Der Junge mit dem Feueramulett - Die Schule der Alchemisten

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»Äh, wie, das Notwendige…?«
»Mann, die Menschen haben Durst. Soll da diese Torak-Kneipe leer stehen. Das wäre doch vollkommen idiotisch.«
Der Schatten fing an, mit seinem Schoffkrug rhythmisch auf den Tisch zu hämmern, begleitet von Wir-haben-Durst-Rufen. Nach wenigen Augenblicken hatte die Welle die gesamte Kneipe erfasst.
»Wir haben Durst. Wir haben Durst. Wir haben Durst.«
Ein Chor durstiger Menschenmänner.
Dermaßen geeint, brauchte es nur wenig, um die Menge zu weiteren Taten aufzuwiegeln. Der Schatten nahm sich einen Vorschlaghammer, der wie zufällig an der Wand lehnte, was Klaus verwunderte, denn er konnte sich gar nicht daran erinnern, überhaupt einen Vorschlaghammer zu besitzen, und drückte ihn Klaus in die Hand. Der Wirt des ›Rülpsenden Rolands‹ stellte sich auf den Tisch, wobei er sich den Kopf an der Decke stieß, denn hier war ja alles nach Menschenmaß gebaut. Ein weiterer Grund, die nachbarliche Torakkneipe zu übernehmen, die entsprechend den Erfordernissen ihrer Gäste wesentlich geräumiger war. So stand er nun gebückt über der Schar des ihn aufmunternden Chors, den er seinerseits anfeuerte. Ein sich gegenseitig steigernde Geräuschkulisse.
Einen wilden Schrei ausstoßend stürmte Klaus dann noch vorne, sprang über die Köpfe seiner Trinkkumpanen hinweg und schwang den Hammer gegen die Wand. Dann war die Masse nicht mehr zu halten. Plötzlich hatten alle irgendwas in der Hand, sei es ein mitgebrachter Knüppel oder nur ein Schuh. Alle standen vor der Wand und prügelten wie wild darauf ein. Nach einer halben Stunde, die Ersten waren schon heiser, andere hatten erhebliche Handgelenkprobleme, löste sich der erste Stein.
Während Klaus wild schreiend die Wand bearbeitet, fiel sein Blick durch ein Fenster und der Wirt hielt in seinem Tun inne. Zwei Wachen näherten sich der Kneipe. Der Lärm, den sie beim Bearbeiten der Wand verursachte, musste wie dumpfe Donnerschläge in der dunklen Gasse widerhallen. Klaus sah die Männer Makrals schon die Schwerter ziehen. Aber der Schatten hatte sie auch bemerkt und war vor die Tür getreten. Er begrüßte die Uniformierten wie alte Freunde, die darauf hin ihre Waffen wieder ins Futteral steckten. Immer gut, wenn man die richtigen Leute kennt, dachte Klaus und schwang erneut den Vorschlaghammer.
Aufbruch
»Ihr wollt wirklich mitkommen?«
Benji schien mehr überrascht als erfreut zu sein.
»Wir liefern die Ofengriffe aus…«
Kard zögerte ein wenig, bevor er weitersprach.
»…und ich würde gerne mal einen Blick in dieses Buch werfen, von dem du erzählt hast.«
»Echt, wieso?«
»Na ja, ich war da auch mal.«
»Wo?«
»Im Waisenhaus.«
»Echt, du? Nein, bestimmt nicht, du verschaukelst mich?«
»Wieso sollte ich dich verschaukeln?«
»Yo, Mann, wieso sollte Kard kein Waise sein, so wie du?«
»Die Govas sagen doch immer, dass wir froh sein können, wenn uns irgendein Bauer nimmt, damit wir die Tok-Rind-Ställe ausmisten können. Aber eine Schmied? Sogar eine Schmiedemeister. So was werden wir nicht.«
»Sagen die Govas?«
»Yo, Benji, du musst nicht alles glauben, was die alten Hexen sagen.«
Bei den Worten Madads war Benji erstarrt. Erschrocken schaute er sich in der Schmiede um, als ob eine Gova sie hier belauschen und gleich mit einem Knüppel um die Ecke kommen würde. Aber weder kam eine der Priesterinnen der göttlichen Schwestern aus einem Schrank gesprungen noch tat sich der Himmel auf, um den Frevel zu sühnen, eine Gova als Hexe beschimpft zu haben. Kard kannte dieses Gefühl nur zu gut, er klopfte dem Jungen beruhigend auf die Schulter.
