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Erst jetzt fing er an über den Abend nachzudenken, an dem der widerliche Film von Charlene entstanden war. Es war ein ganz normales Geschäftsessen mit einem Großkunden, die Verhandlungen liefen glatt. Er hatte wie immer ein Viertel vom Rotwein getrunken und sich aus der Grappa-Runde ausgeklinkt. Dann schlug Charlene vor, noch gemeinsam in die Bar zu gehen. Eigentlich war ihm nicht danach, aber Charlene meinte, es sei ein schöner Abschluss des erfolgreichen Tages. Die beiden anderen Herren sahen das genauso.
Dort war es jedoch so voll, dass er herumjammerte: „Wie lange soll das denn dauern, bis man hier mal was zum Trinken bekommt?“
„Kein Problem, ihr entspannt euch und ich besorge was“, schlug Charlene zuckersüß vor.
Also ließ er sie gewähren – er wollte kein Spielverderber sein und sie hatte ja recht. Es war weder sonderlich spät noch war die Stimmung angespannt. Alle waren locker drauf und so versuchte auch er sich zu entspannen und nahm sich vor, noch ein oder zwei Cocktails zu genießen.
Ganz schnell fühlte er sich dann betrunken – die Dinger hatten es in sich. Die schienen aus purem Alkohol zu bestehen. Es wurde ihm immer schwindliger und schließlich meinte er, auf Wolken zu gehen. Erinnern konnte er sich noch daran, dass er wohl irgendetwas Unpassendes gesagt haben musste, weil Charlene ihn dann unterhakte und sie sich urplötzlich verabschiedeten. Von da an wurde seine Erinnerung sehr bruchstückhaft und ab dem Moment, in dem Charlene das Zimmer für ihn öffnete, weil er schon nicht einmal mehr die Karte in seinem Jackett fand, fehlte sie komplett. Sie musste ihm irgendetwas ins Getränk gemischt haben, denn nur von der Menge Alkohol war so ein Zustand ja wohl nicht möglich. Ein Filmriss – ein kompletter Filmriss. Er konnte sich an gar nichts mehr erinnern, außer an den Morgen danach. Als er aufwachte, war ihm schrecklich übel, sodass er sich laufend übergeben musste. Es dauerte Stunden, bis sie sich endlich auf den Weg machen konnten. Dieser Zustand hielt auch noch gute zwei Tage an. Was war das nur für ein Zeug, das er da zu sich genommen hatte? Damals war er sich sicher gewesen, dass er einfach nur zu viel getrunken und sich zusätzlich einen Virus eingefangen hatte! Er hatte auch nicht weiter darüber nachgedacht.
Jetzt saß er in seinem Auto und wartete angespannt auf den Moment, an dem Joy aus der Schule kommen würde. Er hatte sich gut positioniert, sodass er sie auf keinen Fall verpassen konnte. Er rechnete mit Widerstand und bösen Worten, einfach mit allem Möglichen. Wie sollte es anders sein – er wusste auch immer noch nicht richtig, was er sagen sollte. Er wollte einfach diesen Augenblick, ihr wieder in die Augen zu sehen und sich zu entschuldigen, hinter sich bringen.
Unzählige Schüler strömten aus dem Gebäude, Jens hatte große Mühe, den Blick konzentriert auf den Ausgang zu richten. Die Übelkeit war noch unbeschreiblich und die Kopfschmerzen ließen es kaum zu, klaren zu sehen. Der Strom ließ nach, es kamen nur noch vereinzelt Schüler und dann keine mehr. Er musste sie übersehen haben. Also beschloss er, zu ihr nach Hause zu fahren und vor dem Wohnhaus zu warten. Bis sie heimgeradelt war, würde er schon lange dort auf sie warten.
Nach einer ganzen Stunde gab er schließlich auf und fuhr nach Hause. Schon vor der Haustür hörte er das Telefon klingeln und hatte große Mühe, das Schlüsselloch zu treffen, aber er schaffte es noch, den Hörer rechtzeitig abzunehmen. Allerdings hörte er nicht wie erhofft Joys Stimme, sondern die ihrer Mutter! Und die war alles andere als freundlich.
