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So stehen rhythmische Funktionen wie Lidschlag, Schlucken, Saugen oder Magenperistaltik ebenso wie das fortlaufende Steigen und Fallen des Blutdrucks in einer nachgewiesenen Abhängigkeit vom Herz- und Atemrhythmus. Das gilt aber nicht nur für unwillkürlich ablaufende Körperfunktionen: Auch rhythmische Tätigkeiten wie Gehen, Radfahren und Joggen sind mit dem Herz-/Atemrhythmus gekoppelt – die Synchronisation oder Kopplung von Rhythmen funktioniert also auch bei bewusst durchgeführten Tätigkeiten.
Inzwischen bestätigen zahlreiche empirische Untersuchungen somit das, was schon zu Beginn dieses Kapitels gesagt wurde: Der Mensch ist – wie jeder andere Organismus auch – ein durch und durch rhythmisches Wesen.
Und ein entscheidender Impulsgeber ist dabei das Herz. Wie das funktioniert, lässt sich an einer höchst spannenden Entdeckung aus dem 17. Jahrhundert sehr gut illustrieren:
Christian Huygens (1629 – 1695), ein holländischer Mathematiker und Physiker mit großem Interesse an Mechanik, hat unter anderem die erste Pendeluhr konstruiert, zum Patent angemeldet und im Laufe seines Lebens auch eine stattliche Sammlung solcher Uhren zusammengetragen. Eines Tages dann stellte er zu seiner Überraschung fest, dass sich die Pendel aller in einem Raum befindlichen Uhren synchron bewegten, also immer gleichzeitig in die gleiche Richtung ausschlugen. Das erschien Huygens sehr unwahrscheinlich und er brachte diesen synchronen Rhythmus durcheinander, indem er alle Uhren kurz anhielt und zu verschiedenen Zeitpunkten wieder in Gang setzte. So oft er dies aber aber auch tat, es dauerte nie sehr lange, bis alle Uhren ihre Rhythmen wieder einander angeglichen hatten.
Damit hatte Huygens – auch wenn er es selbst noch nicht erklären konnte – ein in der Natur überall zu beobachtendes Phänomen entdeckt: die Frequenzkopplung. Und heute wissen wir, dass es immer der stärkste Impulsgeber (also zum Beispiel das größte Pendel) in einem rhythmischen System ist, auf den hin sich alle anderen Rhythmen synchronisieren.
Im menschlichen Körper nun sind Herz und Lunge die kräftigsten Impulsgeber, die deshalb auch in der Lage sind, andere rhythmische Systeme zu beeinflussen, sie in ihren Rhythmus „hineinzuziehen“. Da der Mensch keine Maschine ist, funktioniert diese Synchronisation – anders als bei einer Sammlung von Pendeluhren – allerdings nicht automatisch und auch nicht in jedem Fall. Umfangreiche Untersuchungen mit vielen Versuchspersonen haben aber gezeigt, dass das Herz seine synchronisierende, harmonisierende Funktion immer dann zur Wirkung bringen kann, wenn auch die Gefühlslage des Menschen ausgeglichen und harmonisch ist.
Es kann also heute mit Fug und Recht behauptet werden, dass das Herz als zentraler „Dirigent“ der rhythmischen Ordnung im Menschen wirkt. Und da praktisch alle körperlichen Vorgänge im Menschen rhythmisch durchgegliedert sind, hat das Herz, zusammen mit der Atmung, die zentrale integrierende und koordinierende Funktion im menschlichen Organismus. Und gleichzeitig ist das Herz – wie in den folgenden Kapiteln noch zu zeigen sein wird – das zentrale Organ für die gefühlsmäßige Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Umwelt.
Rein körperlich-funktional werden die Rhythmen der menschlichen Lebensprozesse allerdings vom vegetativen Nervensystem – dem Vegetativum – gesteuert. Und das Vegetativum nutzt dafür wiederum zwei „Gegenspieler“: den Sympathikus und den Parasympathikus. Generell kann man sagen, dass der Sympathikus die Aufgabe hat, den menschlichen Körper leistungsbereit, abwehrbereit, kampfbereit, fluchtbereit zu machen („fight or flight“). Der Parasympathikus will demgegenüber eher für Ruhe, Entspannung und Regeneration sorgen.
Das Vegetativum wirkt dabei auf sämtliche Organe ein und nutzt die Gegenspieler Sympathikus/Parasympathikus gleichsam als Hebel, um den Körper in einen situationsangepassten Zustand zu versetzen. Sicht- und spürbar wird das zum Beispiel in angstbesetzten Schrecksituationen: Der Mensch wird blass, kalter Schweiß bricht aus, auch die Hände werden kalt – je nach Konstitution. Genau umgekehrt verhält es sich bei einer freudigen Erregung. Das Vegetativum wirkt im Körper also sofort und überall – und es moduliert somit auch die Herzschlagabfolge (und damit die Herzfrequenz-Variabilität).
Etwas zugespitzt könnte man sagen, dass der Sympathikus dafür sorgen will, dass das Herz in einem möglichst exakt-gleichmäßigen Takt schlägt (und so seine „Truppen“ kampfbereit aufmarschieren lässt). Gelänge dem Sympathikus dies, wäre der Puls also nahezu regelmäßig. Die Kurve der Herzfrequenz-Variabilität sähe im Extremfall dann etwa so aus:

Diese Kurve zeigt zwar keinen vollkommen gleichmäßigen Puls (das kann es bei einem lebendigen Organismus nicht geben), aber doch einen Puls mit einer sehr geringen Herzfrequenz-Variabilität (was medizinisch gesehen ein deutliches Alarmzeichen ist).
Tritt nun jedoch die ausgleichende, abmildernde Wirkung des Parasympathikus hinzu, dann resultiert daraus eine ausgeprägt rhythmisch-harmonische Herzfrequenz-Variabilität:

Wie schon im ersten Kapitel gezeigt, lässt eine solche gleichmäßig „schwingende“ Herzfrequenz-Variabilität auf einen ausgeglichenen Gemütszustand schließen.
In der Praxis kommt es aber relativ häufig auch dazu, dass die Herzfrequenz-Variabilität überhaupt keinem erkennbaren Rhythmus folgt:

Die medizinisch-therapeutischen Schlussfolgerungen, die aus diesen unterschiedlichen Bildern der Herzfrequenz-Variabilität zu ziehen sind, werden uns später noch beschäftigen. Hier wollen wir zunächst dem schon angedeuteten Phänomen nachgehen, dass die starken Impulsgeber Herz und Lunge einen klar erkennbaren Einfluss auch auf andere Rhythmen des Organismus haben. So lässt sich beispielsweise eine solche Angleichung von Rhythmen sogar zwischen der Herzfrequenz-Variabilität und den Gehirnwellen feststellen:

Das obere Diagramm links zeigt das bereits bekannte Bild einer harmonischen Herzfrequenz-Variabilität. Diese Schwingungen entstehen, wie im Detail ab Seite 21 dargestellt, wenn die winzigen zeitlichen Abweichungen von einem Herzschlag zum nächsten (= Herzfrequenz-Variabilität) nicht ungeordnet, sondern harmonisch rhythmisiert erfolgen. Das kleinere Diagramm rechts daneben zeigt, welche Zeitabweichungen dabei am häufigsten gemessen wurden. In diesem Fall liegt der Schwerpunkt eindeutig bei 0,1 Hertz. Genauer gesagt: Die Abweichungen bei den Zeiträumen zwischen den einzelnen Herzschlägen lagen am häufigsten um und bei 0,1 Sekunden. Der insgesamt gemessene Bereich der zeitlichen Abweichungen bewegt sich dabei zwischen null und etwa einer halben Sekunde.
Wenn nun parallel zur Herzfrequenz-Variabilität auch der Verlauf der Gehirnwellen aufgezeichnet wird, dann zeigt sich an der Grafik auf Seite 40, rechts unten, insoweit eine Übereinstimmung zwischen dem Rhythmus der Herzfrequenz-Variabilität und dem der Gehirnwellen, als auch bei den Gehirnwellen die Frequenz 0,1 Hertz am häufigsten vorkommt – Herz und Gehirn haben sich in ihrem Rhythmus also weitgehend synchronisiert.
Und diese Koppelung von Rhythmen hat nun einen hochinteressanten Effekt: Es ist nämlich nicht nur so, dass das Herz andere körperliche Rhythmen beeinflusst, sondern umgekehrt hinterlassen diese anderen (sonst nicht so einfach zu messenden) Rhythmen des Vegetativums gleichsam „Zeichen“ in den Rhythmen der Herzfrequenz-Variabilität. Und diese können mithilfe von Zeitreihenanalysen aus den Werten der Herzfrequenz-Variabilität herausgelesen werden.
Das klingt ziemlich kompliziert – und das ist es auch. Im Bild kann man sich das etwa so vorstellen, wie man aus einiger Entfernung eine bewegte Meeresoberfläche wahrnimmt: Da gibt es die langen, starken Grundseen (vergleichbar vielleicht dem dominierenden Herz-/Atemrhythmus). Innerhalb dieser Grundseen sind nun weitere Wellen unterschiedlicher Länge und Höhe zu erkennen, die die Grundseen wiederum in einen bestimmten Rhythmus unterteilen. Und schließlich gibt es das sogenannte Kabbelwasser, das die gesamte Wasseroberfläche noch einmal rhythmisch kleinteilig gliedert.