»Wirst du schon noch lernen, Benji. Die Govas machen viel Geschrei, aber im Endeffekt ist nichts dahinter.«
Benji schien sich langsam zu entspannen. Er nickte sprachlos.
»Aber das Buch werden sie nicht herausrücken.«
»Dann klauen wir es eben.« Madad grinste siegessicher.
Benji schüttelte heftig mit dem Kopf.
»Das geht nicht. Wenn sie das herausbekommen, dann…« Benji fehlten die Worte. Sich gegen die Govas aufzulehnen war für ihn offensichtlich ein neuer Gedanke.
»Und wolltest du noch nie…?« Kard wusste nicht, wie er sich ausdrücken sollte.
Jetzt war es Benji, der Kard etwas mitleidig ansah.
»Ja glaubst du, wir anderen Waisen wollen nicht wissen, wer unsere Eltern sind? Natürlich habe ich schon daran gedacht.«
Kard fühlte sich ertappt. Er hatte geglaubt, es würde ausreichen, Benji zu erzählen, dass er die Ofengriffe ausliefern wolle. Aber natürlich hatte der Waisenjungen gleich mitbekommen, um was es Kard eigentlich ging.
»Na ja, ich weiß ja, wer meine Eltern waren. Aber gibt genug andere im Waisenhaus, die das nicht wissen. Als ich das mit dem Buch erzählt habe, war das natürlich die erste Idee. Aber die Priesterinnen haben das recht schnell mitbekommen. Es muss irgendwo im Trakt der Govas sein, dort, wo wir Kinder nie hinkommen.«
»Super, ich liebe Geheimnisse. Und Suchen. Und Schnüffeln. Ganz mein Ding.«
»Und wieso weißt du, wer deine Eltern waren?«
»Ich war zwar noch ziemlich klein damals, als Mama gestorben ist, aber an ein paar Sachen kann ich mich noch gut erinnern. Ich weiß noch, dass viele Leute um Mama herumstanden und dann kam dieser reiche Herr. Der hatte tolle Kleider an, ganz anders als die anderen, ganz bunt und glitzernd. Und er roch gut. Nicht nach Schweiß. Oder Schwein. Oder Tok-Rind. Heute weiß ich, dass es so eine Art Duftwasser war, wie es die Govas manchmal benutzen. Und dann hat er etwas gesagt und alle anderen waren ganz still. Und dann hat mich jemand hier ins Waisenhaus gebracht.«
Benji schwieg eine Weile und hing seinen Erinnerungen nach.
»Ich glaube, es war ein Prinz. Vielleicht sogar der Drachenkönig.«
»Der Drachenkönig?«
»Ja, wer denn sonst?«
»Aber ist der nicht schon ein Weile tot…«
»Nein! Mama hat immer gesagt, der ist nur verschwunden und kommt eines Tages wieder. Mit den Drachen. Um uns alle zu retten.«
»Mit den Drachen?«
»Ja, Mama hat ziemlich oft davon gesprochen. Und immer, wenn wir mal nichts zu essen hatten, hat sie gesagt, dass er bald kommt.«
Kard nickte. War es nicht genau das, was er auch wissen wollte? Ob er ein Sohn des Drachenkönigs war? Oder wenigstens, ob es da eine Verbindung gab. Zwischen seiner Freundschaft zum Feuer und diesem Drachenkrieger-Märchen? Vielleicht war er einfach nur so wie Benji? So ein Drachenkrieger-Vater war irgendwie ein tolle Sache. Aber im Endeffekt war das natürlich alles Unsinn. Wahrscheinlich hatte das eine mit dem anderen gar nichts zu tun. Aber wenn er es schwarz auf weiß sehen würde, wenn er in dieses Buch hineinschauen könnte, und dort geschrieben steht, wer seine Eltern waren, dann war das schon einmal ein Anfang. Und diesen Anfang suchte er. Gleichgültig ob Drachenkrieger oder einfacher Bauer, aber diese Leere in ihm, dieses Nicht-Wissen, machte ihn ganz krank.