„Ihr habt doch selbst drei Kinder, warum versucht ihr mir mein einziges wegzunehmen. Klar fühlt sie sich in eurem Paradies wohler als in unserer engen Zweizimmerwohnung. Ich hab ja auch nichts dagegen, dass sie den größten Teil ihres Lebens bei euch verbringt. Aber heute Mittag habe ich frei und wir hatten besprochen, dass sie gleich nach der Schule heimkommt und wir uns eine schöne Zeit in der Stadt machen. Was habt ihr wieder für ein aufregendes Alternativprogramm geboten, dass sie es vorzieht, bei euch zu bleiben?“
Jens wurde noch übler. Joy war nicht zu Hause! Sie war auch nicht in der Schule! Sie ging nicht an ihr Handy! Was hatte er mit ihr gemacht? Hatte er sie irgendwo eingesperrt? Nein, jetzt musste er zuerst Clara einfühlsam erklären, dass Joy nicht bei ihnen war. Er erzählte von den Vorkommnissen mit Margot und dem panischen Aufbruch seiner Familie. Er berichtete auch, dass Magdalena versucht hatte, Joy auf ihrem Handy zu erreichen.
Clara schluckte und stotterte dann: „Ich erreiche sie auch nicht. Aber ich habe sie doch bei euch abgeliefert! Allerdings bin ich gleich losgefahren, weil ich eh schon so spät war. Ich habe also nicht gesehen, ob sie ins Haus gegangen ist. Entschuldigung, weil ich dich so angegangen bin.“
Jens schämte sich. „Macht doch nichts, Clara. Jetzt mach ich mir aber auch Sorgen.“ Wie er sich verstellen und lügen konnte – ekelhaft! Er widerte sich selbst an. Wie tief war er gesunken. Wie konnte ich nur so viel Alkohol in mich hineinschütten? Ich weiß doch ganz genau, was er mit mir macht – besser gesagt, aus mir macht!
„Vielleicht ist sie zu Lars, ihrem Freund. Der wohnt ja gleich um die Ecke bei euch!“
„Ich geh nachschauen“, sagte Jens hastig. „Ich kenne die Familie gut. Ich melde mich gleich wieder bei dir.“
Wie von der Tarantel gestochen rannte Jens los. Gerade als er am Haus der Jörgensens ankam, schob Lars sein Fahrrad aus der Garage und grüßte ihn freundlich. Lars war ein sehr gut aussehender Junge und Jens wusste, dass Magdalena sehr in ihn verliebt war. Aber Lars hatte wohl nur Augen für Joy, was die Freundschaft eine Zeit lang sehr belastet hatte. Aber Magdalena schien sich damit abgefunden zu haben, denn Joy war ihr sehr wichtig und bevor sie ihre allerbeste Freundin verlor, verzichtete sie lieber auf den Schönling.
„He Lars, weißt du, wo Joy ist? Ihre Mutter sucht sie verzweifelt.“
„Ich auch! Sie war nicht in der Schule, auf meine Nachrichten antwortet sie nicht! Keine Ahnung, wo sie steckt, und nein, wir hatten keinen Streit! Das wäre doch die nächste Frage gewesen!“
Der letzte Hoffnungsschimmer! Aus und vorbei! Wenn Lars nicht wusste, wo Joy war, dann … Was sollte er jetzt machen? Sollte er die Wahrheit erzählen und sich der Sache stellen? Allerdings müsste er dann einen Strich unter seine Ehe ziehen, vermutlich auch als Vater seiner Kinder. Er wäre einfach nur noch ein Monster für sie. Sie würden sicher nichts mehr mit ihm zu tun haben wollen. Vielleicht gab es ja doch noch einen anderen Weg. Er beschloss, mit seinem Geständnis zu warten, bis Joy wieder auftauchte, und wenn er es nicht schaffte, mit ihr eine Einigung zu finden, dann blieb ihm nichts anderes übrig, als in den sauren Apfel zu beißen. Aber einen winzigen Hoffnungsschimmer hatte er noch, dass Joy all die schönen Jahre, in denen er sie wie eine Tochter behandelt hatte, nicht ganz vergessen würde.
Jens machte sich auf den Heimweg und rief währenddessen Clara an, um ihr von dem Gespräch mit Lars zu berichten.
„Ich gehe jetzt zur Polizei“, schniefte Clara.
