Der Junge mit dem Feueramulett - Die Schule der Alchemisten

- -
- 100%
- +
Und dann dieser kreischende Ichto. Die schreiende Makrele. Konnte der nicht einmal seine Kiemendeckel geschlossen halten? Wir wissen ja langsam, dass du Fisch verkaufst. Du Fisch. Du dreckiger, stinkender Fisch. Du dummer, hässlicher Fisch. Fast so schlimm wie ein Torak. Geh doch zurück nach Ichtien, wo du herkommst. Zurück zu deiner dummen Königin. Dass Flanakan euch überhaupt hier nach Conchar reinläßt. Manchmal kann man die Entscheidungen des Herrschers nicht wirklich nachvollziehen. Ich könnte ganz gut ohne Fisch leben. Wer braucht schon Fisch? Hier in Conchar braucht keiner Fisch. Dann wäre der Gestank weg. Und diese Schreierei. Bleibt doch auf euren Inseln. Kann dieser Ichto jetzt endlich mal still sein, die Schreiende Makrele?
Und jetzt auch noch so ein kleiner Wahter. Wie kommt der denn hierher? Gibt’s nicht genug Nüsse im Dunklen Wald, du kleiner Fellhaufen? Bei denen kann man noch nicht mal die Augen sehen. Die führen doch etwas im Schilde. Bestimmt. Hinterhältige dumme, stinkende, kleine Biester. Das ist meine Stadt. Was wollt ihr hier? Meine Luft verpesten?
Der Herbstwind fegte über den Marktplatz. Die Händler hatten ihre Baldachine eingeholt und sich hinter ihren Wägen verschanzt. Die Einwohner Conchars, in ihre Mäntel gehüllt, waren mit Körben und Handkarren gekommen, um sich mit den Dingen des täglichen Bedarfs einzudecken. Das Angebot hier suchte in Haragor seinesgleichen. Natürlich gab es alles, was aus Winx herstellbar war. Von Schoff bis Zuckerwatte. Aus dem hohen Norden waren die Holz- und Erzhändler angereist. Ichtos boten viel Fischiges an. Alchemisten aus dem Erzgebirge verkauften Feuerwerkskörper und Aus-Blei-mach-Gold-Tinkturen. Govas und sogar einige Govans boten Furunkelsalben, Liebesgarantien, Herzensbrecher und diverse Mittelchen zur Antlitzverschönerung an. Selbst Vampyre und Fasachen waren zu sehen. Eine bunte Völkervielfalt, die friedlich umeinander stolperte auf der Suche nach Balsam für ihre unerfüllten Wünsche.
Ein Mann war neben den Schatten getreten. Es war eine geschützte Stelle, an der man sich ein wenig vor dem stetigen Wind verstecken konnte.
»Die Toraks strecken das Schoff, schon gehört?«
Der Mann sah den Schatten neugierig an.
»Echt?«
»Ja. Gestern war ich im ›Knochenbruch‹. Total dünnes Schoff.«
»Was suchst du denn im ›Knochenbruch‹? Ist doch eher eine Torak-Kneipe, oder?«
»Geschäfte. Wirklich dünnes Schoff. Sehr dünn!«
»Lass mich überlegen. Mein letztes Schoff hatte ich im ›Hustenden Hans‹. War eigentlich ganz lecker. Und der Wirt ist auch ein Torak.«
»Ist bestimmt schon eine Weile her.«
»Stimmt. Schon ein paar Tage.«
»Geh da nochmal hin. Ich wette, das Schoff ist da inzwischen auch dünner. Die Toraks wollen uns vergiften!«
»Mit dünnem Schoff?«
»Ganz genau, mit dünnem Schoff.« Die Stimme des Schatten war jetzt ein wenig schärfer geworden.
»Hör mal Kumpel. Kann das sein, dass du heute zu viel von diesem dünnen Schoff getrunken hast?« Der Mann klopfte dem Schatten gutmütig auf die Schulter. Der Schatten verschluckte sich daraufhin und hustete und spuckte eine Weile vor sich hin. Der Mann sah ihn besorgt an.
»Erste Vergiftungserscheinungen!«, bellte der Schatten.