»Yo, worauf warten wir noch?«
Madad hatte recht. Kard nahm das Schwert, das er sich in den letzten Tagen geschmiedet hatte, und steckte es in sein Bündel. Natürlich war es kein Minas-Schwert, aber es hatte eine gute und scharfe Klinge. Benji verstaute die Ofengriffe und Madad schnappte sich noch einen Knochen, damit er auch etwas zu tragen hatte. Dann verließen die drei Freunde die Schmiede, ließen den Raum mit der nach Asche riechenden Luft zurück und traten hinaus in einen kalten, grauen Morgen, der sie frösteln ließ.
*
Die Verhaftung des Wirtes des ›Hustenden Hans‹ aus unerfindlichen Gründen war nur einer von vielen Vorfällen, in denen bisher unbescholtene Toraks verwickelt waren. Wenn man als Torak nicht auf dem Laufenden war, wie die sich inzwischen täglich ändernde Gesetzeslage entwickelte, konnte man schnell Bekanntschaft mit den Schwertern der Wache machen. Gsark und Gsaxt, Toraks und Wirte des berühmten ›Knochenbruchs‹, hatten sich an diesem Tag in aller Frühe aufgemacht, um die neuesten Verlautbarungen des Herrschers zu erfahren. Falls eine Wache ihnen entgegentrat, wollten sie wenigstens wissen wieso. Sie standen am östlichen Stadttor und entzifferten mühsam den öffentlichen Aushang.
»Anordnung zur Haltung von Haustieren: Toraks, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Stadtgebiet von Conchar (die umliegenden Gehöfte und Siedlungen eingeschlossen) haben, müssen alle ihre Katzen am Großen Tempel von Goiba abgeben.«
»Da sind wir nun also angelangt.« Gsark schaute seinen jüngeren Bruder direkt an und hatte dabei beide Augenbrauen in die Höhe gezogen. Die Lippen zusammengepresst nickte er langsam mit dem Kopf, als ob er eine still gestellte Frage bejahen würde. »Heute Katzen, morgen sind wir es selbst.«
»Ach Quatsch, Gsark. Tsarr sind die Opferkatzen ausgegangen. Mehr ist das nicht.«
Gsark deutete mit seinem massigen Kinn auf eine Ecke, in der die Leute Müll abgeladen hatten. Eine Unzahl von Katzen tummelte sich darauf und durchforstete den Haufen nach Essbaren.
»Sieht irgendwie nicht so aus, als ob es in Conchar an Katzen mangeln würde.«
Da musste Gsaxt seinem älteren Bruder zustimmen. Die Viecher vermehrten sich aber auch wirklich rasend. Wahrscheinlich war das einer der Gründe, wieso die Govas gerade Katzen gewählt hatten, um in ihren Gedärmen die Zukunft zu suchen. Normalerweise gab es in einer Stadt wie Conchar niemals Katzenmangel.
»Also meinst du, dass es gar nicht wirklich um die Katzen geht? Aber was bezweckt Tsarr damit?«
»Oder Flanakan. Nichts geschieht ohne seinen Willen.«
»Na gut, dann eben die beiden. Was wollen Herrscher und Oberpriesterin?«
»Denk doch mal nach, Gsaxt. Die Leibeigenschaft gilt laut Verordnung nicht nur für Toraks. Auch wenn es im Endeffekt meistens unsere Brüder und Schwestern sind, die von der Obersten Verwaltungsbehörde dazu verdammt werden. Aber nicht weil sie Toraks sind. Sondern weil sie Schulden haben. Und weil die meisten von uns bisher glaubten, dass man alles abarbeiten kann. Dann steht man halt ein paar Jahre im Steinbruch, geht auch vorbei. Oder? So sind wir doch?«
Gsaxt musste seinem Bruder zustimmen. Ihr Fluch war das Ertragenkönnen. Wenn man es seit Urzeiten gewohnt war, den Kräften der Natur ausgeliefert zu sein, gewöhnt man sich eben daran, den Kopf einzuziehen und abzuwarten, bis der Sturm sich gelegt hat.