„Das wird aber nichts bringen, erst wenn sie mindestens vierundzwanzig Stunden vermisst wird, starten die eine Suchaktion. Es verschwinden täglich Jugendliche, die dann unversehrt wiederauftauchen!“
„Es passt aber gar nicht zu Joy, einfach zu verschwinden, und das weißt du genauso gut wie ich!“
Das stimmte allerdings, das würde Joy nicht machen, auch nicht wegen des größten Streits. Schon deshalb nicht, weil sie ihrer Mutter keine Sorgen bereiten wollte. Sie wusste genau, wie sehr sich diese für sie aufopferte. Er musste Clara handeln lassen, schon deswegen, weil er sich nicht verdächtig machen wollte.
Erst zu Hause wurde ihm klar, dass die Polizei dann ja sofort hierherkommen würde, weil sein Grundstück der letzte sichere Aufenthaltsort war. Er wurde panisch! Er musste sofort alle Spuren beseitigen und alle Räume prüfen, ob er sie nicht irgendwo in seinem Suff geknebelt hatte. Verdammt, wie hatte er sich nur so betrinken können, dass er nicht mehr wusste, was genau passiert war? Noch hatte er große Hoffnung, dass Joy wiederauftauchen würde und er die Angelegenheit mit ihr regeln konnte.
Zuerst durchsuchte er das ganze Haus – Joy war nirgendwo und auch sonst nichts, was auf sie hindeutete. Ihr Glas vom Vorabend spülte er ganz gründlich von Hand. Es schien ihm, als ob das Glas seine Finger verbrennen würde. Andere Spuren von Joy in seinem Haus waren ja so selbstverständlich, dass er sich da sicher keine Sorgen zu machen brauchte. Jetzt konnte er nur noch warten, bis die Polizei erschien.
Vorher musste er sich aber hinlegen, seine körperliche Verfassung war eine Katastrophe. Er konnte kaum stehen, in seinem Kopf wurde ein Tennismatch ausgefochten – sehr wahrscheinlich von der Weltspitze, bei diesen harten Aufschlägen –, sein Magen fuhr permanent Achterbahn und tun konnte er sowieso nichts. Es fiel ihm nichts Vernünftiges ein, weil er ja eigentlich auch nicht in der Lage war zu denken. Immerhin kam ihm in den Sinn, sich bei Celine zu melden, damit sie keinesfalls im Büro anrief. Wieder gab er den „Gestressten“, sodass sie ihn nicht lange aufhalten wollte.
Dann begab sich Jens in die Horizontale. Es schüttelte ihn vor Ekel vor sich selbst, weil ihm einfiel, was gestern Abend hier auf diesem Sofa passiert war. „Ich bin so ein ekelhaftes Schwein – so ein Dreckskerl …“ Viel weiter kam er nicht, denn schon kurz darauf schlief er ein.
Jens lief ganz gemütlich durch einen wunderschönen Wald, der fast an sein Grundstück grenzte. Die Vögel pfiffen, die Sonne bahnte sich ihren Weg durch die Baumkronen und malte wunderschöne Bilder auf den Waldboden. Jens liebte den Waldgeruch und atmete tief ein. Hier in diesem Wald war er so gut wie zu Hause – hier joggte er regelmäßig – hier konnte er mit seinem geliebten Hund Max bei einem schönen, einsamen Spaziergang Kraft schöpfen und hier waren ihm schon die besten Ideen gekommen. Ihm war danach, sich bei diesem kleinen Waldstückchen einmal zu bedanken, für all die gute Energie und für dieses heimelige Gefühl. Jetzt musste er lächeln, weil er dachte, das könnte die Vorstufe vor dem Verrücktwerden sein – sich bei einem Stückchen Wald zu bedanken. Dabei richtete er seinen Blick zuerst gen Himmel und sagte laut „Danke“, dann sah er auf den Boden. Gerade wollte er schmunzelnd noch einmal „Danke“ sagen, doch das Wort blieb ihm im Hals stecken. Was er da sah, verschlug ihm den Atem. Aus einem hohen Laubberg schaute eine Hand heraus. Am Ringfinger dieser Hand steckte ein wunderschöner Ring, den er nur allzu gut kannte – es war der Ring, den seine Familie Joy zu ihrer Konfirmation vor zwei Jahren geschenkt hatte. Sie trug ihn immer und passte sehr auf ihn auf. Jens spürte, wie der Boden unter seinen Füßen anfing sich zu bewegen – es schaukelte zuerst langsam, dann immer schneller. Er begann zu schwitzen, ihm wurde so schlecht wie noch nie in seinem Leben!
