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Dieser neuen Historiografie war von Anfang an eine doppelte Ausrichtung zu Eigen. Auf der einen Seite orientierte sie sich an den gleichen Standards der Wissenschaftlichkeit wie die europäische Geschichtsschreibung und übernahm damit nicht nur ihre Quellenkritik, sondern auch ihre Argumentationsmuster und narrativen Strukturen. Auf der anderen Seite betonte sie, dass die neue Geschichte nur von Indern geschrieben werden könne, da nur sie zur Identifikation mit der Vergangenheit in der Lage seien, die die notwendige Grundlage der Interpretation darstelle und das Schreiben der Geschichte als nationaler Geschichte ermögliche.
Als Teil der Nationalbewegung übernahmen die indischen Historiker deren Programm einer Reform der Nation und wollten durch ihre Arbeit zu ihrer Renaissance und Regeneration beitragen;|16◄ ►17| neben der emotionalen Vergemeinschaftung sahen sie ihre Aufgabe darin, dem gegenwärtigen Indien die Vergangenheit, das Goldene Zeitalter, vor Augen zu stellen, an welche es anschließen konnte.
»Vergemeinschaftung«
Nach Max Weber (1985 [1922], S. 21) »eine soziale Beziehung«, die auf der »subjektiv gefühlten Zusammengehörigkeit der Beteiligten beruht« und in der das Gefühl der Zusammengehörigkeit handlungsleitend wirkt.
Noch dringlicher als in Deutschland warfen diese Muster und Metaphern die Frage auf, an welche Geschichte angeschlossen werden sollte und wer und welche Epochen zur ›wahren‹ indischen Geschichte dazu gehörten. War das Reich der muslimischen Moguln eine Epoche nationaler Einheit und Machtentfaltung oder eine Zeit islamischer Fremdherrschaft über Indien? Was bedeutete dies für die Stellung der Muslime in der Gegenwart? War Indien eine Nation oder zwei, welche Folgen sollte dies für die politische Struktur des unabhängigen Staates haben? Diese Fragen gewannen ihre Virulenz erst nach dem Ersten, mehr noch nach dem Zweiten Weltkrieg und zur Zeit der Teilung des Subkontinents, angelegt waren sie jedoch schon in der Historiografie des 19. Jahrhunderts.
3. Transnational, translokal, transregional?
Vor dem Hintergrund dieser historischen Verzahnung von Geschichte und Nationalismus, in der Historiker es als ihre wichtigste Aufgabe angesehen hatten, durch ihre wissenschaftlichen Forschungen zur Nationsbildung beizutragen, wird erst deutlich, wie viel Sprengstoff die grundlegenden Interpretationskategorien im Programm einer transnationalen Geschichte bergen. Es geht um nichts Geringeres als darum, eine »Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaates« (Osterhammel, 2001) zu entwerfen. |17◄ ►18| Dieses Programm basiert ebenso auf Vorstellungen von der Historizität der Nation wie es auch zu ihrer Historisierung beiträgt. Wenn die Nation keine ›natürliche‹ Größe ist, sondern als Vorstellung zu bestimmbaren Zeiten von bestimmbaren Akteuren hervorgebracht wird, so ist sie auch für die Geschichtswissenschaft nicht Ausgangspunkt, sondern Gegenstand der Untersuchung.
Es ist vehement diskutiert worden, ob das Programm einer trans-›nationalen‹ Geschichte weit genug ginge und ob nicht schon die Wahl des Begriffes dazu führe, die Nation, die durch die Vordertür entlassen wurde, durch die Hintertür wieder hereinzulassen. Wie kann man eine transnationale Geschichte für Epochen und Regionen schreiben, denen die Nation als Ordnungsmuster unbekannt war? Wird hiermit nicht wieder ein eurozentrisches Zulaufen der Geschichte auf die Entstehung von Nationalstaaten suggeriert, ihre Abwesenheit als Defizitgeschichte konzipiert? Daher ist vorgeschlagen worden, den Ausdruck ›transnational‹ durch ›translokal‹ (Freitag / von Oppen, 2005; 2010) oder ›transregional‹ (WIKO) zu ersetzen und die Nation dergestalt nur noch als eine Möglichkeit der Raumordnung unter anderen zu betrachten (→ Kap. III.5).