Und ähnlich diesem Blick auf eine bewegte Meeresoberfläche, zeigt sich in den Messdaten der Herzfrequenz-Variabilität tatsächlich die gesamte komplexe Rhythmik des vegetativen Nervensystems. Konkret: Aus den Messdaten der Herzfrequenz-Variabilität lassen sich recht präzise Rückschlüsse auf den Gesamtzustand des Vegetativums ziehen.
Dass das und wie das möglich ist, zeigt ein einfaches Beispiel: Wenn wir es bei einer normalen Herzfrequenz-Variabilität zum Beispiel mit einem Viervierteltakt zu tun hätten (jeder vierte Taktschlag wäre also etwas „betonter“, ein wenig anders als die anderen), dann könnte es sein, dass gleichzeitig auch noch jeder siebte Taktschlag eine Betonung bekommt (kürzer oder länger ist als der Durchschnitt). Fällt von Zeit zu Zeit nun so ein siebter Taktschlag mit einem vierten Taktschlag zusammen, ergäbe sich ein sehr spezieller, komplexer Rhythmus.


Die erste Reihe zeigt einen 4/4-Takt, bei dem jeder vierte Schlag betont ist. Diesem Takt wird nun ein zweiter Takt überlagert, bei dem jeder siebte Schlag besonders stark betont wird.

Zählt man nun den Wert (die Stärke) der betonten Schläge zusammen, ergibt sich ein bereits recht komplexer Rhythmus unterschiedlich stark betonter Schläge. Man kann aber erkennen, dass sich die beiden Ausgangsrhythmen aus diesem Rhythmus wieder herausrechnen ließen.
Diese Abbildungen zeigen natürlich nur ein sehr einfaches und schematisches Beispiel für einen in der Herzfrequenz-Variabilität sichtbar werdenden zusammengesetzten Rhythmus. Bei einer echten Auswertung ginge es um ein sehr viel feineres Zusammenspiel, ein sehr viel komplizierteres Geflecht unterschiedlicher Rhythmen, die sich dann nur noch mithilfe entsprechender Software durch Anwendung spezieller mathematischer Verfahren (Zeitreihenanalyse, Fourieranalyse) aus der Herzfrequenz-Variabilität herausrechnen lassen.
Der Aufwand lohnt sich aber, denn die Ergebnisse erlauben Rückschlüsse auf den Gesundheitszustand des ganzen Menschen. Und der ist umso günstiger zu beurteilen, je deutlicher sich in den Zahlenreihen der Herzfrequenz-Variabilität ein harmonischer, schwingender Rhythmus erkennen lässt, der sich möglichst im Einklang mit anderen körperlichen Rhythmen befindet.
Außerdem wissen wir ja bereits – die bisherigen Forschungsergebnisse sind da eindeutig –, dass eine rhythmisch schwingende Herzfrequenz-Variabilität auf einen positiv gestimmten emotionalen Zustand schließen lässt. Die große Bedeutung dieser Erkenntnis liegt nun darin, dass hier der Ansatzpunkt für neue und zum Teil verblüffend wirksame Therapieformen liegt. Denn wenn es gelingt, etwa durch bestimmte Übungen, sich bewusst in einen positiven Gemütszustand (Wertschätzung, Liebe, Gelassenheit usw.) hineinzuversetzen, so wirkt dies direkt harmonisierend und damit auch gesundend auf das Vegetativum. Das folgende Schaubild zeigt solche Effekte:

Dieses Schaubild zeigt, wie sich die Rhythmen von Atmung, Herzfrequenz-Variabilität und Pulswellenlaufzeit10 von ungeordnet (links) hin zu harmonisch-schwingend (rechts) entwickeln können, wenn das Vegetativum durch eine entspannende Übung11 ins Gleichgewicht gebracht wird.
Wobei sich die Wirkung einer solchen Übung auf das vegetative Nervensystem an den durch sie ausgelösten Veränderungen der Herzfrequenz-Variabilität exakt und in Echtzeit ablesen lässt – eine Rückmeldung, die für den Erfolg einer Therapie natürlich entscheidend ist. Was diese Rückmeldung möglich macht, ist die bereits erwähnte Zeitreihenanalyse, die es mit Computerunterstützung erlaubt, große Datenmengen schnell auf die in ihnen verborgenen Gesetzmäßigkeiten (sprich: Rhythmen) zu untersuchen.
Praktisch sieht das dann so aus, dass der Patient einen Messclip am Ohr trägt, der die Pulsdaten direkt in einen PC überträgt. Dort wird die Herzfrequenz-Variabilität erfasst, ausgewertet und in eine Grafik umgesetzt12:

Im oberen Teil dieser Bildschirmdarstellung wird die Messung der Herzfrequenz-Variabilität gezeigt. Mit inzwischen geübtem Blick lässt sich unschwer erkennen, dass die Herzfrequenz-Variabilität hier eher ungeordnet, unharmonisch verläuft.
Neu ist der untere Teil des Schaubilds, der – mit einer Zeitreihenanalyse aus der Herzfrequenz-Variabilität herausgerechnet – den Gesamtzustand des Vegetativums anzeigt. Konkret geht es um die Frage, ob aktuell (zum Beispiel unter Stress) der Sympathikus bestimmend ist oder der Parasympathikus (wie im Tiefschlaf). Dies zeigen die Säulen im unteren Teil der Schaubilder auf dieser und der nächsten Seite. Sie sind also so etwas wie eine Momentanalyse des Vegetativums. Dafür wird laufend die Herzfrequenz-Variabilität der jeweils letzten zehn Sekunden analysiert und dabei unter anderem errechnet, ob sich die in der Herzfrequenz-Variabilität erkennbar werdenden Rhythmen in einem definierten Idealbereich bewegen oder ob sie mehr oder weniger weit davon abweichen.
Dabei gilt: Befinden sich die Säulen im unteren Bildschirmbereich ganz links, dann hat der Sympathikus die Überhand. Je mehr die Säulen sich nach rechts hin verlagern, desto stärker hat der Parasympathikus an Einfluss gewonnen. Ideal wäre es demzufolge, wenn sich die Säulen – wie im folgenden Schaubild auf Seite 47 – vor allem im mittleren Bereich (also bei einer Herzfrequenz-Variabilität um 0,1 Hertz herum) zeigen.
Diese Möglichkeit, mithilfe einer computergestützten Zeitreihenanalyse eine laufende Rückmeldung über den aktuellen Gesamtzustand des Vegetativums auf dem Bildschirm sichtbar zu machen, erlaubt es nun, die Herzfrequenz-Variabilität nicht nur diagnostisch zu nutzen, sondern auch als therapeutisches Werkzeug einzusetzen – wovon in späteren Kapiteln berichtet werden wird. Im folgenden Gastbeitrag von Prof. Dr. Moser aus Graz werden die chronobiologischen und chronomedizinischen Grundlagen ausführlich dargestellt. Es handelt sich hier um die Resultate jahrzehntelanger Forschung auf höchstem wissenschaftlichem Niveau.

Zum Weiterlesen und Vertiefen
Eller-Brendl, D.: Herzratenvariabilität; Verlagshaus der Ärzte 2010
Hildebrandt, G.; Moser, M.; Lehofer, M.: Chronobiologie und Chronomedizin / Biologische Rhythmen – medizinische Konsequenzen, HRI-Gesundheitsleitsystem 2013 (in Vorbereitung)
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