»Aber das hier«, Gsark deutete auf die Tafel der Öffentlichen Bekanntmachungen, »das ist neu.«
Es war kurz vor Dardeugende, letzter Arbeitstag der Woche, heute Abend würde der ›Knochenbruch‹ zum Bersten gefüllt sein mit durstigen Toraks. Gsaxt und Gsark waren zum östlichen Stadttor gegangen, um auf alle Änderungen der aktuellen Gesetzeslage vorbereitet zu sein. Auch hatten sie erwartet wie üblich die Liste der Hinrichtungen hier zu finden. Doch diese fehlte an diesem Tag. Aber dass an diesem Wochenende die Galgen der Schwarzen Burg wieder bestückt werden würde, stand außer Frage. Man konnte das Hämmern der Galgenschreiner in der ganzen Stadt hören.
»Ab jetzt geht es ganz offiziell gegen uns Toraks, Gsaxt. Heute unsere Katzen, morgen sind wir es selbst.«
»Da werden die Leute nicht mitmachen.«
»Die Leute, die Leute. Welche Leute? Meinst du deine Menschenfreunde? Glaubst du wirklich, dass ein Mensch, wenn Flanakan erst einmal die Wachen auf uns hetzt, auch nur einen Finger krumm machen wird?«
»So weit ist es ja noch nicht.«
»Noch nicht, Gsaxt, noch nicht. Aber mein Bauchgefühl sagt mir, dass das schneller geht, als wir uns das vorstellen können. Wieso hat unser Vater damals das Drucken der Flugblättern begonnen, was glaubst du? Er hat schon damals gewusst, dass die Leibeigenschaft nur der Anfang ist.«
»Aber Papa hat immer gesagt, dass es Flanakan ist, dass der Herrscher unser Feind ist. Und mit dieser Meinung stand er ja nicht allein. Du weißt ja selbst, dass unsere Gruppe auch aus Menschen besteht.«
»Ach, die können doch alle nicht bis zehn zählen. Ich sage dir, wenn es ernst wird, kann man nicht auf sie setzen.«
»Wieso sollen wir nicht auf sie setzen können? Die Leibeigenschaft geht uns doch alle an.«
»Genau, die Leibeigenschaft. Aber nicht, wenn es gegen uns Toraks geht. Dann sind wir auf uns allein gestellt. Toraks gegen Menschen.«
Mit dem letzten Wort hatte Gsark seine rechte Faust in seine linke offene Handfläche geschlagen, als ob er mit dieser Geste gleich einen Menschen zermalmen könnte.
»Darf ich mal.«
Eine Wache drückte sich an den beiden Toraks vorbei. In der Hand eine Rolle mit einer weiteren Bekanntmachung. Mit ausdrucksloser Miene nagelte der Uniformierte diese ebenfalls an das Brett, direkt neben die Haustierverordnung. Offensichtlich war es eine Ergänzung, denn die Überschrift lautete schlicht Paragraph Zwei.
»Auch das Halten von Hunden, Vögeln, Zierfischen – solange sie nicht dem baldigen Verzehr dienen – sind Toraks ab sofort verboten.«
Gsaxt und Gsark schauten sich an.
»Wenn das so weiter geht, werden sie den Bauern bald verbieten, Tok-Rinder zu halten.«
Die Wache, die Gsarks Worte gehört hatte, drehte sich um. Ein Mensch.
»Ihr seid doch die vom ›Knochenbruch‹, oder?«
Gsaxt nickte.
»An eurer Stelle würde ich besseres Schoff ausschenken, die halbe Stadt weiß ja schon, dass ihr da rumpanscht. Wenn ihr nicht aufpasst, dann entzieht euch die Oberste Verwaltungsbehörde noch die Schanklizenz.«
Gsark trat ein Schritt auf die Wache zu, aber Gsaxt packte seinen Bruder beim Ärmel.
»Danke, Herr Wache. Wir panschen nicht. Unser Schoff ist so gut wie in allen anderen Kneipen.«
»Ich sage es ja auch nur. Passt auf.«
Mit diesen Worten drehte sich der Mann um und verschwand im Tor des Wachturms.