Diese Überlegungen müssen sehr ernst genommen werden. Wenn im Titel dieser Einführung dennoch von transnationaler und nicht translokaler oder transregionaler Geschichte die Rede ist, so deshalb, weil dem Begriff ›transnational‹ im Gegensatz zu seinen Alternativen eine doppelte Stoßrichtung zu eigen ist, die zu bewahren mir wichtig erscheint. Transnational bezieht sich zum einen auf die Untersuchung von Geschichte, die sich nicht in nationalen Grenzen erfassen lässt, sei es, weil sie sich auf kleinere oder größere Einheiten bezieht, sei es, weil sie sich in einem konzeptionellen Rahmen bewegt, in dem die Nation keine oder zumindest keine wichtige Kategorie darstellt. Das ›trans-‹ der transnationalen Geschichte bezieht sich hier auf eine empirische Erweiterung des Untersuchungsgegenstandes. Zum anderen aber, und das könnte aufs Ganze gesehen sogar noch wichtiger sein, geht es darum, durch transnationale Geschichte die Selbstverständlichkeit der Kategorie der Nation selbst infrage zu stellen. |18◄ ►19| Hier bezieht sich das ›trans-‹ auf das Transzendieren der Nation als einer Ordnungskategorie für die Geschichtsschreibung. Die Diskussion, ob und wie weit dies geschieht, wenn man die Nation einfach ignoriert, oder ob es nicht auch darum gehen muss, ihre Deutungsmacht und damit auch das Schwergewicht überlieferter Historiografien direkt und ausdrücklich zu hinterfragen, ist nicht abgeschlossen.
Wir brauchen empirische Studien, die flexibel mit ihren Bezugsgrößen umgehen. Welchen Einfluss lokale, translokale, regionale, transregionale, nationale oder transnationale Faktoren hatten, lässt sich ja in den allermeisten Fällen nur erkennen, wenn der Maßstab der Untersuchung groß genug gewählt ist, um sie in Beziehung zueinander setzen zu können. Diese Studien können je nach Erfordernis mit dem Begriff der Nation arbeiten oder nicht. Dies allein aber reicht meines Erachtens nicht aus, um die enge methodische Verbindung zwischen Nation und Historiografie zu sprengen. Hierfür brauchen wir einen Rahmen, in dem diese Studien in Beziehung zu nationalen und kolonialen Meistererzählungen gesetzt werden, deren Beharrungskraft wohl manchmal unterschätzt wird. Diesen Rahmen kann die transnationale Geschichte bieten.
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II. Über die Nation hinaus?
Forschungstraditionen und Möglichkeiten ihrer Fortentwicklung
Wie die Einleitung gezeigt hat, war die Geschichtsschreibung seit dem 19. Jahrhundert eng mit Vorstellungen von Nationalstaaten verbunden. Doch bedeutete dies nicht, dass nur die Innenpolitik der einzelnen Nationen als angemessenes Thema für die Historiografie gesehen wurde. Die transnationale Geschichte, so wie sie jetzt verstanden wird, ist keineswegs die erste historiografische Richtung, die mehr als eine Nation zugleich untersucht und in ihren Beziehungen analysiert. Dieses Kapitel zeigt an drei Themenfeldern –der Geschichte der Außenpolitik, der Imperialismusforschung und der vergleichenden Geschichtswissenschaft–auf, welche Ansätze einer Überwindung der thematischen Begrenzung auf die Nation es schon vor den gegenwärtigen Debatten gegeben hat, in welche Richtungen sie in den letzten Jahren weiterentwickelt wurden und welche Anknüpfungspunkte und Möglichkeiten sie in Bezug auf die transnationale Geschichte immer noch bereitstellen.
