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Saskia Sterel / Manfred Pfiffner / Susanne Schrödter
Kreativität und Innovation
Kreative Kapazitäten in Schule und Unterricht nutzen und erweitern
4K kompakt, Band 2
ISBN Print: 978-3-0355-1657-9
ISBN E-Book: 978-3-0355-1662-3
1. Auflage 2022
Alle Rechte vorbehalten
© 2022 hep Verlag AG, Bern
hep-verlag.com
In der Kunst wurde man vor gar nicht langer Zeit noch von der Muse wachgeküsst.
Heute nähern wir uns den Voraussetzungen für einen kreativen Schaffensprozess deutlich sachlicher und strategischer. Die Muse wurde erforscht. Wir arbeiten mit Kreativitätstechniken und der Design-Thinking-Prozess leitet uns – es ist der ureigene «Schöpfungsprozess» jedes Kreativen, in eine Methode gegossen. Wir nutzen den innovativ gestalteten Raum oder initiieren gedankliche Freiräume durch Körperarbeit – alles, um unsere Inspiration wachzuküssen.
Interessant finde ich, dass der Wert von Kreativität jetzt im Bildungsbereich ausführlich diskutiert wird. Dort, wo Messbarkeit noch eine bestimmende Maxime ist. Kann denn Kreativität gemessen werden? Und wenn ja, wie? Wird es bald das Megafach «Kreativität» geben, das fächerübergreifend Grundlagen für kreatives Denken und somit für Innovation legt?
An der Schule für Gestaltung St. Gallen begleiten wir Jugendliche im Laufe eines Jahres im gestalterischen Vorkurs bei der Entwicklung ihres kreativen Potenzials und ihrer handwerklichen Fähigkeiten. Im Team beschäftigen wir uns tagtäglich mit den Bedingungen für Kreativität und den Ergebnissen von Kreativität. Wie muss Unterricht gestaltet sein, damit die Jugendlichen ihr individuelles und persönliches Potenzial optimal entwickeln können? Und wie lässt sich ihr Interesse und dadurch ihre Motivation für eine Sache erwecken – ein matchentscheidender Punkt für Kreativität?
Unsere Beobachtungen haben uns zu folgenden Erkenntnissen geführt:
Kreativität ist eine Haltung und somit nicht fachspezifisch. Trotzdem ist sie für alle Fächer relevant.
Kreativität als Haltung erschafft Freiräume, mischt sich aber nicht in alles ein.
Kreativität und Innovation braucht die Kraft, den Mut und die Lust, ganz neu zu denken, immer wieder.
Unsere Lernenden werden später in der Kreativwirtschaft arbeiten. Lassen wir uns als Schule konsequent vom Design-Thinking-Prozess leiten, ist dies die Basis für jedwede Innovation. In diesem Prozess geht es um den ewigen Kreislauf, Neues zu erdenken, aufzubauen, zu testen, zu verwerfen, um es weiterzudenken, aufzubauen und zu testen, um es wieder zu verwerfen – bis zu dem Zeitpunkt, an dem ein Kunstwerk entstanden oder ein Produkt oder Design entwickelt ist. Die DNA von Innovation ist doch, Denkmuster aufzubrechen, und von wem kann man das besser lernen als von den Kreativen?
Ich höre immer genau hin, wenn ich einen kreativen Moment habe – so finde ich immer wieder neue und meine eigene Kreativität belebende Techniken!
Viel Spaß bei der Lektüre dieses inspirierenden Buches, das so klug das Thema Kreativität und Innovation aufnimmt und analysiert.
Kathrin Lettner
Abteilungsleitung Schule für Gestaltung St. Gallen | Weiterbildung
1 Einleitung
Der vorliegende Band «Kreativität und Innovation – Kreative Kapazitäten in Schule und Unterricht nutzen und erweitern» bildet den Auftakt zur Vertiefung und Einbettung der 4K in unterrichtliche Belange, wie sie im Buch «Ausbilden nach 4K – Ein Bildungsschritt in die Zukunft» kurz skizziert wurden (vgl. Sterel, Pfiffner & Caduff 2018).
