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Zwei Schlussfolgerungen ergaben sich hieraus. Zum ersten verschwamm mit dieser engen Verknüpfung von formaler Herrschaft und informellem Einfluss der Charakter des imperialen Zeitalters als einer eigenständigen Epoche, und zwar sowohl für die Vergangenheit durch die Betonung der Kontinuität zwischen |28◄ ►29| Kolonialismus und Imperialismus, als auch für die Zukunft, da nun eine Fortdauer kolonialer Herrschaft auch nach der Dekolonisierung denkbar wurde (Mommsen / Osterhammel, 1986; Robinson, 1984). Dieser Gedanke wurde vor allem von Politikwissenschaftlern aufgenommen und in der Dependenztheorie, die postkoloniale Unterentwicklung zu erklären trachtete, weiterentwickelt (Senghaas, 1972). Nicht mehr die Frage nach den europäischen Nationalstaaten und ihrem Schicksal stand damit im Vordergrund, sondern die Erklärung der andauernden Abhängigkeit der ›Dritten Welt‹.
War für das Mutterland die informale und die formale Herrschaft im Prinzip austauschbar, so erfolgte die Entscheidung zwischen ihnen, und dies ist die zweite These, in der Regel als Antwort auf lokale Faktoren. Die frühen Arbeiten von Gallagher und Robinson betonten hierbei noch sehr stark die Rolle der men on the spot, d.h. der kolonialen Prokonsuln und Beamten, denen schon aufgrund der langen Kommunikationswege eine sehr große Unabhängigkeit in der Formulierung imperialer Politik zukam. Dieser Ansatz wurde in den achtziger Jahren weiterentwickelt und radikalisiert: Nicht nur den Briten in den Kolonien wurde Handlungskompetenz und Einfluss auf die Entwicklung der imperialen Geschichte zugeschrieben, sondern auch den Kolonisierten und vor allem den Interaktionen zwischen beiden. David Fieldhouse hob hervor, dass imperiale Geschichte–im Gegensatz zur Geschichte der Metropolen und zur Geschichte der ehemaligen Kolonien–nur in der Konzentration auf die areas of interaction zwischen beiden weiterführende Interpretationen entwickeln könne (Fieldhouse, 1984). Robinson konzentrierte sich bei der Fortführung seiner Untersuchung der lokalen Faktoren auf die Rolle der Kollaborationsregime. Ob die Kolonialmacht in der Lage war, einheimische Eliten zur Zusammenarbeit zu bewegen, ob diese in der Lage waren, ihren Einfluss über weitere Bevölkerungsteile aufrechtzuerhalten und welcher Konkurrenz sie ausgesetzt waren, dies bestimmte nachhaltig die Möglichkeit und Gestalt kolonialer Herrschaft.
Vor allem David Fieldhouse betonte, dass diese Integration von Imperialismusforschung und regionalwissenschaftlichen Studien |29◄ ►30| zu den Kolonien keinen ausschließlichen Weg vorschreiben wollte, sondern die nationalstaatlichen Narrative sowohl der kolonisierten wie auch der kolonisierenden Staaten durchaus ihre Legitimität behielten. Was jedoch nicht mehr möglich erschien, war eine umfassende Analyse der nationalstaatlichen Geschichte ohne Berücksichtigung ihrer globalen Bedingungen und noch weniger die Erklärung globaler Entwicklungen allein aus der Perspektive eines Nationalstaates.
3. Komparatistik
Der dritte große Bereich, in dem die Historiografie schon früh nationale Grenzen überschritt, war die Komparatistik. Vergleich bedeutet in der Geschichte die systematische Diskussion von zwei oder mehr Fällen mit dem Ziel, ihre Ähnlichkeiten und Unterschiede deutlicher erfassen zu können. Häufig handelt es sich dabei um Fallbeispiele aus unterschiedlichen Ländern, doch sind auch Vergleiche unterhalb wie oberhalb der nationalen Ebene möglich–etwa zwischen Städten oder zwischen Kulturen (Kaelble, 1999b; Kocka, 2003).