1. Von der Außenpolitik zu den internationalen Beziehungen
Es liegt in der Natur der Sache, dass Untersuchungen zur Außenpolitik sich nicht auf einen einzelnen Staat beschränken können, geht es doch in diesem Forschungsfeld gerade um die Beziehungen der Staaten untereinander. Dennoch braucht dies keinesfalls zu einer Relativierung oder gar Dekonstruktion der Kategorie Nationalstaat zu führen, ganz im Gegenteil. Für den größten Teil der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts war der Nationalstaat eine dem Menschen vorgegebene Realität, an der sich das politische Handeln zu orientieren hatte. Auf dem Feld der Außenpolitik begegneten sich die Nationalstaaten als gleichsam personifizierte, nicht weiter auflösbare Einheiten–man beachte die |20◄ ►21| Sprache der Quellen: ›Deutschland forderte‹, ›Frankreich warf ein‹, ›Großbritannien vermittelte‹. Ihnen schien die Selbstbehauptung nicht nur erlaubt, sondern geradezu geboten, denn über dem Staat gebe es keine übergeordnete Macht und kein übergeordnetes Recht: eine »Idealisierung des Staates auf der Basis der Spiritualisierung der Macht« (Mollin, 2000, S. 6). Eine Eindämmung der überbordenden Hegemonialansprüche einzelner Staaten könne nur durch die größere Macht anderer Staaten–allein oder in Allianzen–geschehen.
Politiker und Historiker waren sich einig, dass der Charakter der Außenpolitik als ein Kampf um Macht den Staatsmännern, die den Nationalstaat auf dem internationalen Parkett vertraten, unbeeinflussbar vorgegeben sei. Ihre Kunst bestehe darin, die Handlungsmöglichkeiten auszuloten und in Entscheidungen umzusetzen –als große Männer machten sie große Politik. Die Aufgabe der Historiker sei es, diese Entscheidungen nachzuzeichnen und zu würdigen. Dies konnte durchaus zu Kritik im Einzelfall, jedoch kaum jemals zur Kritik an den Grundannahmen der Außenpolitik führen. Dabei war im Laufe des 19. Jahrhunderts eine Radikalisierung der nationalen Position der Historiografie zu verzeichnen. Wo noch Ranke den Staat zwar als unauflösliche Einheit, jedoch stets eingebunden in die Gemeinschaft mit anderen Staaten sah, warfen seine späteren Kritiker ihm vor, genau damit den nationalen Standpunkt bereits verlassen zu haben und zum Kosmopoliten geworden zu sein (genau das also, was den frühen Historismus, der in dieser Hinsicht noch das Erbe der Aufklärung bewahrte, für heutige Historiker zunehmend attraktiv zu machen scheint). Staaten bewegten sich nach ihrer Auffassung zwar auf dem gleichen Feld, doch gab es nichts mehr, was sie verbinden und zwischen ihnen vermitteln konnte–jeder Staat trug sein Gesetz des Handelns und seine Legitimation in sich selbst.
Die deutsche Diskussion über die Bedeutung der Geschichte der Außenpolitik und die Maßstäbe, die zu ihrer Untersuchung anzulegen seien, entflammte Mitte der 1970er Jahre. Andreas Hillgruber und Klaus Hildebrand vertraten die Auffassung, dass es die Außenpolitik sei, die den Verlauf der Geschichte maßgeblich präge und vor allem auch die Rahmenbedingungen für die Innenpolitik|21◄ ►22| schaffe (Hildebrand, 1975; 1976; Hillgruber, 1973; 1976). Zwar wirkten auch die innenpolitischen Entwicklungen auf die Außenpolitik zurück, insgesamt folge diese jedoch einer Eigengesetzlichkeit, die von den Interessen des Nationalstaates bestimmt werde, der »in Geschichte und Gegenwart–und eben nicht zuletzt als politische Einheit im internationalen Geschehen–in seiner Erheblichkeit kaum hoch genug einzuschätzen ist« (Hildebrand, 1976, S. 349). Außenpolitik sei eine »Antwort der Staatskunst« auf die »Herausforderung der Macht« (Hildebrand, 1995), daher gelte es für die Geschichtswissenschaft, ihren Entscheidungscharakter herauszuarbeiten und ihn nicht mit Hilfe von über den Einzelfall hinausreichenden Theorien in allgemeinen Prozessen verschwinden zu lassen. Die Kategorien, anhand derer die Außenpolitik beurteilt werden müsse, sind–ganz im Rahmen des Historismus gedacht–die Kategorien der zeitgenössischen Akteure, die zugleich die Richtlinien der Interpretation vorgeben: die Nation, der Staat, die Macht, der Gegensatz zwischen Gleichgewicht und Hegemonie, aber auch Konzepte wie Dämonie, Tragik und Schicksal.