Kreativität und Innovation gelten international seit längerer Zeit als Schlüsselqualifikationen. Sie stehen im 21. Jahrhundert in vielen Ländern auf der Liste der erwünschten Kompetenzen für Lernende (vgl. Fullan, Quinn & McEachen 2019; P21 2016, S. 1; Wiater 2012; WHO 1994). Diese Schlüsselqualifikationen gelten als kritische Erfolgsfaktoren für Unternehmen, die sich in einem ständig komplexer werdenden betrieblichen Umfeld bewegen und erfolgreich am Markt bestehen beziehungsweise sich Wettbewerbsvorteile verschaffen wollen (vgl. Jacob 2018, S. 27). Selbst bei zukunftsweisenden Führungsqualitäten steht Kreativität an erster Stelle. So müssen sich Führungspersonen darauf einstellen, «den Status quo zu ändern, selbst wenn er erfolgreich ist. Sie müssen sich dafür einsetzen und bereit sein, ständig zu experimentieren» (IBM 2010, S. 25). Kreativität wird dabei als Disposition oder Bedingungskomplex für die Generierung von neuen und geeigneten Ideen verstanden, während nachfolgend die Innovation als Ideenumsetzung, Einführung und Verbreitung von Ideen, beispielsweise bezüglich einer wirtschaftlichen Nutzung sowie Vermarktung, angesehen wird (vgl. Laux & Schmitt 2008, S. 312).
1.1 Kreativität und Innovation als Bestandteil von 4K
Die 4K Kritisches Denken und Problemlösen, Kommunikation, Kooperation sowie Kreativität und Innovation[1] sind ein Kondensat aus einem ganzen Bündel wichtiger Kompetenzen. Sie bilden das zentrale Rüstzeug für unsere (Arbeits-)Welt. Das sich rasch verändernde globale Paradigma, nach dem anstelle der reinen Produktion eine wissensbasierte und innovative Wirtschaft tritt, erfordert in hohem Maße die Fähigkeit, Probleme kreativ zu lösen.
Heute kann ein Großteil der weltweiten Informationen jederzeit und in Sekundenschnelle über ein Smartphone abgerufen werden. Dabei wird die Fähigkeit, dieses Wissen auf kreative Weise zu nutzen, um verwertbare Ergebnisse zu erzielen und komplexe Probleme zu lösen, immer wichtiger (vgl. P21 2016, S. 1). Kreativität und Innovation gehören also zu den existenziellen Fähigkeiten, die das Bestehen sowie die Weiterentwicklung der Menschheit ermöglichen. Im dritten Jahrtausend verlangen vielfältige komplexe Problemlagen in globalen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, aber auch persönlichen Bereichen nach kreativen Lösungen. Solch komplexe Fragestellungen zeichnen sich unter anderem durch Zielvielfalt, Intransparenz und durch eine hohe Dynamik aus. Für kreative Prozesse gilt Ähnliches (vgl. Vollmer 2016, S. 18). Ein kreativer Geist und Innovationskraft führen in der heutigen Welt der globalen Konkurrenz, der Digitalisierung und Aufgabenautomatisierung rasch zu persönlichem und beruflichem Erfolg. Sir Ken Robinson, ein britischer Professor für Kunsterziehung sowie maßgeblicher Denker und Fürsprecher der Kreativität, hält fest: «Creativity is as important in education as literacy and we should treat it with the same status» (Robinson 2011, TED Talks). Der US-amerikanische Professor für Psychologie Robert Sternberg (2007) verdeutlicht zusätzlich:
«Successful individuals are those who have creative skills, to produce a vision for how they intend to make the world a better place for everyone; analytical intellectual skills, to assess their vision and those of others; practical intellectual skills, to carry out their vision and persuade people of its value; and wisdom, to ensure that their vision is not a selfish one.»
Der US-amerikanische Autor Daniel H. Pink (2005, S. 1) hält stimmig fest:
«The last few decades have belonged to a certain kind of person with a certain kind of mind – computer programmers who could crank code, lawyers who could craft contracts, MBAs who could crunch numbers. The future belongs to a very different kind of person with a very different kind of mind-creators and empathizers, pattern recognizers and meaning makers. These people […] will now reap society’s richest rewards and share its greatest joys.»
Wie eindrücklich zu sehen ist, bilden heute Kreativität und Innovation wichtige Faktoren für erfolgreiches Arbeiten in der (Welt-)Wirtschaft.
Howard Gardner weist dem «schöpferischen Geist» Zukunftspotenzial zu. Um einen solchen Geist zu pflegen, braucht es eine Bildung, die gekennzeichnet ist durch «exploration, challenging problems, and the tolerance, if not active encouragement, of productive mistakes» (Gardner 2007, S. 85). Der kreative Umgang mit komplexen Fragestellungen sollte also schon in der Schule geübt werden (vgl. Vollmer 2016, S. 18). An den Schulen herrscht grundsätzlich die Überzeugung vor, dass Kreativität erlernt und eingeübt werden kann. Allerdings können Lehrerinnen und Lehrer oft nicht genau erklären, was Kreativität überhaupt ist. Häufig werden im Schulalltag Impulsivität, Nonkonformismus und sogar störendes Verhalten mit Kreativität in Verbindung gebracht (vgl. Urban, zitiert in Vollmer 2016, S. 18). Nicht selten werden unerwartete Ideen nicht aufgegriffen, da die Sorge besteht, dass dadurch der Unterrichtsplan gefährdet ist und die Ordnung durcheinandergerät (vgl. Vollmer 2016, S. 18).