Diese Definition zeigt bereits, dass weder ein Vergleich zwischen Fällen, die sich allzu ähnlich sind, noch zwischen solchen, die keine Gemeinsamkeiten aufweisen, Sinn macht. Wenn daher immer wieder darauf hingewiesen wird, dass man nicht Äpfel und Birnen miteinander vergleichen dürfe, so stimmt dies nur bedingt: Sie lassen sich in zahlloser Hinsicht miteinander vergleichen, ob es nun in Bezug auf ihren Vitamin- oder Kaloriengehalt oder ihren Anteil an den Exporten einer Volkswirtschaft ist. Wichtig ist allein, ob beide einer gemeinsamen Oberkategorie, einem tertium comparationis angehören, mit Blick auf welches sie verglichen werden können. In den ersten beiden Fällen wären dies Nahrungsmittel, im dritten Fall Exportgüter. Äpfel und Autos lassen sich selbstverständlich nicht in Bezug auf ihren Vitamingehalt vergleichen, doch können beide Exportgüter sein und in dieser Hinsicht einen Vergleich sinnvoll erscheinen lassen.
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Als Vater der modernen Komparatistik wird häufig der französische Historiker Marc Bloch zitiert, der in einem programmatischen Artikel aus dem Jahre 1928 auf den Erkenntnisgewinn hinwies, den die Untersuchung ähnlicher Phänomene in unterschiedlichen Kontexten verspreche (1928; dt. Übersetzung 1994). Der Vergleich erlaube zum einen die Überprüfung von kausalen Verknüpfungen zwischen zwei oder mehr Ereignissen und ihre Verfeinerung: Ließ der Blick auf ein einzelnes Land es einleuchtend erscheinen, dass eine bestimmte Ursache eine bestimmte Wirkung hervorbringe, so könne der Vergleich zeigen, dass die gleiche Ursache auch andere Wirkungen haben könne bzw. dieselbe Wirkung durch unterschiedliche Ursachen hervorgebracht werden könne. Damit verhindere er monokausale Deutungen. Zum anderen verfremde der Vergleich Phänomene, die bisher natürlich erschienen, und provoziere damit neue Fragen an Altbekanntes. Verglichen werden könnten dabei Fälle, die zeitlich und räumlich weit voneinander entfernt lägen, oder solche, die miteinander in einer engen Beziehung stünden–Letzteres sei sogar interessanter, denn hier erlaube der Vergleich, verborgene Einflüsse aufzuzeigen sowie endogene und exogene Ursachen von Entwicklungen voneinander zu trennen.
Synchroner und diachroner Vergleich
Synchroner Vergleich: Vergleich von Ereignissen, Strukturen oder Entwicklungen, die sich zeitgleich in verschiedenen Regionen finden lassen (die Periode bleibt stabil, die Phänomene können unterschiedlich sein–Beispiel: Parteiensystem in Großbritannien und Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg). Demgegenüber untersucht der diachrone Vergleich diese Phänomene in zeitlicher Verschiebung (Phänomene bleiben stabil, Periode kann unterschiedlich sein–Beispiel: Auswirkungen der Einführung der Altersversicherung auf Familienstrukturen, dies kann in einem Land um 1870 sein, in einem anderen um 1920, in einem dritten erst 1990).
Die Geschichte des Vergleichs als wissenschaftliche Methode reicht jedoch wesentlich weiter zurück (Schriewer, 2003). Seit |31◄ ►32| dem ausgehenden 17. und dann vor allem im 18. Jahrhundert hatten sich die Naturwissenschaften in wachsendem Maße des Experiments als Instrument der planmäßigen Erhebung von Daten bedient, die dann klassifiziert und kategorisiert und dergestalt zur Überprüfung von Hypothesen eingesetzt wurden. Wo Experimente nicht möglich waren, suchte man sie durch Vergleiche zu ersetzen. In beiden Fällen jedoch ging es um die Erkenntnis allgemeiner und intersubjektiv überprüfbarer Gesetzmäßigkeiten. In ganz Europa wurde das 18. Jahrhundert zur Blütezeit der vergleichenden Anatomie, der vergleichenden Sprachwissenschaft und des proto-anthropologischen Vergleichs–aus Letzterem entwickelte sich dann die Lehre von den Entwicklungsstadien, die alle Völker und Nationen zu durchlaufen hätten. Die offensichtliche Differenz zwischen ihnen dürfe nicht davon ablenken, dass sie dennoch gemeinsamen historischen Gesetzmäßigkeiten unterworfen seien–diese waren sowohl die Bedingung wie auch das wesentliche Erkenntnisinteresse des historischen Vergleichs.