Da die Historisierung dieser Begriffe unterbleibt und zugleich der Erzählung gegenüber der Analyse der Vorzug gegeben wird, gewinnen die Außenpolitikhistoriker dieser Schule keinen Ansatzpunkt, von dem aus die Innensicht auf die Ereignisse aufgebrochen werden könnte–zumal die Beschränkung auf die »Große Politik der europäischen Kabinette« (so der Titel einer vielbändigen Quellensammlung zur Diplomatiegeschichte von 1871–1914) eine entsprechende Begrenzung des untersuchten Quellenmaterials nach sich zieht. Noch immer sind es die Staatsmänner des 19. und 20. Jahrhunderts, deren Auffassung vom Charakter der Außenpolitik den Untersuchungsgegenstand definiert.
Hier setzte die Kritik des Bielefelder Gesellschaftshistorikers Hans-Ulrich Wehler ein, der forderte, den Primat der Außenpolitik durch einen Primat der Innenpolitik zu ersetzen (Wehler, 1975). Dies erlaube erstens die Frage, welche innenpolitischen Konstellationen die Formulierung einer außenpolitischen Position beeinflussten und zweitens die Untersuchung, wie Außenpolitik in die Innenpolitik zurückwirke. Damit würde ihre Interpretation|22◄ ►23| aus der Fixierung auf die internationalen Konstellationen herausgelöst und es könne sichtbar gemacht werden, dass sich Ziele der Außenpolitik häufig weniger durch ihren Bezug auf andere Nationalstaaten, als vielmehr durch ihre innenpolitischen Intentionen erklären lassen. In seinen Untersuchungen zum Kaiserreich führte Wehler diese These am Beispiel des Imperialismus aus, der für ihn weniger aus der Dynamik der Großstaatspolitik, denn als ›Sozialimperialismus‹ mit dem Ziel der Ablenkung von Partizipationsforderungen im Innern erklärt werden muss (Wehler, 1973).
Für die transnationale Geschichte sind beide Positionen nur sehr begrenzt anschlussfähig. Die Schärfe des Streits ließ in den Hintergrund treten, in welchem Maße seine Protagonisten wesentliche Grundannahmen teilten, allen voran die Idee der herausragenden Stellung des Nationalstaates. Beherrschten bei Hillgruber und Hildebrand die Nationen als einzige Akteure die internationale Bühne, so gelang es Wehler, die Heterogenität der Nation im Inneren aufzuzeigen und konfligierende soziale und wirtschaftliche Interessen in den Mittelpunkt der Analyse zu rücken. Ohne dass dies ausdrücklich thematisiert oder gar theoretisch reflektiert wird, geht jedoch auch er davon aus, dass der Nationalstaat den gleichsam natürlichen Rahmen für diese Interessen darstellt und sie ohne Referenz auf andere Einflüsse abschließend erklärt werden können–Gesellschaftsgeschichte kann als Nationalgeschichte, kann als »Deutsche Gesellschaftsgeschichte« (Wehler, 1987–2008) geschrieben werden.
