmern!“
Eine solche Initiativbereitschaft hatte Titus gar nicht von ihr erwartet.
„Wie du siehst, lebt er ja noch.“
„Ich brauche erst einmal etwas Warmes“, entgegnete Titus.
Als er mit einer Tasse Instantkaffee in der Küche auf einem der dunklen Holzstühle saß, fühlte er sich schon etwas besser. Normalerweise mochte er dieses Gebräu nicht, da es ihm Sodbrennen verursachte. Aber dieses Mal machte er eine Ausnahme. Es erwärmte ihn und er musste nicht warten, bis der Kaffee durch den Filter getropft war.
Theresa und Gregor saßen ihm gegenüber. Theresas Bademantel hatte sich ein klein wenig gelockert. Sie war nackt darunter. Beide tranken ebenfalls Kaffee.
„Du wurdest von den beiden Typen tatsächlich niedergeschlagen?“, fragte Gregor auf eine Weise, als hätte er erst jetzt Titus’ Bericht verstanden. Immerhin war seine schlechte Laune verflogen. Er zeigte auf einmal sichtbares Interesse.
Titus ließ seinen Blick durch die Küche schweifen. Herd und Arbeitsfläche bildeten in der Mitte des Raumes eine Insel. Von dem Rauchabzug, der darüber wie der Saugrüssel einer außerirdischen Maschine schwebte, hingen diverse Töpfe und Pfannen. An den Wänden standen Geschirr- und Vorratsschränke. Fast alle Möbel wiesen ein tiefes Rot auf. Der eckige Esstisch, an dem sie saßen, stand direkt vor dem Fenster. Lisas Welt, dachte Titus. Er wusste nicht einmal, ob sie eine ausgebildete Köchin war oder sie sich ihre Kochkünste selbst angeeignet hatte. Er wusste fast gar nichts über sie. Was hatte sie mit jenem Mann zu schaffen, der ihn mit seinen blinden Augen angestarrt hatte?
„Titus?“ Gregor rüttelte ihn am Arm.
„Die Typen haben mir irgendetwas auf den Kopf geschlagen“, antwortete er schließlich. „Aber das ist noch nicht das Schlimmste.“
„Noch nicht das Schlimmste?“ Theresa betrachtete ihn erstaunt. „Man hat Sie niedergeschlagen und das bezeichnen Sie nicht als schlimm?“
„Im Gegensatz zu dem, was danach geschehen ist, auf jeden Fall. Als ich wieder zu mir kam, lag ich in der Kapelle auf einer der Bänke. Aber ich war nicht allein. Ein eigenartiger Mann kam auf mich zu. Ob du es glaubst oder nicht, er hielt mich für Lisa.“
Gregor kicherte. „Gib’s zu, du trägst Damenunterwäsche.“
Theresa stieß ihn mit ihrem Ellenbogen in die Seite. „Das ist nicht witzig, Gregor. Es ist … unheimlich.“
„Ihr hättet den Mann sehen sollen. Seine Augen waren völlig weiß …“ Auf einmal legte er eine Pause ein. Dann sagte er: „Wenn ich es mir genau überlege, sah er aus wi, als wäre er soeben aus einem Grab gestiegen.“
„Und er hielt dich für Lisa?“
„Er sagte ständig, Du bist es, Lisa, nicht wahr?“
Theresa zog ihren Bademantel enger um sich. „Das klingt wie eine dieser urbanen Legenden, die an Unis und Schulen erzählt werden.“
„Für mich klingt das eher wie nach einem Verrückten, der in der Kapelle übernachten wollte“, gab Gregor zurück.
„Wer er auch immer ist, er kennt Lisa“, erwiderte Titus. „Seinem Tonfall nach zu urteilen, scheint er nicht wirklich Sympathien für sie zu empfinden.“ Er trank die restliche Tasse in einem Zug leer. Der Kaffee begann zunehmend, seinen Körper zu erwärmen.
Gregor wirkte gelangweilt. „Walter Dorn sagte mir, Lisa sei eine Außenseiterin. Es ist also kein Wunder, dass niemand sie gerne hat.“
„Trotzdem erklärt es nicht, wer dieser Mann ist.“
„Interessiert es dich so sehr?“, zog Gregor ihn auf.
„Ob es mich interessiert? Der Typ sah alles andere als harmlos aus. Wenn ich nicht abgehauen wäre, hätte er mich vielleicht umgebracht.“
„Sollen wir nicht einmal nachsehen, ob er sich dort noch aufhält?“, schlug Theresa vor.
„Es ist vier Uhr“, wiederholte Gregor seine Worte, die er bereits Titus gegenüber geäußert hatte. Viel Sinn ergaben sie in diesem Zusammenhang allerdings nicht.
„Vielleicht ist er mir gefolgt“, gab Titus zu bedenken. „Wenn er nicht ins Haus kann, dann versteckt er sich jetzt weiß Gott wo. Am liebsten hätte ich jetzt ein heißes Bad und dazu ein Glas Brandy. Ich fühle mich wie ein durchfrorener Hund. Würde mich nicht wundern, wenn mein nächtlicher Ausflug mit einer Grippe endet.“
„Und was ist mit den beiden Kerlen, die Ihnen eins übergezogen haben?“, empörte sich Theresa. „Sie müssen das der Polizei melden.“