Brachte der Siegeszug des Historismus mit seiner Betonung der unhintergehbaren Individualität von Nationen und historischen Ereignissen die Abkehr von der Suche nach dem Allgemeinen und damit auch vom Vergleich, so führte die Wendung gegen den Historismus seit den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts vor allem in Deutschland zu einer neuen Blütezeit der Komparatistik. War es im 18. Jahrhundert die Begegnung mit den Naturwissenschaften, so wurde jetzt die Auseinandersetzung mit der Soziologie und den Wirtschaftswissenschaften, vor allem mit den Theorien zur gesellschaftlichen und ökonomischen Modernisierung, zur treibenden Kraft. Nicht mehr die Frage nach dem ›Wie‹ historischer Abläufe, sondern nach ihrem ›Warum‹ sollte fortan im Zentrum der Forschung stehen. Der Königsweg dorthin führte über den Vergleich (Wehler, 1980).
Gleichwohl wurde von Anfang an auch das Spannungsverhältnis zwischen zwei Tendenzen thematisiert: auf der einen Seite die Suche nach Gesetzmäßigkeiten, die eine Isolierung von Faktoren verlangt, um ihren Zusammenhang analysieren zu können; auf der anderen Seite das für die Geschichtswissenschaft zentrale Bestreben, diese Faktoren in ihren Kontext einzubetten und zu |32◄ ►33| betonen, dass erst dieser Kontext bedeutungsstiftend sei. Zudem spielte für die Geschichtswissenschaft die sprachliche Konstitution der Wirklichkeit, ihre Erfassung und Interpretation durch die historischen Akteure eine wesentlich größere Rolle als in den Sozialwissenschaften. Schufen Akteure durch ihre sprachliche Benennung Unterschiede zwischen Phänomenen, gaben sie ihnen damit unterschiedliche Bedeutung, so wurde argumentiert, dann könnten die Historiker diese Unterschiede nicht durch übergreifende Definitionen einebnen. Damit war das Ziel des Vergleichs nicht länger die Erkenntnis allgemeiner Gesetze, also solcher, die für alle Zeiten und Räume Gültigkeit beanspruchten, sondern die Erfassung von kausalen Zusammenhängen mit begrenzter Reichweite (Haupt / Kocka, 1996b; Kaelble, 1999a). Die Gesetze, denen die Geschichte unterworfen war, waren selbst Produkt der Geschichte und bedurften damit der Historisierung.
Auf der anderen Seite: Ohne Auswahl und Gewichtung von Faktoren und ohne die Frage, wie eine spätere Entwicklung mit einer früheren kausal zusammenhängt, ist Geschichtswissenschaft, selbst in ihrer historistischen Ausprägung, unmöglich. Der explizite Vergleich steht also nicht im Gegensatz zur Geschichte als Kontextwissenschaft, er systematisiert und rationalisiert lediglich, was ohnehin implizit stattfindet–auch die Behauptung der Singularität eines Phänomens setzt ja den Vergleich immer schon voraus.