»Sicherlich, Kumpel. Vergiftungserscheinungen, ganz bestimmt. Du, ich muss noch eine Bratpfanne holen. Ich geh da hinten mal zu dem Schmied. Schönen Tag noch.«
Der Mann verschwand in der Menge und ließ den Schatten zurück, der immer noch vor sich hin hüstelte.
Giftmischer, das sind sie. Toraks sind Giftmischer, jawohl.
*
Nach dem Tod des Oguls war die Trauer um Wallas von der Hoffnung aufgehellt worden, Antworten auf viele Fragen zu bekommen. Wer war er, Kard? Aber ohne das Minas-Schwert an seinem Gürtel hatte Kard bald angefangen, an allem zu zweifeln. Er, eine Schmiedemeister? Irgendwie lächerlich. Was hatte er denn bisher gemacht? Schaufelblätter, Gartenzäune. Oder mal einen Schlüssel gegossen. Dann hatte er mit Hilfe von Wallas das Minas-Schwert geschaffen. Er hatte die Klinge in die Lava gesteckt, na und? War jetzt auch nicht so schwer gewesen. Gut, dass ihm die Hände nicht verbrannt waren, war schon irgendwie seltsam gewesen, aber er hatte selbst eigentlich nichts dafür gemacht. Er hatte bisher immer nur das gemacht, was andere ihm gesagt hatten. Ein braver Waisenjunge. Immer hatte er schön den Göttern geopfert. Ein braver Lehrling eines angesehenen Schmiedes. Aber letztendlich war er ein Nichts. Ein braves Nichts.
Als sie vom Branubrabat aufgebrochen waren, hatte ihn noch die Frage nach seinen Eltern umgetrieben. Konnte die Beantwortung dieser Frage Licht in sein Dunkel bringen? Aber inzwischen hatte er aufgehört zu fragen. Welche Eltern gaben ihr Kind denn weg und brachten es in ein Waisenhaus? War er das Kind eines unüberlegten Augenblicks, unerwünscht, überflüssig? Oder diese seltsame Kraft, die ihm das Feuer verlieh. War sie vielleicht sogar der Grund, wieso man ihn weggegeben hatte? Warum noch die Frage nach seiner Herkunft stellen, wenn die Antwort doch nur sein konnte, dass er selbst für seine Eltern nur das Nichts gewesen war, als das er sich jetzt selbst fühlte.
Und dieses ganze Nichts-Sein machte ihn wütend, er wusste selbst nicht warum. Mit der Linken fest die Zange im Griff, mit der er das vierhundertdreiundachtzigste Küchenmesser seines Schmiedemeister-Daseins auf den Amboss drückte, mit der Rechten den schweren Hammer über den Kopf und dann rumms runter damit und mit aller Macht auf das glühende Metall hauen. Die Funken stoben und trafen auf seine nackten Unterarme, ohne irgendwelche Spuren dort zu hinterlassen. Und schon schwebte der Hammer wieder in der Luft und mit seiner ganzen Kraft flog das Eisen auf das Stück Metall, das eigentlich ein Messer werden sollte und nun wahrscheinlich als Löffel enden würde.
Und jetzt stand auch noch dieser dumme, kleine Junge mit seinen großen, fragenden Augen vor ihm. Ein Waisenjunge, wie er selbst. Aber mit dieser kindlichen Fröhlichkeit, dieser Unschuld und diesem Gottvertrauen. Kard würde ihm am liebsten links und rechts eine Ohrfeige verpassen.
Schau dich um, Benji, wo sind diese verdammten Götter? Sie helfen dir nicht, wenn du in Not bist, egal wieviel du ihnen geopfert hast. Sie sagen dir nicht, wer du bist, noch verraten sie dir, wer deine Eltern sind. Aber das willst du ja auch gar nicht wissen. Du dummer, dummer, dummer, kleiner Junge.
Benji starrte ihn immer noch entsetzt an, nachdem Kard gerade eben die Götter verspottet hatte. Die Müdigkeit im Gesicht des Jungen, dann dieses Nicht-Verstehen und der Schmutz, der sein Gesicht wie eine graue Patina bedeckte, all das ließ Kard plötzlich lachen. Hatte der Junge tatsächlich von der Gerechtigkeit der Govas, der Goiba-Priesterinnen Haragors, gesprochen?
