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Er machte sich auf den Weg ins Büro und hatte keine Ahnung, wie er sich verhalten sollte, und noch viel weniger, wie die anderen sich verhalten würden. Aber es war ganz einfach! Herr Melzer und Herr Arnauld schienen sich mit dem Gedanken, dass Charlene die Position eingenommen hatte, bereits abgefunden zu haben. Mehr noch, sie schienen sehr zufrieden zu sein. Es gab gleich ein Meeting, in dem Jens die gewohnte Position des Assistenten einnahm und Charlene ganz selbstverständlich den alten Melzer-Platz. Es fühlte sich komisch an, doch alle gingen so selbstverständlich mit der Situation um, dass Jens fast dankbar war. Keine Fragen, keine komischen Blicke – nur Charlenes erster Blick sollte ihn ganz offensichtlich daran erinnern, wer am längeren Hebel saß. Aber danach war auch sie so wie immer.
Er konnte es nicht fassen, dass hinter so einer hübschen, freundlichen, warmherzigen Fassade ein solches Teufelsweib steckte. Auch spürte er Enttäuschung darüber, dass zumindest Herr Melzer nicht einmal bedauerte, dass er den Job nicht übernommen hatte. Hielt er doch nicht so viel von ihm oder war es ihm einfach egal, wie es in diesem Laden weiterging? Egal, das alles war momentan zweitrangig. Er musste dankbar sein, dass alles so einfach vonstattengegangen, er nicht in Erklärungsnot gekommen oder größerer Druck auf ihn ausgeübt worden war … So musste er jetzt einfach denken! Und Schluss! Jens versuchte sich auf die Arbeit zu konzentrieren.
Und so verging ein Tag nach dem anderen. Jens rief täglich mindestens dreimal mit zitternden Händen bei Clara an, mehr passierte nicht. Es war zum Verzweifeln – die Polizei suchte jetzt mit Hochdruck nach Joy und auch die Presse wurde eingeschaltet. Alle Gespräche mit Celine und den Kindern drehten sich nur um Joy. Magdalena war nur noch am Heulen und alle hatten einfach nur panische Angst vor dem Anruf, dass sie leblos gefunden wurde. Trotz aller möglichen Suchaktionen schienen sie Jens völlig ausgeklammert zu haben. Clara hatte bei der Aufgabe der Vermisstenanzeige zwar von dem Herzinfarkt und plötzlichen Aufbruch der Familie Dornbach erzählt, dass Jens aber nicht mitgefahren war, schien keinen zu interessieren. Auch ein Geschäftsessen beziehungsweise eine Feier am Abend waren für alle, Clara eingeschlossen, so selbstverständlich, dass er einfach nicht befragt wurde. Wenn herauskam, dass er zu Hause gewesen war … Er musste sich unbedingt etwas einfallen lassen.
Endlich war die Woche rum. Am Samstagabend gab es eine aufwendige Galaveranstaltung mit der kompletten Belegschaft, bei der die neue Geschäftsführerin gefeiert wurde. Alle Ehre, die eigentlich Jens sich verdient hatte, kam Charlene zugute. Ihm war zum Heulen zumute, aber er schaffte es irgendwie den Eindruck zu erwecken, dass das alles so vollkommen in Ordnung für ihn war. Er machte gute Miene zum bösen Spiel, und zwar sehr gekonnt und überzeugend. Magdalena musste die schauspielerische Fähigkeit von ihm geerbt haben. Bisher hatte er von diesem Talent nie etwas bemerkt. Aber er machte alles ganz automatisch – im richtigen Moment lächeln, das Richtige sagen, sich kleinmachen, wenn Charlene das Wort ergriff. Ja, es funktionierte alles erstaunlich gut.
Am meisten überraschte ihn, dass er keinen großen Hass für Charlene empfand. Das lag aber sicher daran, dass er momentan nur ein Gefühl hatte – Angst um Joy. Es gab keinen Platz für andere Gefühle. Die Schuld und Scham erdrückten ihn. Clara war ihm nie sonderlich sympathisch gewesen, was sicher an ihrem Verhalten seiner Familie gegenüber lag, aber jetzt tat sie ihm so unendlich leid. Und nun war er für sie auch noch die engste Bezugsperson. Es schien sonst keinen Menschen in ihrem Leben zu geben. Jens hatte ihr alles, was sie hatte, genommen.