Weniger gegen den Vergleich als solchen und seine Erkenntnisinteressen als gegen seine Methodik richtet sich denn auch die Kritik der letzten Jahre. Sie entzündete sich zum einen an der Auseinandersetzung um den ›europäischen Sonderweg‹, der seit Max Weber zum Motor für den Vergleich zwischen Europa und anderen Erdteilen geworden und dann in den Modernisierungsdebatten wieder aufgenommen wurde. Der Vergleich, das Postulat der Unterwerfung unter gemeinsame Gesetzmäßigkeiten, wehre der Festschreibung von Differenzen als natürlich gegeben (›Essentialisierung‹) und ihrer Hierarchisierung nur scheinbar.
Bestehende Unterschiede negierten zwar nicht mehr eine fundamentale Gleichheit. Dadurch jedoch, dass die ausgemachten Differenzen auf die Zeitschiene verlagert würden, also ein früheres|33◄ ►34| oder späteres Stadium der gemeinsamen Entwicklung darstellten –Asien etwa der europäischen Vergangenheit entspräche, Europa der asiatischen Zukunft, weshalb Vergleiche vorzugsweise diachron durchzuführen seien–käme es zu einem Verlust der Gleichzeitigkeit (denial of co-evalness, Fabian, 1983) und damit zur Ausblendung der Möglichkeit einer Rückführung dieser Unterschiede z. B. auf den Kolonialismus.
Der Vergleich, lautete der Vorwurf weiter, führe zu einer Defizitgeschichte. Nicht mehr ein von beiden Vergleichseinheiten unabhängiges tertium comparationis bilde den Maßstab, sondern eine der Einheiten stelle zugleich die Norm dar, an der die Entwicklung gemessen werde. Nicht um den Vergleich von Äpfeln und Birnen ginge es, um im Bilde zu bleiben, sondern darum, was der Birne fehle, um ein Apfel zu sein–die klassische Frage nach dem ›What went wrong with Islam?‹ (Lewis, 2002). Anders als im Falle des Obstes gäbe es für den Vergleich zwischen Kulturen keine Begriffe und keine Metaebene, die nicht ihrerseits schon sprachlich, historisch und kulturell geprägt seien. Zumal wenn die beiden Seiten des Vergleichs noch immer über unterschiedliche (wissenschafts-)politische Macht verfügten, die Möglichkeit eines »the Empire writes back« (Ashcroft / Griffiths / Tiffin, 1989) also nur marginal bestünde, führe der Vergleich damit zu einer Verfestigung des Ungleichgewichts.
Der zweite methodische Angriff kam von Seiten der Historiker, die räumliche Wanderungsprozesse untersuchten–sei es von Völkern, Sprachen, Ideen oder Artefakten: Ein methodisch sauberer Vergleich, der auf den Nachweis von Interdependenzen zwischen zwei Faktoren abziele, müsse von zwei oder mehr unabhängig voneinander existierenden Einheiten ausgehen, die zum einen über den Vergleichszeitraum hinweg stabil blieben, zum anderen weder auf gemeinsame Wurzeln zurückgingen, noch sich gegenseitig beeinflussten. In den Naturwissenschaften war dieser Einwand bereits im 19. Jahrhundert unter dem Stichwort ›Galtons Problem‹–nach dem britischen Rasseforscher Francis Galton–diskutiert worden (Kleinschmidt, 1991). Für die Neuzeit sei diese Form der Unabhängigkeit nur in Extremfällen gegeben, in der Regel seien die Untersuchungseinheiten vielmehr Teil eines|34◄ ►35| engen Beziehungsgeflechts. Dieses auszublenden führe nicht nur zu Verzerrungen, es nähre auch die Illusion von unabhängigen Nationalstaaten, deren Entwicklung durch endogene Faktoren zu erklären sei. Der Vergleich führe also gerade nicht zu einer Überwindung nationalstaatlicher Paradigmata, sondern im Gegenteil zu ihrer Verstärkung (Espagne, 2003).
Diese Vorwürfe haben zu einer überaus anregenden Diskussion sowohl innerhalb der Komparatistik wie auch zwischen den Komparatisten und den Transferhistorikern beigetragen und zur Entwicklung von Vorschlägen für eine Kombination beider Ansätze geführt. Sie sollen im nächsten Kapitel vorgestellt werden.
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