»Die Govas, Benji, erzählen dir viel, damit du ihnen so wenig wie möglich Arbeit machst. Ich meine, was haben die davon, dass sie die ganzen Kinder durchfüttern? Die Govas können froh sein, wenn ein Bauer für euch eines Tages eine schöne Summe auf den Tisch legt, damit ihr ihm dann für eine dünne Winxgrassuppe die Ställe ausmistet. Das Wenigste, was sie daher von euch verlangen, ist der Respekt vor Goiba und ihren Schwestern und damit vor ihnen. Man stelle sich ein Waisenhaus vor, in dem die Kinder plötzlich täten, was sie wollten. Wo käme man da denn hin? Nein, die Govas geben euch Essen und ihr gebt ihnen Gehorsam und Respekt, ganz einfach.«
»Ganz einfach?«
»Ganz einfach.«
»Also, Herr Schmied, du magst ja mit dem Hammer umgehen können, aber von einem Waisenhaus hast du ja wohl keine Ahnung.«
Kard sah Benji verdutzt an. Madad war bei Benjis Worten erst aufgesprungen, jetzt hatte sich ein fröhliches Grinsen in seinem Maul breit gemacht.
»Yo, Mann, dieser Schmied, dieser Kard…«
Kard gab dem Cu ein Zeichen. Madad verstummte.
»Wieso glaubst du, du hergelaufener Waisenjunge, dass ich, Kard, keine Ahnung von einem Waisenhaus habe?«
»Weil es dort ganz und gar nicht so funktioniert, wie du gesagt hast. Die Govas sind nämlich einmal viel netter und dann machen sie doch mit uns ein Geschäft.«
»Ein Geschäft? Du meinst, die paar Argits, die die Bauern zahlen, wenn sie ein Kind auf ihren Hof holen?«
»Nein, doch nicht das. Damit verdienen sie tatsächlich nicht viel. Aber natürlich ist ein Waisenhaus letztendlich ein Geschäftsmodell.«
Verständnislos starrte Kard dieses dreckige, kleine Kind an, das ihn jetzt frech angrinste. Benji neigte sich vertrauensvoll zu Kard und flüsterte.
»Die Govas bekommen von jemanden Geld dafür, dass sie uns durchfüttern.«
»Du meinst die Opfergaben von den Gläubigen?«
»Nein, das nicht.« Benji schwieg kurz, schien zu überlegen und schaute Kard dann ins Gesicht. »Ich habe es selbst gesehen.«
»Was hast du gesehen?«
»Es gibt ein Buch, in dem sie alles hineinschreiben.«
»Was hineinschreiben?«
»Also, ich erzähle es euch jetzt. Aber ihr dürft das niemandem weitersagen, einverstanden?«
Kard und Madad nickten stumm.
»Ich hatte einmal Putzdienst im Büro der Großgova, der Obersten Gova, der Chefin, ihr wisst schon. Und bin dabei eingeschlafen. Lag unter dem Schreibtisch und träumte davon, wie ich im Sommer im See schwamm. Das Wasser war warm, ich ließ mich treiben und draußen war es doch in Wirklichkeit Winter. Im Traum sprang gerade ein Monster in den See und es machte einen Riesenplatsch und ich wachte auf und dann merkte ich, dass das in Wahrheit das Geräusch der Tür war und die Oberste Gova mit so einer reichen Dame reingekommen war. Dass sie reich war, habe ich an den Schuhen gesehen. Feinstes Tok-Rind-Leder mit Glitzersteinen und innen mit Faols-Fell gefüttert. Vielleicht eine Amazone, dachte ich erst, wegen des Faols-Fells. Ihr wisst bestimmt, dass Amazonen Faols essen?«
Kard und Madad nickten stumm, ohne zu widersprechen.
»Aber es war keine Amazone. Die hatte nämlich ein Kind dabei. Ihr wisst ja bestimmt auch, dass Amazonen Kinder essen, oder?«
Wiederum nickten Kard und Madad still.