»So ein Idiot. Wer sagt, dass wir panschen? Ich dreh ihm den Hals um.«
»Gsark, komm, der Mann wollte uns warnen. Wir müssen einfach auf der Hut sein.«
»Auf der Hut sein? Wie sollen wir das machen? Sollen wir jetzt das Schoff wirklich panschen und es dadurch besser machen, damit dann die Menschen sagen, dass wir nicht panschen? Panschen, um nicht in den Verdacht zu geraten, zu panschen?«
»Nein, ich weiß auch nicht. Am besten wir treffen uns mit der Zelle. Machen einen Plan.«
»Mit der Zelle. Aus Menschen und Toraks?«
»Und vergiß die Schreiende Makrele nicht.«
»Und ein Ichto dazu. Das kann ja nichts werden.«
In diesem Moment flog ein fauler Salatkopf durch die Luft und traf Gsark in den Nacken. Die Toraks drehten sich um, konnten aber nur noch die eindeutig menschlichen Fersen sehen, die hinter einer Hausecke verschwanden. Und dann die Rufe von Kindern. Schoffpanscher, Schoffpanscher, Schoffpanscher.
Jetzt waren sie also schon zum Gespött der Straße geworden.
*
Zwanzig Hinrichtungen in Conchar, davon über die Hälfte Ichtos, Makral war mit seiner Arbeit ziemlich zufrieden. Zudem war es recht einfach, passende Hinrichtungsobjekte zu finden, schließlich gab es kaum einen Straßenzug, in dem er keinen Spitzel hatte. Aber auch der normale Bürger, genervt vom fischigen Gestank und dem blubbernden Schnauben der Halbkiemenatmer, hatte gerne Namen aus der Nachbarschaft den schwarz Uniformierten mit dem Axtemblem zugetragen. Wenig Arbeit, hohe Effizienz, viel zu tun für die Henker, so mochte Makral seine Amt.
Der gestrige Tag war dagegen recht mühselig verlaufen. Inzwischen bemühte er sich mit seinen Männern, die Anordnung Flanakans in den umstehenden Dörfern umzusetzen. Aber man sah sie natürlich kommen. Sieben schwarz gekleidete Gestalten auf wilden Rappen, den Staub aufwirbelnd, während die Sonne die Klingen ihrer Schwerter glitzern ließ.
Und dann liefen die Bauern und Dorfbewohner. Versteckten sich. In geheimen Kellern, auf dem Boden ihrer Scheunen und zwischen den wallenden Halmen der Winxfelder. Ichtos gab es auch kaum, da die Halbkiemenatmer zwar als Händler in die Hauptstadt kamen, sonst aber nur als Wassertaxifahrer zu finden waren. An der Küste gab es sie natürlich überall. Aber nicht in den Dörfern. Auf den Höfen der Winkbauern und in den Ställen der Tok-Rind-Züchter suchte man sie vergeblich, dort gab es nur Menschen und Toraks. Die angesichts der schwarzen Bedrohung seltsam geeint die Flucht ergriffen.
Irgendwann hatten sie dann doch noch jemanden gefunden, nachdem sie zwei Gehöfte in Feuer gelegt hatten. Aus einer der Scheunen waren ein Torakmann und einen Menschenfrau geflohen. Hand in Hand. Makral hatte seinen Augen nicht trauen wollen. Mensch und Torak gemeinsam auf der Flucht. Wieso lieferte der eine den anderen nicht aus? Makral verstand diese ganze Welt der Gefühle nicht. Denn er war sich sicher, dass es um so solch seltsamen Irrglauben wie Freundschaft oder Loyalität oder gar Liebe ging. Verstanden die Wesen dieses Reiches denn nicht, dass es nur eine Art von Loyalität gegen konnte und das war die Loyalität gegenüber Flanakan?
Aber der Herrscher wollte ja ein Exempel statuieren, indem er keinem Wesen den Vorrang in der Hinrichungsauswahl gab. Keiner wurde verschont. Wenn es in einem Dorf keine Ichtos gab, dann taten es auch Menschen und Toraks. Vor dem Henker waren sie alle gleich.