Der Gegensatz zwischen den beiden Lagern–der im Rückblick weit weniger fundamental erscheint, als es die Zeitgenossen empfanden –bestimmte die Debatten zur Außenpolitik über zwanzig Jahre lang. Vermittelnde Positionen, die es immer wieder gegeben hat, konnten sich nicht durchsetzen (Ziebura, 1990). Erst Ende der neunziger Jahre gelang es, diese Fronten aufzubrechen (Conze, 1998; Loth / Osterhammel, 2000). Seitdem besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass sich Außenpolitik nur durch das Zusammenspiel von inneren und äußeren Faktoren erklären lässt. Im Gegensatz zur Hildebrand-Schule wird damit die Bedeutung der Innenpolitik für die Interpretation der Außenbeziehungen |23◄ ►24| anerkannt; zugleich wird betont, dass einzelne Bereiche, gerade dort, wo sie institutionell abgestützt sind, auch eine Eigendynamik und Eigengesetzlichkeit entwickeln können. Jedoch erlaubt erst der größere, transnationale Zusammenhang die Ebenen, die sinnstiftend für das Handeln der außenpolitischen Akteure sind, zueinander in Beziehung zu setzen und ihren jeweiligen Einfluss empirisch auszuloten.
Die Betonung des kommunikativen Aspekts der Politik (Frevert / Haupt, 2005) rückt nicht nur die Strukturen und Regeln der internationalen Beziehungen als historisch geworden und historisch wandelbar in den Mittelpunkt–sie sind gleichermaßen Niederschlag vergangener Kommunikation wie auch Bedingung künftiger. Dieser Ansatz lässt auch nach den Bedingungen der Kommunikation fragen, nach ihren Formen und Symbolen, nach ihrer Sprache sowie nach der Sozialisation ihrer Akteure. Damit eröffnet er den Weg für eine Kulturgeschichte der internationalen Beziehungen, die ihrer Anlage nach nicht mehr von den einzelnen Nationalstaaten her, sondern nur noch transnational gedacht werden kann (Albert / Blum / Helmig, et al., 2009; Paulmann, 2000).
Wieder einmal bedeutet die Betonung des Transnationalen jedoch nicht, dass die Rolle der als Nationalstaaten konstituierten kollektiven Akteure zu vernachlässigen wäre–weder historisch noch heute, in Zeiten von zunehmender wirtschaftlicher Verflechtung, supernationalen Zusammenschlüssen und der wachsenden Bedeutung von nicht-staatlichen international agierenden Akteuren. Die Geschichte der internationalen Beziehungen vermag dies wieder ins Gedächtnis zu rufen und zu verhindern, dass die Kategorie staatlicher Macht aus transnationalen Analysen verschwindet.
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2. Imperialismusforschung
Wenn es einen Bereich in der Geschichtswissenschaft gegeben hat, der–gleichsam aus der Natur der Sache heraus–den Blick über nationale Grenzen hinweg auf weltweite Zusammenhänge gelenkt hat, müssten dies die Untersuchungen zum Imperialismus sein. Und in der Tat weisen viele der älteren Forschungen Verbindungslinien zur heutigen transnationalen Geschichte auf.
Mit dem Begriff des Imperialismus werden zwei zusammenhängende Phänomene bezeichnet. Zum einen markiert er als Epochenbezeichnung die Zeit zwischen 1880, der Aufteilung Afrikas und dem Wettlauf um die letzten Kolonien einerseits, sowie dem Ersten Weltkrieg andererseits. Zum anderen verweist er als systematischer Begriff auf spezifische Antriebskräfte und Formen der überseeischen Eroberungen, die ihn vom früheren Kolonialismus unterscheiden.
Außenpolitisch war das imperiale Zeitalter von der Konkurrenz zwischen den europäischen Großmächten markiert. Anhand der Kolonien, so die weit verbreitete Meinung, würde sich die künftige Stellung jeder Nation entscheiden, würde sich entscheiden, ob sie Großmacht werden oder bleiben würde oder in Zukunft lediglich eine Macht zweiten Ranges wäre. Dieser Gedanke des Entscheidungskampfes führte dazu, dass auch Kolonien, deren unmittelbarer Nutzen –politisch, strategisch oder wirtschaftlich–nicht offensichtlich war, gleichsam als Pfand auf die Zukunft erworben wurden.