Am Sonntagmorgen machte Jens sich auf den Weg ins Krankenhaus, nachdem er mit Clara gesprochen hatte. Es gab nichts Neues. Es tauchten auch keine Zeugen auf, die das Mädchen gesehen hatten. Sie war einfach wie vom Erdboden verschluckt. Jens hatte Clara sogar angeboten, mit ihm zu fahren, aber sie wollte sich keinen Zentimeter vom Telefon wegbewegen, was er auch gut verstehen konnte.
Die Wiedersehensfreude war groß. Erst jetzt merkte Jens, wie sehr er seine Familie vermisst hatte. Auf der anderen Seite war es das Beste, was ihm passieren konnte, dass sie nicht zu Hause gewesen waren. Er hatte sehr schlimme Tage und Nächte hinter sich. Der Versuch, ohne Schlaftabletten zur Ruhe zu kommen, war kläglich gescheitert – wenn er überhaupt einschlafen konnte, dann träumte er schreckliche Dinge. Auch die Panikattacken kamen immer häufiger und sie wurden auch kontinuierlich schlimmer. Wenn er auf der Straße ein Mädchen mit langen, blonden Haaren sah, zuckte er zusammen. Er fing an zu zittern, als ob er an Parkinson erkrankt wäre. Aber es war niemals Joy gewesen. Einerseits wusste er nicht, wie er diese Zustände vor seiner Familie verbergen sollte, andererseits erhoffte er sich durch sie Ablenkung und Erleichterung.
Nach der ersten Freude kehrte nach seiner Auskunft, dass es von Joy nichts Neues gab, große Trauer ein. Vor allem Magdalena hängte sich an ihn und suchte Trost und Kraft. Ausgerechnet bei ihm – er fühlte sich so schmutzig, so falsch. Wie sollte er mit dieser Schuld weiterleben? Er musste sich zusammenreißen, das war er seiner Familie schuldig. Er durfte sich nicht um seine Gefühle kümmern! Seine Familie durfte durch seinen Fehler nicht leiden! Es war für alle schon schlimm genug, mit Joys Verschwinden klarzukommen, aber wenn er sich jetzt auch noch offensichtlich verändern würde, wären alle hoffnungslos überfordert. Er musste wie immer der Fels in der Brandung sein. Und nichts anderes kam infrage! Ob er die Kraft aufbringen würde, das wusste er noch nicht. Es stand ja auch noch das Gespräch mit Celine wegen seines Jobdilemmas an. Das wollte er aber in Ruhe bei einem Spaziergang erledigen.
Der Tag wurde dann trotz Angst und Trauer ein recht schöner. Margot freute sich riesig über den Besuch „des best aussehenden, höflichsten und liebenswertesten Schwiegersohns der Welt“, wie sie Jens dem Pflegepersonal vorstellte. Ihre Tochter habe verdammt großes Glück, dass sie nicht fünfundzwanzig Jahre jünger sei, denn sie würde alles dafür tun, um Jens zu bekommen! Sie verbreitete wie immer gute Laune und wenn Jens es nicht besser wüsste, würde er nicht glauben, dass sie einen Herzinfarkt hatte.
Später unternahmen sie den Spaziergang, den er sich von Celine wünschte. Sie freute sich, dass er mit ihr allein sein wollte. Sie liebte ihn so sehr – er war etwas Besonderes! Sie dachte oft: Wenn es Engel auf Erden in Menschenform gibt, dann ist Jens einer davon. Was für ein Glück sie doch hatte!