1.2 Kreativität
Die US-amerikanische Wissenschaftlerin Theresa Amabile gilt als Begründerin des Komponentenmodells der Kreativität. Es besagt, dass Kreativität an der Schnittstelle von Expertise beziehungsweise Fachwissen, Motivation und kreativen Fähigkeiten entsteht (siehe Abbildung 1). Die Grundlage der Kreativität bildet dabei die Expertise beziehungsweise das Vor- oder Fachwissen. Dieses muss allerdings durch kreative Fähigkeiten («creative thinking skills») ergänzt werden. Darunter versteht man zum Beispiel die Fähigkeit, Probleme zu erkennen, diese aus diversen Blickwinkeln zu betrachten oder umzukehren, bereits bestehende Pläne oder Ideen neu zu verknüpfen, neue Ergebnisse zu prüfen, verschiedene Wissensgebiete miteinander zu vereinen sowie abstrakt und assoziativ zu denken (vgl. Jacob 2018, S. 29).

Abbildung 1: Komponentenmodell der Kreativität (nach Amabile 1998)
Die Motivation gilt als wichtigste Voraussetzung für Kreativität. Ohne sie ist Kreativität zwar möglich, wird jedoch kaum umgesetzt. Die Motivation bildet somit die Grundlage für das Initiieren und Aufrechterhalten kreativer Prozesse. Sie ist maßgeblich für das verantwortlich, was Personen wirklich tun. Dabei sind diese nicht aufgrund eines externen Drucks kreativ, sondern vor allem dann, wenn sie durch die Aufgabenstellung selbst, ihr Interesse an der Materie und die damit einhergehende Herausforderung motiviert sind. Selbstredend spielt Motivation darüber hinaus eine große Rolle, wenn das Fachwissen nicht ausreicht und die Person es sich aneignen muss, um zu einer Lösung zu gelangen (ebd., S. 29f.). Kreative Fähigkeiten können nach Auffassung von Amabile (1998) erlernt werden. Sie fasst Kreativität zusammen als «a skill that might be taught, learned, practiced, and improved» (Amabile & Pillemer 2012, S. 4). Es muss aber davon ausgegangen werden, dass die meisten Menschen ihr kreatives Potenzial nicht ausschöpfen (vgl. Nickerson 1999, S. 407).
1.3 Innovation
Den eigentlichen Unterschied zwischen Kreativität und Innovation beschreiben die US-amerikanischen Wissenschaftlerinnen Zhou und Shalley wie folgt: «Während der Schwerpunkt bei Kreativität auf der Erzeugung von sowohl neuen als auch nützlichen Ideen von Einzelpersonen und Teams liegt, meint Innovation vorrangig die Implementierung von neuen Ideen oder Praktiken innerhalb einer Einheit oder Organisation» (Zhou & Shalley 2013, S. 3). Innovation wird in Organisationen also durch Kreativität ermöglicht (vgl. Schuler & Görlich 2007). Dabei ist die Kreativität als ideengenerierender Teilprozess von Innovation oder als «Teilbereich innovativen Verhaltens» (Streicher, Frey, Traut-Mattausch & Maier 2011, S. 247) zu verstehen. Wie (überlebens-)wichtig Innovation für Unternehmen ist, zeigen die Resultate einer weltweiten Umfrage der renommierten Unternehmensberatung Boston Consulting Group (2006) bei 1070 Managerinnen und Managern sämtlicher großer Industriezweige. So gehört das Thema Innovation für knapp 75 Prozent aller Befragten zu den drei höchsten Prioritäten ihrer Unternehmensstrategie. Etwas weniger als die Hälfte positionieren Innovation sogar auf dem ersten Platz. Die fortgeschrittene Globalisierung verstärkt diesen Trend aufgrund des steigenden Wettbewerbsdrucks sowie der kürzer werdenden Produktlebenszyklen (vgl. Zysno & Bosse 2009, S. 3). Forschungsresultate zeigen, dass die Kreativität von Unternehmungen eine positive Auswirkung auf die Effektivität eingeführter Innovationen hat. Diese Auswirkungen hängen von der Dynamik der unternehmerischen Umwelt ab (Gielnik 2013, S. 84). Zudem begünstigt die ökonomische Kreativität die Implementierung von Innovationen (Williams & McGuire 2010).