Nur eine Amazone hatte er bisher nicht erwischt. Das ärgerte Makral, der gerne hatte, dass eine gewisse Ordnung in seinen Angelegenheit herrschte. Flanakan hatte schließlich auch auf die wehrfähigen Frauen hingewiesen. Wenigstens eine wollte Makral in seiner Liste der hundert Hinrichtungen verzeichnet wissen. In Conchar hatte man zwar eine gesichtet, aber dies konnte nur noch der Scherge berichten, der die Leiche der Wache meldete, die dem Schwert der Amazone zu nahe gekommen war. Und seit diesem Vorfall waren die tätowierten Frauen im Lederkostüm nicht mehr gesehen worden. Aber im Gerberviertel waren noch zwei weitere tote Wachen aufgetaucht. Dort verkauften diese Frauen das teure Fell der Faols und Makral war sich auch sicher, dass es niemand anderes gewagt hätte, seine Männer zu massakrieren.
Aber in den Dörfern hatte es auch keine Amazonen gegeben. Als er an diesem Morgen in seinem Büro in der Schwarzen Burg sass und jeweils einen Strich in die Spalte Mensch und Torak zeichnete, fühlte Makral eine aufkommende Müdigkeit. Die Macht Flanakans in das gesamte Reich zu tragen war eine wirklich mühevolle Aufgabe. Conchar war inzwischen gesäubert, aber das genügte nicht.
Er hatte das Fenster geöffnet, er hörte das Rauschen des kalten Herbstwindes, ansonsten war die Stadt ungewöhnlich still. Kein Rufen, keine schreiendes Kind, kein krakelnder Torak. Die Stadt wartete auf den anbrechenden Tag und den Kommandos der Schergen, die ihre Kunden abholten. Makral lächelte. Es spürte die Macht Goibas. Tod und Kälte. Wer konnte sich dieser Magie entziehen?
*
Das Stadttor von Truk war um diese frühe Uhrzeit noch geschlossen. Kard konnte oben auf dem Wachturm einen Uniformierten wahrnehmen, der sich angestrengt am Geländer festhielt und in die Weite der Winxgrasfelder starrte, dabei aber dermaßen bewegungslos wirkte, dass Kard davon ausging, dass der Mann im Stehen schlief. Unten am Fuß des Turms stand ein recht betagter Soldat, ein Mensch, der nur noch aus Knochen zu bestehen schien. Der Alte stierte sie ohne eine Miene zu verziehen an, als sie sich ihm näherten. Kard hatte schon die Vermutung, dass auch dieser Mann im Stehen schlief, als sich aus dem Knochenberg eine Stimme erhob, die ganz im Gegensatz zur brüchigen Erscheinung tief und fest klang.
»Haaaaalt! Stehen bleiben.«
Kard, Benji und Madad schauten auf das verschlossene Tor, dann auf den alten Soldaten. Was bitte, außer stehen zu bleiben, hätten sie in diesem Moment sonst tun sollen?
»Du…«
Der Mann hatte die Rechte vom Schwertgriff genommen und deutete auf Kard.
»Bist du vielleicht ein Torak?«
Kard wusste nicht so recht, ob diese Frage ernst gemeint war und schüttelte nur stumm den Kopf.
»Vielleicht bist du einer von diesen kleinen Toraks?«
»Äh, nein, ich bin ein Mensch, wie ihr bestimmt sehen könnt.«
»Ein Mensch, ja? Ob du ein Mensch oder ein Torak bist, das bestimme ich, kapiert!«
Die Stimme der Wache vibrierte jetzt leicht und als Kard ihm in die Augen schaute, sah er, dass der Blick glasig und unfokusiert war. Die ganze Nacht in die Dunkelheit zu starren, konnte einfach seltsame Sachen mit einem machen.
»Er ist wirklich ein Mensch, Herr Wache. So wie ich. Ich bin auch ein Mensch.«
Benjis jugendliche Stimme, in der keine Arglist oder Besserwisserei mitschwang, schien die Wache etwas zu beruhigen.
»Denn Toraks brauchen jetzt eine Ausgehgenehmigung, eine Stadtverlassenserlaubnis. Oder so was. Ist ganz neu. Der Herrscher traut ihnen nicht mehr, diesen dicken, dicken… dicken Hamstern, jawohl!«
Doch nun schallte die Stimme des anderen Wächters vom Turm herab.