Was sie dann aber zu hören bekam, verschlug ihr die Sprache. Nicht, dass sie persönlich großen Wert darauf legte, Frau des großen Geschäftsführers zu sein – also die CaDe-First Lady –, aber für ihn war es doch so wichtig gewesen. Er hatte sich dafür aufgerieben, hatte oft sogar auf Urlaub mit seiner Familie verzichtet – was ihm, wie sie sicher wusste, verdammt schwergefallen war. Nein, sie konnte es weder verstehen noch glauben, was er da erzählte. Er habe freiwillig verzichtet – er habe seine Bewerbung zurückgezogen und Charlene für die Position vorgeschlagen. Seine Begründung, dass er noch weniger Zeit für seine Familie hätte, noch öfter und noch längere Reisen unternehmen müsste, konnte sie ihm nicht abnehmen. Sie kannte ihn zu gut und spürte, dass hier etwas nicht stimmte. Aber alles, was sie sagte und ihm unterstellte, wurde von Jens abgeschmettert. Weil sie merkte, dass sie ihn damit quälte, beschloss sie, es erst einmal auf sich beruhen zu lassen. Sie wollte auch nicht im Streit auseinandergehen. Aber hier stank etwas bis zum Himmel!
Schließlich kam der Zeitpunkt der Trennung und die war schwerer als gedacht. Celines Nähe war Balsam für seine Seele, aber es war wichtig für sie, bei Margot zu bleiben, und er wollte es ihr nicht unnötig schwer machen. Die Kinder würden ihn schon so beanspruchen, dass er kaum Zeit zum Nachdenken haben würde.
Magdalena bat ihn, sobald sie im Auto saßen, Clara anzurufen. Sie selbst wollte es nicht tun, denn auch sie mochte Clara nicht besonders, weil diese sie immer komisch behandelt hatte. All die Jahre hatte sie ihr immer wieder zu verstehen gegeben, dass sie in ihren Augen nur ein schrecklich verwöhntes Gör war. Magdalena ging nicht gern zu Joy nach Hause. Übernachtet hatte sie dort auch nur in äußerster Not und unter großem Wehklagen. Das Telefonat ergab nichts Neues. Joy blieb wie vom Erdboden verschluckt.
Irgendwie ging auch die folgende Woche rum – die Stimmung war zwar nicht mit der sonstigen im Hause Dornbach vergleichbar, aber das war auch gut so. Den üblichen Rummel hätte Jens nur mit viel Mühe ertragen. Die Kinder waren sehr still und traurig. Sie erfüllten ihre Pflichten. Magdalena freute sich nicht einmal über ihre 1,5 in Mathe, dabei hatte sie es noch nie in ihrer Schullaufbahn geschafft, in diesem Fach eine bessere Note als 2,5 zu schreiben. Im Normalfall hätte sie eine Party angeordnet. Aber so ließ sie Jens unterschreiben und legte sie mit dicken Tränen in den Augen beiseite. Ihr Anblick zerbrach Jens das Herz. Joy fehlte ihr so sehr! Sie war die Einzige, die laut aussprach, dass Joy nicht mehr am Leben sein könnte oder zumindest irgendwo unfreiwillig festgehalten wurde, weil sie aus freien Stücken ihre Mutter niemals mit solchen Sorgen belasten würde. Jeden Tag nach der Schule lautete die erste Frage: „Gibt es was Neues von Joy, Papa?“
Marilena und Jonas verbrachten fast die komplette Freizeit in ihren Zimmern. Die Polizei hatte die Kinder nach auffälligem Verhalten, Lieblingsplätzen oder Geheimverstecken befragt, aber weitergebracht hatten die Auskünfte die Ermittlungen nicht. Seltsam für Jens war, dass sie ihn ausschließlich nach seiner persönlichen Meinung über Joy befragt hatten, und auch das nur sehr kurz und oberflächlich. Nur gut, dass niemand seine Gedanken lesen konnte, denn während der Befragung bekam er Schnappatmung … Dass das keinem aufgefallen war, unglaublich! Er war der Ohnmacht nahe gewesen! Urplötzlich waren die Beamten jedoch aufgestanden und hatten sich verabschiedet. Jens wusste nicht, wie ihm geschah – sie waren weg und er immer noch ein freier Mann!