»Eine Amazone konnte es also nicht sein. Wahrscheinlich dann eine Reiche aus der Stadt? Oder eine reiche Bäuerin mit ihren Sonntagsschuhen? Wie auch immer, diese Frau war im Waisenhaus, um ein Kind abzugeben. Das war wie eine Verhandlung! Wie, wenn man bei so einem kreischenden Ichto einen schönen Fisch kaufen will. Erst verlangen die hundert Argits und erzählen dir, was das für ein seltener und leckerer und einmaliger Fisch ist und letztendlich kriegst du ihn für einen halben Argit und es ist nur ein falscher Burla. Genauso war es mit dieser reichen Frau und der Obersten Gova. Dann einigten sie sich auf einen Preis und ich weiß noch genau, wie die Oberste Gova mehrmals betonte, dass die Frau diese Summe jährlich zahlen muss. Immer zum Jahresdadeugende. Wisst ihr wieviel?«
»100 Argits?«
»200 Argits?«
Benji ließ Kard und Madad ein Weile genüßlich zappeln.
»Tausend Argits. Im Jahr. Jedes Jahr. Immer wieder. Tausend Argits.«
»So ein Quatsch. Wer zahlt denn tausend Argits dafür, dass die Govas auf das Kind aufpassen?«
»Weiß ich nicht, ist mir auch egal. Die Oberste Gova hat aber alles in ein Buch geschrieben. Und die reiche Dame musste wohl unterschreiben. Habe ich natürlich nicht gesehen, ich lag ja unter dem Tisch. Aber ich habe das Rascheln von dem Papier gehört und dann, wie die Federn über das Papier kratzten. Und dann ging die Frau und das Kind blieb zurück. Die Oberste Gova hat das Buch wieder in die Bibliothek gebracht und die Kleine dann zu uns in den Schlafsaal. Da dachte ich erst, oh, so ein edles Fräulein, die wird jetzt hier aber bestimmt wie eine kleine Prinzessin behandelt. Aber war nicht. Wurde ganz normal behandelt. Bekam die gleiche dünne Winxsuppe. Ist genauso wie wir anderen. Ein ganz normales Waisenkind.«
»Ein ganz normales Waisenkind?«
»Genau. Wir wir alle. Versteht ihr?«
Kard und Madad schauten sich an. Und zuckten mit den Schultern.
»Dieses Kind, das Buch, dieses Geschacher. Das machen die Govas bei allen. Versteht ihr? Jemand bezahlt die Govas dafür, dass sie uns durchfüttern und auf uns aufpassen. Nicht nur bei der kleinen Prinzessin. Das war die Mona übrigens, ist jetzt eine gute Freundin von mir. Ich meine, unsere Eltern hätten uns doch auch einfach auf die Straße setzen können. Gibt doch sogar hier in Truk ein paar von diesen Straßenkindern, oder? In der Alten Stadt soll es ganz viele davon geben. Und in Conchar sollen sie ganze Stadtviertel kontrollieren, hat mal einer erzählt. Oder man verkauft die Mädchen an eine Goiba-Priesterin zum Opfern, versteht ihr?Aber es gibt auch genug Mädchen bei uns im Waisenhaus. Hätte man gut verkaufen können. Goiba hätte sich gefreut. Aber nein, man gibt sie in ein Waisenhaus. Das von Govas geführt wird. Statt sie Goiba zu opfern. Ist doch alles irgendwie seltsam, findet ihr nicht?«
Kard nickte. Jemand bezahlt dafür, dass die Kinder überleben, nicht umkommen, nicht geopfert werden? Diese Information sickerte ganz leise und langsam in die große Leere, die in ihm wartete. Jemand, wahrscheinlich die Eltern, sorgte dafür, dass das Kind überlebte. In seiner tiefen Dunkelheit erglomm plötzlich ein kleine Flamme, ganz winzig, kaum zu spüren.
»Ist ja interessant, Benji. Aber jetzt gehen wir mal schlafen. Ist schon spät.«
»Oh, darf ich hier bleiben. Super. Ist so schön warm hier.«
»Ja, bleib mal da.«
»Bist du denn noch nicht fertig mit den Ofengriffen?«
»Doch. Nein. Muss ich mir morgen nochmal anschauen.«
»Gut, ich bleibe gerne hier.«
Madad war bei den Worten des Jungen ganz still geworden. Was gar nicht seine Art war. Kard spürte den Blick seines Freundes, seine Neugier, seine Abenteuerlust. Er nickte ihm zu. Erstmal die Nacht abwarten. Denn er musste über die Dinge, die Benji gerade erzählt hatte, einmal gründlich nachdenken.