Innenpolitisch ging diese Epoche einher mit der fortschreitenden Politisierung und Mobilisierung immer weiterer Bevölkerungskreise, die sich auch in einer wachsenden Begeisterung für den Imperialismus äußerte. Inwieweit und von wem diese Begeisterung als Ablenkungsmanöver von innenpolitischen Schwierigkeiten instrumentalisiert wurde, der Imperialismus also im Wesentlichen ›Sozialimperialismus‹ war (Wehler, 1970b) und inwieweit sie sich im Gegenteil autonom entwickelte und die politische Führung unter Druck setzte (Hildebrand, 1975), wurde lange kontrovers diskutiert.
Zwei Fragekomplexe waren für die Forschung zum Zeitalter des Imperialismus bestimmend. Zum einen ging es darum, die |25◄ ►26| Ursachen und den Ausbruch des Ersten Weltkrieges zu erklären. Für das Deutsche Reich kamen Fragen nach Kontinuitätslinien zwischen dem Kaiserreich und dem Dritten Reich hinzu, insbesondere nach dem Zusammenhang zwischen Nationalismus und Imperialismus auf der einen und Totalitarismus auf der anderen Seite (Arendt, 1951). Zum anderen, und diese Frage hat eine lange Tradition, die bis in die zeitgenössische Auseinandersetzung mit dem Imperialismus zurückreicht, soll die imperiale Expansion immer auch Auskunft geben über die imperiale Nation. Auf welches historische Erbe, welche Strukturen, welche Anlagen und Eigenschaften lässt ihr Wille und ihre Fähigkeit zur Eroberung und Beherrschung überseeischer Gebiete rückschließen? Diese Frage hat nach dem Verlust der Kolonien und vor allem nach der postkolonialen Kritik am Imperialismus an unmittelbarer Bedeutung verloren. Doch scheint sie zum Teil in Untersuchungen zum europäischen Sonderweg verlagert worden zu sein (im Rückbezug auf Weber Mitterauer, 2003; Weber, 1920–1921): Die imperiale Expansion der europäischen Staaten wird durch den Verweis auf die Besonderheiten der europäischen Geschichte–sei es die industrielle Revolution, seien es kulturelle Spezifika oder Institutionen –erklärt. Zum anderen Teil mag sie einfach ihr Vorzeichen gewechselt haben und von einer Suche nach wesensmäßiger Stärke zu einer nicht minder teleologischen nach grundlegenden Ursachen des Imperialismus übergegangen sein, jetzt als Teil einer zerstörerischen Moderne interpretiert.
Deutscher und europäischer Sonderweg
Debatte, die die Erklärung für den deutschen Nationalsozialismus in langfristigen Entwicklungen des Deutschen Reiches suchte (verspätete Nationalstaatsbildung, verspätete Industrialisierung, schwache Stellung des Bürgertums, Ausbleiben von Parlamentarisierung und Demokratisierung).
Erklärungsansätze, warum es in Europa früher als in anderen Kontinenten zur industriellen Revolution gekommen ist und warum es Europa seit dem 16. Jahrhundert gelang, immer größere Teile der Welt zu unterwerfen und zu beherrschen. |26◄ ►27|
Für beide Fragestellungen steht der imperiale Nationalstaat im Zentrum des Interesses. Dies kann vereinbar sein mit transnationaler Methodik, wenn nämlich die Nation ihrerseits als Produkt von Wechselwirkungen aufgefasst wird, die sie selber überschreiten. Dieser Ansatz wurde jedoch zumindest in der älteren politikgeschichtlichen Literatur eher selten verfolgt (Schmidt, 1985; Schöllgen, 1986).