Selbst Max war ganz still und bewegte sich kaum von seiner Decke weg. Jens hatte es immer noch nicht geschafft, mit ihm in den Wald zu laufen. Er suchte neue Wege, die er mit seiner Familie gehen konnte. Er dachte über einen neuen Job und einen Umzug in eine andere Stadt nach. Zu sehr brachten sie alles hier mit Joy in Verbindung. Bei allem, was sie taten, an jedem Ort, wo sie sich aufhielten, bei jedem Spiel, das sie spielten, bei jedem Gericht, das gekocht wurde, bei jedem Lied, das im Radio lief, einfach bei allem gab es irgendwie eine Verbindung zu Joy. Bei dem Bau des Baumhauses hatte sie die Regie übernommen, weil sie in solchen Dingen äußerst geschickt war und Jens eher ein bescheideneres Talent aufweisen konnte. Sie hatte tagelang mit Celine, die Architektin war, geplant, gezeichnet, Einkaufslisten geschrieben und Arbeitseinsatzplanungen entworfen. Sie war so präsent in ihrem Leben gewesen. Das war Jens nie so bewusst. Joy war für ihn und Celine beinahe wie ein eigenes Kind. Sie gehörte mit einer solchen Selbstverständlichkeit dazu – selbst bei der Urlaubsplanung wurde sie meistens mit einbezogen. Nur auf ganz großen Reisen wurde Joy nicht mitgenommen. Schon deshalb nicht, weil Clara es nicht erlaubt hätte.
Am Samstag kam Celine mit Margot nach Hause. Es war alles gut verlaufen und sie würde schon bald zur Kur fahren. Margot wusste noch nicht, was mit Joy passiert war, weil Celine noch immer Hoffnung hatte, dass das Kind wohlbehalten wiederauftauchte. Außerdem wollte Celine nicht, dass Margot sich aufregte und große Sorgen um Joy machte. Das wäre für ihr angeschlagenes Herz sicher nicht von Vorteil. Margot hätte sich bestimmt unglaublich aufgeregt, denn sie liebte Joy genauso wie ihre Enkelkinder. Joy hatte auch sehr oft den Großteil ihrer Ferien bei Margot verbracht.
Nun aber war es an der Zeit, auch Margot davon zu erzählen. Wie erwartet reagierte sie sehr emotional. Margot war ein sehr fröhlicher und meistens positiver Mensch. Sie war aber auch sehr gefühlvoll und trauerte ganz intensiv. „Aber da muss man doch was unternehmen! Was können wir nur tun?“, fragte sie unter Tränen.
„Margot, die Polizei hat schon alles in Bewegung gesetzt, was nur möglich ist – aber alles ohne Ergebnis!“
Insgeheim dachte er, dass die Ermittlungen nicht gerade von großer Professionalität zeugten, so wie sie ihn aus dem ganzen Prüfverfahren einfach ausklammerten. Auch die Befragung der Kinder war mehr als dürftig gewesen. Sehr wahrscheinlich hatten sie den Fall schon so gut wie ins Archiv verschoben! In der Presse wurden die Berichte und Zeugenaufrufe immer kleiner und seit zwei Tagen wurde der Fall überhaupt nicht mehr erwähnt. Wie traurig!
Eigentlich hätte er anfangen können, sich etwas zu entspannen, aber das Gegenteil war der Fall. Jens wurde immer panischer und es kostete ihn von Tag zu Tag mehr Kraft, sich nicht zu verraten. Vor allem, dass er nicht wie gewohnt mit Celine über seine Sorgen sprechen konnte, machte ihn verrückt. Und immerzu aufzupassen, dass er sich nicht verplapperte, strengte ihn unglaublich an. Das war er einfach nicht gewöhnt. Sie waren so offen miteinander, nie gab es ein Geheimnis zwischen ihnen – außer vielleicht mal eine heimlich geplante Überraschung. Oft entstand ein richtiger Wettbewerb zwischen ihnen, wer denn nun die besseren Einfälle hatte. Sie hatten viel Spaß dabei, sich gegenseitig neugierig zu machen. Auch die Kinder waren schon die reinsten Meister darin.