„So hast du also das Problem beseitigt, du elendes Schwein!“, schrie er sich selbst an. „Ich bin nicht nur ein unbeherrschter Säufer, ein Dummkopf, der sich von einem klugen Blondchen reinlegen lässt, nicht nur ein Vergewaltiger, nein, ich bin auch ein feiger Mörder!“
Jens’ Panik war unbeschreiblich – ich habe Joy getötet. Mein Leben ist gelaufen, alles kaputt! Nicht nur meines – viel schlimmer, auch das meiner Familie! Nein, nein, nein, das darf nicht sein. Das kann ich nicht zulassen. Ich muss Joys Körper endgültig beseitigen.
Wie sollte er mit dieser Schuld weiterleben? Er musste es einfach … für seine Familie. Die konnte schließlich nichts für das, was er angerichtet hatte. Es musste ihm gelingen, alle Spuren zu beseitigen. Immer wieder hört man von Fällen, die nie aufgeklärt werden. Er musste nur gründlich nachdenken und vor allem schnell sein. Die Polizei würde sicher bald vor seiner Türe stehen! Wie aber sollte er Joy am helllichten Tag aus diesem Wald heraustragen? Der Wald wurde von vielen Hundebesitzern zum Gassigehen benutzt. Es konnte nicht allzu lange dauern, bis bei diesem herrlichen Wetter jemand auftauchte. Es blieb Jens nichts anderes übrig, als die Leiche weit weg vom Weg zu ziehen und so gut wie möglich zu verstecken. In der Hoffnung, dass keiner von diesen Kötern sie erschnuppern würde. Schnell erledigte er vor Schweiß triefend und zitternd sein Vorhaben und rannte nach Hause.
Als es endlich dunkel wurde, wollte er los, um seinen währenddessen geschmiedeten Plan, Joy in einen Sack zu packen und in dem nahe gelegenen See zu versenken, in die Tat umzusetzen. Dann aber schien ihm der See keine gute Idee zu sein, denn die würden sicher auch dort nach ihr suchen. Er wollte, dass es keine einzige Spur mehr von Joys Körper auf diesem Planeten gab. Er wollte sein altes, perfektes Leben wiederhaben. Er konnte nicht ändern, was er angerichtet hatte, aber er konnte Unheil von seiner Familie fernhalten. Also beschloss er, Joy zu verbrennen. Dazu fuhr er auf einen entlegenen Grillplatz, wo sie schon oft hingewandert waren, um sich einen schönen Tag zu machen. Zuerst wollte er prüfen, ob sich jemand dort aufhielt, denn manchmal übernachteten hier auch Menschen, so wie sie es oftmals getan hatten. Nein, es war niemand vor Ort – es herrschte Totenstille. Und wenn jetzt niemand da war, würde auch sicher keiner mehr kommen.
Also raste Jens wieder nach Hause beziehungsweise in den Wald und verfrachtete Joy in seinen Kofferraum – alles ging gut. Keine Menschenseele begegnete ihm und er wunderte sich, wie eiskalt und ruhig er plötzlich war. Wie eine Marionette setzte er seinen Plan in die Tat um. Was er mit den Knochen machen sollte, wusste er noch nicht so genau. Wahrscheinlich würde er sie am Sonntag auf dem Weg nach Wiesbaden entsorgen. Bis dahin brauchte er aber ein geniales Versteck.
Am Grillplatz angekommen, machte er ein Feuer und war froh, dass Joy in dem Sack verpackt war, sodass er sie nicht anschauen musste, wenn er sie ins Feuer warf. Er war überrascht, wie cool er das Ganze managte. So schnell gewöhnt man sich also ans Morden? Mit Schwung hievte er den Sack aus dem Auto und warf ihn sich über die Schulter. Am Feuer angekommen, warf er den Sack, ohne ein komisches Gefühl zu haben, als ob er einfach nur eine normale Wurst zu grillen gedachte, ins Feuer.