Anders lag das Erkenntnisinteresse bei Studien, die sich den Zusammenhängen zwischen Imperialismus und Kapitalismus widmeten, auch hier mit einer langen Forschungstradition. Ihnen ging es um den systematischen Zusammenhang zwischen den Phänomenen der industriellen Revolution und der damit einhergehenden Entwicklung einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung auf der einen Seite und der wirtschaftlichen Durchdringung überseeischer Gebiete, oftmals verbunden mit politischer Machtübernahme, auf der anderen.
Umstritten war dabei nicht nur, ob sich die Ausgaben, die die Weltmachtpolitik mit sich brachte, überhaupt rechneten, sondern auch, welche wirtschaftlichen Vorteile die Expansion den Metropolen brachte: Waren es Rohstoffe, Absatzmärkte für ihre Waren oder Anlagemöglichkeiten für Investitionskapital? Welchen Personenkreisen kamen diese Vorteile zugute? Lässt sich nachweisen, dass die gleichen Personen einen Einfluss auf die imperiale Außenpolitik nehmen konnten und tatsächlich genommen haben? Umstritten war weiterhin schon unter den Zeitgenossen, ob die Verfolgung dieser Ziele wirklich des Imperialismus bedurfte oder ob sie ebenso durch eine Freihandelspolitik hätte realisiert werden können. Freihandel plus soziale Reformen im Innern, so John Hobson, ein Vertreter der britischen Radikalliberalen, schon um die Jahrhundertwende, sei in der Lage, den Kapitalismus von seiner gegenwärtigen Übersteigerung im Imperialismus zu seinem Grundprinzip des friedlichen Interessenausgleichs zurückzuführen (Hobson, 1902). Ihm wurde von marxistisch-sozialistischer Seite entgegengehalten, dass im Gegenteil die imperialistische Expansion dem Kapitalismus inhärent sei, da dieser nur so lange zu überleben vermöge, wie er sich neue Gebiete einverleiben könne. Da aber die Expansionsmöglichkeiten letztendlich begrenzt seien, |27◄ ►28| führe der Imperialismus zwar kurzfristig zu einer Stärkung des Kapitalismus, bereite aber langfristig seinen Untergang umso sicherer vor (Hilferding, 1910; Luxemburg, 1913; Lenin, 1917).
Für die transnationale Forschung sind diese Ansätze insofern von Bedeutung, als hier mit der Entwicklung des kapitalistischen Weltwirtschaftssystems Kräfte in den Mittelpunkt der Analyse gestellt wurden, die die Nationalstaaten transzendierten (Wallerstein, 1974–1989). Dies würde bedeuten, dass die wirtschaftliche, soziale und politische Geschichte der europäischen Metropolen nicht mehr aus sich heraus, nicht mehr ohne Einbeziehung der Tatsache erklärbar wäre, dass es sich um imperiale Mächte handelte. Zu fragen bleibt jedoch, ob nicht in dieser Interpretation das Wirtschaftssystem weiterhin seine Dynamik in entscheidendem Maße aus den Metropolen erhielt. Auch in den Arbeiten, die den Imperialismus als globales System betrachteten, blieb damit Europa genauso wie in der politischen Geschichte das Zentrum der Welt und der Historiografie.
Überraschend früh wurde dieses Paradigma, dass sich Imperialismus –als Epoche und als Konzept–in erster Linie, wenn nicht ausschließlich von Europa her interpretieren lasse, in Zweifel gezogen. Bahnbrechend waren in dieser Hinsicht in den 1950er Jahren die Forschungen der britischen Historiker John Gallagher und Ronald Robinson, die den Imperialismus aus seiner Engführung auf die Übernahme formaler Herrschaft lösten und stattdessen betonten, dass, zumal im britischen Empire, immer formale und informale Herrschaft nebeneinander gestanden hätten. Aus Kostengründen hatten die Briten es vorgezogen, bei der Sicherung ihrer Interessen, wann immer möglich, auf Eroberungen und die Einführung einer eigenen Verwaltung zu verzichten: »By informal means if possible, or by formal annexation when necessary, British paramounty was steadily upheld« (Gallagher, 1953, S. 3).