Die letzte große Überraschung hatten sie alle zusammen für Joy geplant – die Party zu ihrem sechzehnten Geburtstag! Was hatten sie nicht alles für sie auf die Beine gestellt. Eine Hollywoodparty, zu der alle in Glitzer und Gloria gekleidet erscheinen mussten, einen Walk of Fame hatten sie gebastelt, eine Award-Verleihung mit einer witzigen, gereimten Laudatio für jeden einzelnen Gast. Joy war an diesem Abend natürlich der Stargast! Einen Profifotografen hatten sie engagiert und die Dekoration war einfach der Hit. Es wurde eine „superaffengeilcoole Party“, wie Joy es ausdrückte. Mit Tränen in den Augen dankte sie allen …
Nur ihre Mutter wollte nicht dabei sein, weil sie ihrer Meinung nach sowieso nicht dazupasste. Zum Anziehen hatte sie auch nichts Passendes und auch kein Geld übrig, um sich einen so kitschigen Fummel zu kaufen. Langsam begann Jens zu verstehen, was Clara gegen sie hatte. Sie konnte weder finanziell noch beim heiteren Miteinander mit den Dornbachs mithalten. Sie hatten ihr die Tochter ein Stück weit weggenommen – ja, so sah er es heute! Joy liebte ihre Mutter über alles, sie wusste genau, dass sie sich für sie aufopferte, aber sie nahm auch ganz selbstverständlich und von ganzem Herzen gerne die Angebote der Dornbachs an. Und die dachten, dass Clara dankbar war, dass sie ihrer Tochter mit so viel Liebe und Großzügigkeit begegneten. Wie oft hatte es ihr wohl einen Stich versetzt, wenn Joy von den Dornbachs und ihren gemeinsamen Aktivitäten schwärmte, die Angebote und die Gesellschaft der Dornbachs vorzog … Nicht einmal war ihm in all den Jahren zuvor so ein Gedanke in den Sinn gekommen und Celine sicher auch nicht. Sonst hätte sie es laut geäußert.
Sie blieben an diesem Samstag alle lange auf, redeten, weinten und trösteten sich gegenseitig. Aber einen wirklichen Trost gab es nicht – Joy war weg und sie fehlte unglaublich! Das war schon schlimm genug, aber die Sorgen um sie, die Ungewissheit und die Panik vor dem Anruf waren fast nicht auszuhalten. In dieser Situation war Margot wirklich keine Hilfe – sobald sich alle gefangen hatten, schniefte sie wieder los. Sie musste möglichst schnell in die Reha!
Jens nahm an diesem Abend wieder einmal eine Schlaftablette, weil er dringend einen erholsamen Schlaf brauchte, um seinen Alltag bewältigen zu können. Charlene nahm ihn im Geschäft ganz schön hart ran, aber dadurch kam er wenigstens auf andere Gedanken. Es war eine gute Ablenkung! Er hatte immer noch kein Potenzial, um sich mit Charlene auseinanderzusetzen, und sie genoss ihren Sieg auf der ganzen Linie. Wahrscheinlich war sie sogar etwas enttäuscht, weil er sich absolut kampflos ergeben hatte. Mit gar keinem Widerstand hatte sie vermutlich nicht gerechnet. Aber bequemer war es so allemal.
Das Telefon klingelte … Jens hatte das Gefühl, nur zu träumen, denn er war von der Tablette so benebelt, dass er sich nicht auf Anhieb orientieren konnte. Das Klingeln trommelte in seinem Kopf, es durchdrang sämtliche Hirnwindungen gewaltsam, bis er es schaffte, das Klingeln der Realität zuzuordnen. Er wollte aufstehen, aber der Plan war wesentlich einfacher als die Durchführung selbst. Plötzlich hörte das Klingeln auf. Eigentlich rief so gut wie niemand mehr über den Festanschluss an. Jedes Familienmitglied hatte ein eigenes Handy und sie kommunizierten auf dem Weg miteinander. Ebenso verhielt es sich mit ihren Freunden, Verwandten und Bekannten. Plötzlich war Jens hellwach – Clara, ja, nur Clara hatte überhaupt noch das Festnetz genutzt.
Ein durch Mark und Bein gehender Schrei folgte der kurzen Stille. Es war Magdalenas Stimme: „Sie ist wieder da, sie ist wieder da – los, alle aufwachen, Joy ist wieder da!“
Alle stürmten jubelnd aus ihren Zimmern und umringten Magdalena. Die konnte aber nicht viel sagen, außer dass Joy wohlbehalten wieder zu Hause angekommen war. Alles andere würde sie dann in Ruhe erzählen.