Urplötzlich hörte er eine Stimme, die Stimme seiner Schwiegermutter Margot: „Du warst für mich der weltbeste Schwiegersohn, den man sich nur wünschen kann – wie kannst du so was tun, Jens?“
„Ich dachte, ich sei die glücklichste Ehefrau auf dieser Erde, weil ich dich zum Ehemann habe, Jens – aber du hast mir die ganze Zeit was vorgespielt. Du bist in Wirklichkeit ein böses Monster.“
„Papa, was machst du da?“ Das war Magdalenas Stimme. „Das bist nicht du – mein cooler Papa! Das ist ein böser Mörder, der hier steht und so was tut!“
Alle starrten ihn aus riesengroßen Augen an. Es war ein unglaublicher Augenblick für Jens – alle Menschen, die er von ganzem Herzen liebte, und Menschen, vor die er sich jederzeit werfen würde, um sie zu beschützen, standen da und sahen in so verzweifelt und maßlos enttäuscht an, dass es ihm das Herz in der Brust zerquetschte – der Anblick der Gesichter seiner Liebsten verursachte eine unbeschreibliche Atemnot. Es war die Höchststrafe! Aber wo kamen sie her? Margot lag doch im Krankenhaus – wie konnte sie hier stehen?
Plötzlich klingelte es … ganz weit weg! Jens verspürte einen enormen Ruck in seinem Körper und dann einen stechenden Schmerz in seiner Schulter. Vorsichtig öffnete er die Augen und fand sich auf dem Boden vor dem Sofa in seinem vertrauten Wohnzimmer wieder. Es war ein Traum! Es war wirklich nur ein Traum – aber so echt! So unglaublich echt! Die Bilder, die Gefühle, die Gerüche, das Gewicht der Leiche, die Gesichter – das war alles so realistisch! Aber es war nur ein Traum! Gott sei Dank. Hoffentlich blieb er das auch!
Aber das Klingeln, das war echt … Jens versuchte aufzustehen, was allerdings schwierig war. Sein Körper versagte ihm den Dienst. Es war schier unmöglich, den Kopf hochzunehmen. Dieser Traum war das reinste Martyrium – was, wenn er die Wahrheit war? Das Telefon, er musste das Telefon abnehmen! Irgendwie erreichte er es noch rechtzeitig.
„Ich konnte die Polizei davon überzeugen, die Suche zu starten! Sie werden vor deinem Haus beginnen. Ich habe ihnen erzählt, dass ich Joy da abgesetzt habe und du nicht zu Hause warst. Hat sie sich bei Magdalena auch nicht mehr gemeldet?“
„Nicht, dass ich wüsste, das hätte sie mir sicher erzählt! Hältst du mich bitte auf dem Laufenden?
„Ja, mach ich“, sagte Clara in einem Ton, der Jens das Herz brach. Diese Frau hatte weiß Gott schon ein unglaublich schweres Leben zu meistern. Was er ihr jetzt noch angetan hatte, raubte ihr sicher den letzten Rest Lebensfreude und Lebensmut. Das Mädchen war ihr Ein und Alles – ihr Lebensinhalt, ihr Grund zu leben und jeden Tag zu kämpfen, damit ihrem Kind eine bessere Zukunft ermöglicht wurde. Es gab nichts anderes in Claras Leben, das zählte, das Sinn machte oder wofür es sich lohnte, sich jeden Tag aufs Neue anzustrengen! Das wusste Jens nur zu gut und deswegen lastete die Schuld noch schwerer auf ihm.
Jetzt musste die Polizei doch gleich klingeln. Er hörte schon viele Stimmen vor dem Haus, wollte sich aber noch ein bisschen zurechtmachen – er musste wie ein Gespenst aussehen. Und ja, er erschrak selber fürchterlich vor seinem Spiegelbild. So hatte er sich selbst noch nie gesehen – völlig entstellt! Ein Fremder starrte ihn an! Das gab es doch nicht – er rief sich in Erinnerung, wie er ausgesehen hatte, bevor er sich vom Friseur auf den Weg zu seinem großen Auftritt im Geschäft gemacht hatte. Er dankte dem lieben Gott für das große Geschenk, das er allein mit seinem Aussehen und seiner Ausstrahlung mit auf seinen Lebensweg bekommen hatte. Dass er zusätzlich auch noch mit einem sogenannten „guten Herz“, Einfühlungsvermögen und mit einem extrem hohen Maß an sozialer Kompetenz ausgestattet war – dafür war Jens wirklich wahnsinnig dankbar. Es war ihm vollkommen bewusst, dass das alles Gottes Gaben waren – ein großes Geschenk der Natur, denn er kannte nur sehr wenige Menschen, die das Glück hatten, mit all diesen Komponenten ausgestattet zu sein. Ja, das dachte er wirklich an dem Morgen voller tiefer Demut und Dankbarkeit.