*
Die Sonne war inzwischen untergegangen und die Bürger Conchars hatten sich in ihre Hütten und Häuser zurückgezogen. Auch Tsarr, Oberste Priesterin von Goiba, hatte sich in ihre privaten Gemächer innerhalb der Schwarzen Burg zurückgezogen und bereitete sich auf die bevorstehende Aufgabe vor.
Flanakan mochte die Schergen haben, die ihm Informationen aus dem letzten Winkel seines Reiches zutrugen, Tsarr hatte ihre Obsidiankugel. Und damit eine direkte Verbindung zu allen Govas ihrer Sippe! Und das waren nicht wenige! Tsarr hatte in den letzten Jahrzehnten dafür gesorgt, dass in allen wichtigen Goiba-Tempeln des Reiches ihre Nichten und Großnichten als Oberste Priesterinnen ihren Dienst versahen. Selbst auf Amazonien und in Ichtien waren die Priesterinnen, was gerade bei den Halbkiemenatmern doch irgendwie wunderlich war, über mehrere Seitenlinien mit ihr verwandt. Die Anbetung und damit die Macht Goibas war fest in der Hand ihrer Familie. Leider war ihre einzige Enkeltochter vor einigen Jahren aus dem Leben geschieden, nachdem sich schon deren Mutter vorzeitig aus dem Staub gemacht hatte. Ärgerlich schluckte Tsarr die Erinnerung daran hinunter.
Tsarr stand vor einem Spiegel und blies sich eine störrige Locke, die ihr immer wieder über das Auge fiel, zum hundertsten Mal aus dem Gesicht. Gleich würde die magische Versammlung beginnen, da wollte sie einen guten Eindruck machen. Obwohl es ihr im Endeffekt natürlich gleichgültig war, was ihre Priesterinnen von ihr hielten. Sie war die Oberste Gova des Reiches, für Tsarr zählte nur Gehorsam. Aber diesen Gehorsam konnte sie natürlich nur einfordern, solange ihr der Respekt der anderen sicher war. Und dazu gehörte natürlich ein gewisses Aussehen. Niemand sah ihr an, dass sie dank der dunklen Magie von Goiba bereits über hundert Menschenjahre zählte, obwohl dass natürlich alle wussten. Sie war die Erste der Ersten und niemand sollte daran jemals zweifeln.
Der einzige, dem sie selbst Respekt entgegen brachte, war der Herrscher. Und das obwohl er ja ein Bastard war, in Tsarrs Augen ein ewiger Makel. Sie selbst konnte auf Generationen von reinrassigen Goiba-Priesterinnen zurückschauen, ihr Stammbaum reichte hinab bis zu den Anfängen des Reiches, als noch die Drachenkrieger die Herrschaft über Haragor innehatten. Aber Flanakan? Gezeugt aus einer zweifelhaften Verbindung zwischen dem Drachenkönig und seiner Liebschaft, einer ehrlosen Vampyrin. Flanakan war ein Bastard mit unreinem Blut. Aber von den Göttern mit der Magie Goibas und zudem mit der Magie Branus gesegnet, einer magischen Kraft, die der von Tsarr in nichts nachstand. Allein deswegen zollte ihm die große Tsarr Respekt und Anerkennung. Umso verwunderlicher, dass der Herrscher trotz seiner magischen Fähigkeiten die Vorboten des Unheils nicht sehen wollte.