Sie war also wieder da! Jens spürte eine Erleichterung, die mit Worten nicht zu beschreiben war. Jetzt hatte er aber wirklich das Gefühl, ohnmächtig zu werden. Was war das für ein Gefühl – eine tonnenschwere Last fiel von seinen Schultern. Er sah den anderen zu, wie sie sich freuten und umarmten. Bei ihm wurde das Gefühl jedoch gleich wieder gedämpft, weil ihm bewusst war, dass Joy ihn anzeigen würde und sein perfektes Leben damit beendet war. Aber er war sich auch im Klaren darüber, dass er so nicht hätte weiterleben können. Diese Schuld hätte ihn innerhalb von wenigen Wochen zum psychischen Krüppel gemacht. Da war er sich ganz sicher. Der Druck, der auf ihm lastete, hatte sich in der Zeit, die seit dem Vorfall vergangen war, um ein Vielfaches verstärkt. Er war keineswegs geringer geworden. Nein, lange hätte er es nicht mehr ausgehalten, mit diesem Geheimnis zu leben. Er hatte über einen Umzug nachgedacht, aber es wurde ihm jeden Tag immer klarer, dass er ihm keine große Erleichterung verschaffen würde. Seiner Familie wahrscheinlich schon. Aber er trug die Schuld in seinem Herzen und sie würde immer präsent sein – egal wohin er auch ging. Die Schuldgefühle wären mit Sicherheit auch beständig gewachsen und hätten ihn nach und nach zerstört. Er konnte ja nicht einmal psychologische Hilfe in Anspruch nehmen! Was sollte er denn bei einem Psychologen? Der konnte ihm die Schuldgefühle auch nicht nehmen.
Jetzt stellte sich die Frage, ob er seiner Familie sofort alles beichten sollte. Diese Freude auf der Stelle zu zerstören, das brachte er nicht fertig. Wie sollte er das jetzt am besten lösen? Mit Celine allein reden? Ja, so würde er das machen. Aber ehe er sich versah, war die ganze Horde schon in Aufbruchsstimmung. Sie hatten, während er sich seinen Gedanken hingegeben hatte, geplant, sich sofort auf den Weg zu Watermanns Wohnung zu machen. Verzweifelt versuchte er sie davon abzuhalten, indem er erklärte, dass die beiden jetzt sicher erst einmal alleine sein wollten. Sie hätten sicher jede Menge zu besprechen. Aber kein Argument zählte – keiner von ihnen war aufzuhalten. Er lehnte das Angebot ab, mit ihnen zusammen zu Clara und Joy zu fahren. Sie waren in Lichtgeschwindigkeit angezogen und flogen fast zum Auto – und das alles, ohne sich anzuschreien und gegenseitig zu beschimpfen. Einen letzten Versuch startete er, um wenigstens Celine zum Bleiben zu überreden. Aber es war sinnlos. Er musste den Dingen seinen Lauf lassen.
Ob Joy schon bei der Polizei war oder gerade mit ihrer Mutter über den Vorfall sprach? Clara würde die Polizei natürlich auf der Stelle benachrichtigen. Die Schlinge zog sich immer fester um seinen Hals, doch er dachte verzweifelt: Und trotzdem ist mir dieser Weg lieber, als wenn sie das Mädel tot aufgefunden hätten. Er würde büßen – er war kein schlechter Mensch. Er hatte einen schlimmen Fehler gemacht und das auch nur bei halbem oder noch weniger Bewusstsein – aber er würde dafür geradestehen! Das war seine Entscheidung, seine endgültige. Einen anderen Weg gab es nicht.
Jens rief bei Watermanns an und bat Clara, Joy sprechen zu dürfen. Nur widerstrebend nahm sie den Hörer, das spürte er ganz deutlich. „Hallo, Jens“, sagte sie zu seiner Überraschung ganz freundlich. Was um Himmels willen war jetzt los? „Wie geht es dir so? Ich hab kurz Urlaub gemacht in eurem Ferienhäuschen. Ich hoffe, es macht dir nichts aus.“
Jens war so baff, er wusste nicht, was er sagen sollte. Er musste sich besinnen, warum er Joy überhaupt sprechen wollte. Ach ja, er wollte sie bitten, es ihm zu überlassen, seiner Familie die Wahrheit zu sagen. Genau das versuchte er jetzt auch zu tun, aber Joy würgte ihn ab und sagte: „Danke, Jens, ich wusste, dass du nicht böse sein würdest. Ich habe echt eine Auszeit gebraucht und das war der richtige Ort. Und auch an dich: Sorry, dass ich dir Sorgen bereitet habe! Wir sehen uns – ich komme demnächst vorbeigeflattert.“ Und schon hatte sie aufgelegt.