»Mach doch mal die Augen auf, Dall. Das sind echte Menschen.«
Offensichtlich schlief der Mann auf den Zinnen doch nicht.
»Toooor öffnen.«
»Wieso? Was hast du da oben zu melden? Ich überprüfe gerade diese Verdächtigen. Sie sind vielleicht Toraks, kleine Toraks!«
»Die Goiba-Priesterin steht draußen.«
»Ach du liebe Goiba!«
Der Alte sprang zum Sperrbalken, der das Tor verriegelte und mit einer Kraft, die man den dünnen Armen gar nicht mehr zugetraut hätte, hob er das Kantholz aus der Halterung. Dann zog er mit Leibeskräften am Rahmen des Torblattes, dass sich langsam nach innen öffnete. Kaum hatte sich ein Spalt gebildet, konnte Kard die Gova im Morgennebel stehen sehen. Wie üblich für ihre Zunft war sie völlig in Schwarz gekleidet, die Kapuze hatte sie über den Kopf geschlagen. Im angewinkelten Arm schaukelte ein geflochtener Korb, in dem die Gova die Kräuter der Nacht, die sie für ihre Tinkturen und Rituale benötigte, gesammelt hatte. Kard überkam ein Frösteln bei ihrem Anblick. Ein Gefühl, als ob das Feuer, das in ihm jenseits der Wahrnehmungsgrenze loderte, plötzlich erstarren und in sich zusammenfallen würde. Einen ähnlichen Eindruck musste die Gova auf die anderen machen, denn sowohl Benji wie auch die Wache machten plötzlich den Eindruck, als ob sie einen Termin bei einem stümperhaften Bader hatten, der ihnen einen faulen und schmerzenden Zahn ziehen sollte. Das Quietschen der Scharniere des Tores gellte wie ein Verzweiflungsschrei durch den anbrechenden Tag.
»Schneller, Wache, ich friere mir hier draußen die Füße ab.«
Wie auf ein unsichtbares Kommando hin, sprangen Kard und Benji dem alten Soldaten zur Hilfe. Die dunkle, aufrechte Gestalt betrat geräuschlos ihr Reich.
»Und sind das deine neuen Gehilfen, Wache?«
»Nein, liebe Gova. Das sind Verdächtige!«
»Verdächtige?«
»Ich vermute, es könnten kleine Toraks sind, ihr wisst ja, diese neue Verordnung des Herrschers…«
»Das sind Menschen, Wache. Das sieht man doch sofort. Mit einem Hund. Kleine Menschen. Jungen. Halbe Portionen. Aber doch keine Toraks.«
Die Goiba-Priesterin lachte verächtlich und die alte Wache alterte in diesem Moment noch ein bißchen mehr.
»Aber der da…« Die Gova trat einen Schritt auf Kard zu. Nun konnte er die Züge eines Gesichtes im Dunkel der Kapuze sehen.
»Der da stinkt!«
Die Gova betrachtete Kard kopfschüttelnd von oben bis unten und zog dabei die Nase kraus.
»Du stinkst tatsächlich fast so wie ein Torak, Junge. Irgendwie, irgendwie nach…«
Der Priesterin fielen die Worte nicht ein. Sie trat noch einen Schritt auf Kard zu.
»Irgendwie nach Branu.«
Kaum hatte die Gova dies ausgesprochen, trat sie einen Schritt zurück. Kard war sich nicht sicher, ob es aus Schrecken oder Ekel war.
»Ein Mensch, der wie ein Torak stinkt und ganz eindeutig nach Branu, das ist sehr seltsam. Ich sollte…«
»Wir kommen von K’sandra und haben eine Lieferung für das Waisenhaus. Hier, der Auftrag.«
Benji war vorgesprungen, in der Hand hatte er ein Papier und wedelte der Priesterin nun damit vor der Nase herum.
»Von K’sandra, der Gova des Waisenhauses?«
Die Gova nahm das Schriftstück und studierte es genau. Dann gab sie es Benji zurück und musterte Kard noch einmal mißtrauisch.
»Es sind also keine Toraks?« Der alte Soldat wollte offensichtlich auf Nummer sicher gehen.