Tsarr erinnerte sich an die vielen Katzenleichen, die sie im Tempel ihrer Göttin geopfert hatte. Dutzende hatte sie geschlachtet und immer wieder die Zukunft Haragors erfragt. Und jetzt war sich Tsarr sicher, dass das Unglück, dass mit der Sonnenfinsternis ihren Anfang genommen hatte, noch lange nicht überstanden war. Deutlich waren im Gedärm weitere Anzeichen einer sich ausbreitenden Branu-Krankheit zu erkennen. So als ob der heilige Vulkan Branubrabat selbst eine kurze Rauchwolke in den Himmel des Reiches katapultiert hätte, um seine baldige Explosion anzukündigen. Flieht, ihr Sehenden, denn die Macht der Zerstörung, die Macht des Feuers wird bald auf euch niederregnen, schien er sagen zu wollen. Aber nicht umsonst war Tsarr seit Jahrzehnten die Oberste Goiba-Priesterin. Die Macht Branus war nur mit der Macht Goibas zu kontrollieren. Und Goiba ließ sich nicht durch ein paar tote Ichtos herbeirufen und noch weniger dadurch, dass man ein paar Toraks erhängte oder zu Sklaven machte. Obwohl das natürlich schon ein wenig half. Es war die richtige Richtung, aber Flanakan erkannte nicht die Brisanz der Lage. Die wenigen Jungfrauen, die sie zur Sonnenfinsternis geopfert hatte, waren nicht falsch gewesen, aber Tsarr war sich sicher, dass die Gefahr noch lange nicht gebändigt war.
Die Obsidiankugel knackte und ein schwarzweißes Gekrissel breitete sich über die Oberfläche aus.
»Schwestern!«
Hätte die Kugel Geräusche von sich gegeben, hätte man ein vielstimmiges, zustimmendes Gemurmel gehört. Aber die Kugel selbst blieb stumm, das schwarzweiße Gekrissel war in sich zusammen gefallen und hatte sich in ein gleichmäßiges graues Pulsieren verwandelt. Die Kugel selbst war nur das Medium für die magische Übertragung von Gedanken. Alles spielte sich daher nur in Tsarrs Kopf ab.
»Schwestern, ich habe über hundert Katzen getötet.«
Erstauntes Gemurmel. Hundert Katzen. Ganz schöne Menge. Und das von der Obersten Gova von Goiba. Das sollte schon etwas heißen. Aber was eigentlich?
»Ich sehe die Ankunft einer gefährlichen Branu-Energie, so wie wir es damals alle bei der Sonnenfinsternis gesehen haben.«
Zustimmendes Gemurmel. Entsetzen. Abscheu. Dieser Branu. Oh Goiba steh mir bei.
»Unser großer Herrscher Flanakan…«
Lautes zustimmendes Gemurmel, teilweise begeisterte Schreie, ähnlich dem junger Mädchen, wenn der Barde Weiße Schlange zum ersten Mal auf die Bühne tritt.
»…sieht wie ich diese Gefahr…«
Tsarr, der diese Worte einfach so aus dem Mund geflossen waren, erkannte zwar, dass sie gerade ihre Sippe anlog, aber sie war sich sicher, dass die Zeit ihren jetzigen Worten zur Wahrheit verhelfen würde.
»…aber ich befürchte, dass die angesetzten Hinrichtungen nicht ausreichen werden…«
Mit einem Schlag Stille. Tsarr hatte ein wenig gehofft, dass die Brisanz der Lage nicht so offensichtlich zu Tage treten würde, aber die versammelte magische Familie hatte sofort verstanden, dass hier etwas Ungewöhnliches von statten ging.
»…wir werden den Großen Herrscher also mit allen Kräften unterstützen…«
Das Gemurmel setzte wieder ein.
»…irgendwo da draußen läuft immer noch dieser Junge herum…«
Wieder diese plötzliche Stille. Dass ihre Sippe aber auch immer sofort erkannte, wenn etwas im Busch war.
»Wir…«
Immer beruhigend, wenn man den anderen das Gefühl vermitteln, an der Entscheidung irgendwie beteiligt zu sein. Wobei eigentlich nicht klar war, wer mit dem Wir gemeint war. Tsarr und ihre Sippe, Tsarr und Flanakan oder alle zusammen?
»…müssen die Augen offen halten. Achtet darauf, ob ihr einem Jungen begegnet, der den giften Atems Branus verströmt. Schaut öfters in die Katzengedärme. Opfert zum Dadeugende mehr als üblich… für Goiba und unserem Großen Herrscher Flanakan.«
Die Nennung der Göttin und des Herrschers beruhigte die aufgeregte Gemeinde. Schon setzte wieder das sanfte Gemurmel ein.
»Und schaut euch nach Jungfrauen in euren Tempelbezirken um. Vielleicht brauchen wir sie bald wieder.«
Alles klar, Jungfrauenopfer waren schon immer Garantien für Goibas Segen gewesen.