Jens brauchte Minuten, viele Minuten, um zu verstehen, dass er nicht träumte, dass er voll bei Bewusstsein war. Er fantasierte nicht, er war auch nicht endgültig durchgedreht oder hatte die Kontrolle komplett verloren – nein, Joy war wieder da und erwähnte den Vorfall mit keinem Wort. Es klingelte auch keine Polizei an der Tür. Wie konnte das sein? Hatte er sich nur vorgestellt, sie vergewaltigt zu haben – hatte er es geträumt? Was zum Teufel wurde hier für ein Spiel gespielt und welche Rolle hatte er in diesem Theaterstück? Er fühlte sich, als ob eine fremde Spezies die Kontrolle über sein Leben übernommen hatte. Was sollte er jetzt tun? Wie sollte er sich verhalten? Wieder einmal gab es für ihn nur die Möglichkeit abzuwarten, wie dieses Theaterstück sich weiter entwickeln würde. Nur eins war klar – die höchste Last, die größte Sorge, das Schlimmste, was hätte sein können, war nicht passiert! Joy lebte! Und damit gab er sich für den Moment zufrieden.
2
Joy merkte, wie der Körper von Jens erschlaffte. Sie rollte ihn mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte, von sich herunter, zog sich notdürftig an und rannte, so schnell sie konnte, aus dem Haus. Aus diesem so geliebten, vertrauten Haus. Dass sich hier eines Tages eine so fürchterliche Szene abspielen würde, konnte sie nicht glauben. Aber es war kein böser Traum, Jens hatte sie vergewaltigt. Brutal und vollkommen unerwartet war er plötzlich über sie hergefallen. Im Nachhinein fragte sie sich, ob sie sich genug gewehrt hatte, schließlich war er sturzbetrunken und mit etwas Kraft hätte sie es doch schaffen müssen, sich zu befreien.
Voller Panik rannte sie blindlings in irgendeine Richtung los. Sie rannte und rannte, bis sie irgendwann völlig atemlos auf den Boden sank. Jetzt erst fing sie an zu denken. Wohin sollte sie gehen? Zu Hause war niemand – Mama arbeitete die ganze Nacht und sie wollte ihr auch nicht unter die Augen treten. Sollte sie direkt zur Polizei gehen? Was würde dann passieren? Sie würden Jens festnehmen und es gäbe eine Verhandlung, in der sehr wahrscheinlich festgestellt würde, dass Joy Jens in ihrem Aufzug unglaublich gereizt hatte. Er würde eine Haftstrafe möglicherweise auf Bewährung erhalten und die Familie würde ihm großzügig verzeihen. Übrig bleiben würde Joy – für die anderen womöglich eine Schlampe, die einen armen Mann verführt hatte, mit der schlimmen Erinnerung für den Rest ihres Lebens. Sie würde bindungsunfähig sein, keine Berührungen von einem Mann mehr ertragen können. Die eigentliche Bürde aus dieser Sache müsste sie und nur sie allein tragen. Jens würde so gut wie ungestraft davonkommen. Das durfte nicht passieren. Sie brauchte Zeit, mehr Zeit als nur ein paar Stunden, um darüber nachzudenken, was sie tun sollte. Aber wohin sollte sie gehen? Wo konnte sie in Ruhe nachdenken? Geld hatte sie auch nicht allzu viel dabei. Sie hatte also nur begrenzte Möglichkeiten.
Zuerst zog sie die langen Hosen an und die Jacke, die sie für den nächsten Schultag eingepackt hatte. Auch ihr Käppi, das sie für den Sportplatz eingepackt hatte, um sich vor der Sonne zu schützen, setzte sie auf. Darunter verbarg sie ihre langen Haare und ging in Richtung Bahnhof. Dort versteckte sie sich hinter einem großen Gebüsch und hoffte, dass sie niemand sah und sie nicht einschlief.