Er wusch sich und kämmte sich, zog neue Kleidung an. Zu mehr war er nicht in der Lage und wollte es auch nicht. Also ging er wieder ins Erdgeschoss und wartete, dass die Polizei ihn verhören würde. Er wartete und wartete … Sie sollten endlich klingeln, dass er es hinter sich bringen konnte. Aber es passierte nichts – die Stimmen wurden leiser und verstummten schließlich ganz. Jens traute sich an das Fenster, von dem man auf den Eingangsbereich schauen konnte. Da war keiner mehr. Wie konnte das sein? Die Beamten hatten sich wohl kaum mit der Aussage, dass niemand zu Hause war, zufriedengegeben. Sie mussten doch trotzdem alle Möglichkeiten checken. Sicher würden sie noch einmal zurückkommen. Aber es wurde langsam dunkel und es passierte nichts mehr.
Je länger Jens über seine Situation nachdachte, desto klarer wurde ihm, dass er sich schnell entscheiden musste, wie er sich verhalten sollte. Er entschied als Erstes, dass es das Vernünftigste wäre, morgen wieder ganz normal ins Büro zu gehen! Er wusste, dass er es schaffen würde, Charlene nicht sofort den Hals umzudrehen, weil die Sorgen um Joy noch viel intensiver waren als der Hass auf seine Assistentin. Entschuldigung – Chefin! Big Boss!
Plötzlich hatte er so große Sehnsucht nach seiner Familie. Sofort rief Jens Celine an und freute sich auf ihre Stimme. Er erhoffte sich eine beruhigende Wirkung, die Celine fast immer auf ihn hatte. Fröhlich rief sie: „Hallo Schatz, ich freu mich so, dass du dich meldest. Ich vermisse dich so!“
Genau so hatte es sich Jens gewünscht. Sie tat ihm so gut und es bestätigte ihm nochmals das Gefühl, alles dafür tun zu müssen, um diese wunderbare Frau nicht zu verlieren. „Oh Liebling, ich habe so einen Stress, es ist der reinste Horror. Entschuldige, weil ich immer so kurz angebunden war. Ich vermisse dich auch so sehr und natürlich auch unsere Racker. Alles okay bei euch? Wie geht es Margot?“
„Am Montag bekommt sie ihren Herzschrittmacher. Sie ist aber schon wieder ganz die Alte – flotte Sprüche, gesunder Appetit und eitel wie immer. Ich musste schon einen Großeinkauf machen, weil alles nicht schick genug war, was ich aus ihrem Schrank mitgebracht habe. Sie schäkert mit den Ärzten und ist der Liebling der Krankenschwestern. Ist es okay, wenn ich noch die ganze nächste Woche bei ihr bleibe und sie dann mit zu uns bringe, bis sie zur Kur kann?“
„Na klar, Süße, so machen wir das! Wir kommen hier schon klar. Ich werde versuchen im Geschäft etwas kürzer zu treten …“ Das war ein Fehler – sofort wurde es ihm klar, aber es war zu spät. Celine war eine sehr intelligente Frau, die sofort fragte, wie das gehen solle, jetzt, da er doch der wichtigste Mann in der Firma war. Er solle doch seine Mutter fragen, ob sie für die eine Woche aushelfen könne.
Und jetzt? Sollte er sofort beichten? Nein, das wollte er nicht am Telefon besprechen, sondern unter vier Augen erklären. Aber von Joy wollte er unbedingt noch erzählen. Celine war sehr beunruhigt und stellte auch sofort fest, dass es ganz und gar nicht zu Joy passe, einfach abzuhauen. Sie stellte noch ein paar Fragen, aber Jens konnte kaum eine beantworten. Erleichtert war er trotzdem, dass sie darüber gesprochen hatten.