»Goiba für immer.«
Goiba für immer. Immer, immer, immer. Langsam verabschiedeten sich die Govas Haragors aus der magischen Gedankenversammlung. Es war getan. Der Auftrag, den Jungen zu finden, war ausgesprochen worden. Es würde keine Stadt, kein Dorf geben, in dem ein Junge mit verdächtiger Branu-Aura unentdeckt bleiben würde. Auch wenn Flanakan das nicht angeordnet hatte, war es das Richtige. Das Richtige für das Reich, für Goiba. Für sie selbst.
Das sanfte Glimmen der Obsidiankugel war inzwischen erloschen und im privaten Gemach der Obersten Priesterin herrschte nun wieder magische Stille. Tsarr starrte noch eine Weile auf die glänzende Oberfläche der Kugel und konnte selbst in der Dunkelheit ihr verzerrtes Spiegelbild auf der Oberfläche erkennen. War es das Ritual, das sie immer ermüdet, oder wieso fühlte sie sich plötzlich so erschöpft? Oder sollte sich trotz des Zaubers die Müdigkeit des Alters bemerkbar machen? Aber sie hatte nicht alles, was ihr im Leben wichtig war, geopfert, um irgendwann in ihrem Leben sich dem Schicksal zu beugen. Niemals würde sie Branu oder einem seiner Gefolgsleute das Spiel übergeben.
*
Die Nacht war inzwischen weit fortgeschritten, der kalte Herbstwind fegte durch Conchars Gassen und die herumstreunenden Katzen wunderten sich, dass aus einem Haus laute Stimmen und fröhliches Gelächter erscholl. Der ›Rülpsende Roland‹ war bekannt dafür, dass er bis tief in die Nacht Menschen einen Rückzugsort vor den Mühen des Alltags bot.
Klaus schenkte dem Schatten noch einmal Schoff nach. Diese Person war ganz nach seinem Geschmack. Es tat so gut, wenn einer mal aussprach, was alle nur dachten. Diese Toraks waren Schoffpanscher! Ganz klar! Und dieses Gerücht, das seit einigen Wochen die Runde in Conchar machte, brachte ihm immer mehr Gäste. Die Idee, einfach die Nachbarkneipe zu übernehmen, so wie es der Schatten gerade vorgeschlagen hatte, war einfach genial. Denn der Wirt des ›Hustenden Hans‹, ein Torak natürlich, war erst gestern von den Wachen abgeführt worden. Und warum nicht seine eigene Kneipe, den ›Rülpsenden Roland‹ einfach erweitern? Er musste nur die Wand zwischen den beiden Schankräumen einreißen und schon hätte er doppelt so viel Platz.
»Und die Tür vom ›Hustenden Hans‹ einfach zunageln?«
Der Schatten nickte. »Besser noch zumauern. Diesen gewaltbereiten Toraks ist nicht zu trauen. Denen muss klar sein, dass sie hier nicht mehr erwünscht sind.«
Klaus lachte. Das wäre ja noch schöner, wenn sich ein Torak in seine Kneipe verirren würde. Er schaute in die Runde und alle Leute am Stammtisch schauten ihn aufmunternd an.
»Kein Schoff für Toraks hier!«
»Toraks müssen draußen bleiben!«
»Die sollen mal gefälligst ihr eigenes Gesöff trinken. Diese Panscher.«
Der ›Rülpsende Roland‹ war zum Bersten voll. Klaus stellte sich vor, wie viele Gäste es erst sein würden, wenn der Schankraum des ›Hustenden Hans‹ noch dazu kommen würde. Allerdings würde er dann noch ein paar Schankmädchen einstellen müssen, was ihm nicht so wirklich schmeckte. Aber es half ja alles nichts.
»Äh, aber ist das nicht illegal?«
Klaus schaute den Mann, der das gesagt hatte, mißbilligend an.
»Bist wohl ein Torak-Freund, oder was?«
»Nein, aber die Wachen…«
Der Mann konnte seinen Satz nicht beenden, denn der Schatten unterbrach ihn wütend.
»Die Wachen werden ja wohl kaum gegen einen unschuldigen Menschen vorgehen. Es ist das gute Recht eines Menschen, dass er alles Notwendige tut.«