Am nächsten Morgen überlegte Jens einen kurzen Moment, ob er nicht doch zu Hause bleiben sollte, aber nachdem er sich die Argumente, die für das Gehen sprachen, nochmals vor Augen geführt hatte, gab er sich einen Tritt und machte sich auf den Weg ins Bad. Er war so froh, dass er nicht wieder so schlecht geträumt hatte – das hing aber wahrscheinlich mit der Schlaftablette zusammen, die er genommen hatte. Dadurch hatte er so tief und fest geschlafen wie schon lange nicht mehr. Und trotzdem ließen ihn die Bilder des Traumes nicht los. Er glaubte nicht wirklich, dass er Joy etwas angetan hat – bis auf die Vergewaltigung natürlich. Ja, das war natürlich schlimm, sehr schlimm, aber kein Vergleich zu dem Geträumten. Er hätte in dem Zustand weder eine Leiche aus dem Haus schleppen können noch den ganzen Weg bis in den Wald. Und Spuren von einem Kampf oder gar Blut gab es im ganzen Haus nirgendwo! So ein Unsinn – nein, er hatte Joy nichts weiter angetan. Trotzdem beschloss er, in den Wald zu laufen und an der Stelle, von der er geträumt hatte, nachzuschauen, nur um sich selbst zu beruhigen. Die Polizei hatte doch schon alles abgesucht – also sicher auch den Wald. Auf der anderen Seite schien es ihm, als ob sie die Sache wirklich nicht sonderlich ernst genommen hatten, weil sie es nicht einmal für nötig hielten, ihn zu vernehmen.
Natürlich war im Wald nichts, dennoch fing er an zu zittern, zu schwitzen und gegen akute Atemnot anzukämpfen, je mehr er sich der Stelle näherte. Ganz deutlich sah er die Bilder aus seinem Traum. Er war so am Ende, als er wieder zu Hause ankam, dass er sich noch einmal duschen und frisch anziehen musste! Ich werde zum Psycho! Ich werde immer wieder Albträume haben! Ich werde nie mehr mit einem guten Gefühl in den Wald können. Ich werde keinen Tag mehr ohne Schuldgefühle haben – egal wie das Ganze ausgeht.
Je mehr er darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm, dass Joy etwas passiert sein musste. So wie er sie kannte, würde sie doch ihrer Mutter, für die sie immer mehr die Führer- und Beschützerrolle übernahm, diese Sorgen nicht antun. Sie musste tatsächlich irgendwo so liegen, wie er es in seinem Traum gesehen hatte … Nur dass sicher nicht er der Mörder war. Aber er hatte sie auf jeden Fall aus dem sicheren Haus vertrieben! Wieso hatte sie aber auch so aufreizend dagesessen und wieso sah sie Charlene so ähnlich? Sogar ihre Art zu lachen, ihr Bewegungsablauf … Alles war so identisch gewesen. Dass er überhaupt zu solchem Hass fähig war, den er in dem Moment empfunden hatte, entsetzte ihn immer noch. Der verdammte Alkohol!
Andererseits war es ja auch wirklich keine Kleinigkeit, die sich Charlene geleistet hatte. Sie hatte von einer Sekunde zur nächsten seinen beruflichen Lebensplan zerstört, für den er sehr hart gearbeitet und unheimlich viel Verzicht geübt hatte. Dass er mit einem Menschen, der so schlecht, böse und berechnend war, so lange so eng zusammengearbeitet und es nicht bemerkt hatte, war doch unfassbar. Er dachte an die vielen Geschäftsreisen, die sie zusammen unternommen hatten. Beide hatten immer großes Interesse daran, auch für etwas Freizeit zu sorgen, um sich gemeinsam Sehenswürdigkeiten anzuschauen und sich kulinarisch verwöhnen zu lassen. Dabei hatten sie stundenlange Debatten geführt und sich die Köpfe heiß geredet – nicht nur über Geschäftliches. Es wurde aber auch nie zu privat. Jens dachte, Charlene wirklich gut zu kennen – er hätte für sie die Hand ins Feuer gelegt. Er hatte sich immer wohl in ihrer Gegenwart gefühlt. Wie konnte er so blind sein? Er zweifelte an seiner Menschenkenntnis! Es nützte alles nichts, er würde noch sehr lange brauchen, um das alles zu verkraften, aber momentan stand Joys Verschwinden im Vordergrund.