Kreativität und Innovation sind eng mit den anderen drei K aus den 4K verbunden. Innovation weist dabei eine soziale Komponente auf. Sie erfordert Anpassungsfähigkeit, zwischenmenschliche Fähigkeiten, Führungs- und auch Teamarbeit. In der globalisierten und digitalisierten Welt ist gerade die Fähigkeit zur Innovation zunehmend mit der Fähigkeit gekoppelt, sich mit anderen zusammenzutun, sich auszutauschen und zusammenzuarbeiten (vgl. NEA 2013, S. 25).
2 Utopie und Kreativität als Antrieb für Veränderungen in der Gesellschaft
Der 2015 von der Hip-Hop-Formation K.I.Z veröffentlichte Song «Hurra, die Welt geht unter» besingt die Utopie eines glücklicheren Lebens, das aus den Trümmern der alten Gesellschaftsordnung hervorgeht (Leser & Schwarz 2016). Utopien geben Anreize für kreative Veränderungen.
Der Ursprung des Begriffs «Utopie» geht auf den Roman «Utopia» des englischen Humanisten und Staatsmannes Thomas More (1478–1535) zurück. In seinem 1516 in der flämischen Universitätsstadt Leuven gedruckten Werk liegt eine europäische Denktradition begründet, die auch heute noch aktuell ist. Als Utopie wird gemeinhin ein gesellschaftlicher Idealzustand verstanden, der gemäß seinen Anhängern und Anhängerinnen nicht nur wünschenswert, sondern auch erreichbar ist. Darin offenbart sich ein tiefes Missverständnis, denn Morus verfolgte in seinem Roman einen anderen Ansatz. Es ging ihm nicht darum, eine realistische Idealgesellschaft zu entwickeln, sondern auf die Schwächen der damaligen sozialen und politischen Systeme aufmerksam zu machen. Die Utopie war ein Mittel zur Spiegelung der gegenwärtigen Verhältnisse und ein Maßstab, an dem sich Staaten und Gesellschaften messen konnten. Die geschilderte Idealgesellschaft hingegen betrachtete er als unerreichbar (vgl. Zech 2019, S. 25f.). Unter den Autoren, die Morus nachfolgten, herrschte dahingehend Einigkeit, dass der utopische Staat in Wirklichkeit nicht existiert, sondern als vorbildhaftes, aber unerreichtes Modell zu verstehen ist (vgl. ebd., S. 27).
Das von Thomas Morus begründete Genre des utopischen Romans besteht auch heute noch. Die deutsche Polittheoretikerin und Sprachforscherin Ina-Maria Maahs (2019, S. 148ff.) hat in einer Studie nach 1990 erschienene literarische Werke untersucht, in welchen Utopien beschrieben werden. Obwohl die Utopien variieren, konnte Maas bei allen Werken dieselbe Grundstruktur festhalten: Die gegenwärtige Gesellschaft wird kritisiert und in der Folge eine mögliche utopische Alternative entworfen (vgl. ebd., S. 221). Die nachfolgende Abbildung zeigt die Zeitkritik und ihre jeweilige utopische Alternative auf.
Zeitkritik Utopische Alternativen Verantwortungsloser Umgang mit der Umwelt Verstärkung der Selbstversorgung und einer umweltfreundlichen Lebensweise Verschwendung materieller Ressourcen Abschaffung oder Umgestaltung des aktuellen Geldsystems Hierarchien und Machtkumulationen, die Ausbeutung und große soziale Ungleichheit begünstigen Formen des Zusammenlebens, die einen Ausgleich zwischen Individuum und Gemeinschaft schaffen und eine starke Solidargemeinschaft ermöglichen Egoismus beziehungsweise Ethnozentrismus; Intoleranz und mangelnde Solidarität innerhalb eines Kollektivs Erziehung, die immaterielle Werte und Gemeinschaftssinn lehrt und fördert Fehlende Möglichkeiten zur Entfaltung der eigenen Persönlichkeit und zur aktiven Mitgestaltung der Gesellschaft Verkleinerung der zentralen politischen Einheiten; stärkere Verankerung direktdemokratischer Prozesse Kurzsichtige Denkstrukturen und Handlungsweisen Gezielte und verantwortungsvolle Nutzung von Technologien ohne Zerstörung der Natur Wirtschaftsweise, die auf beständiges Wachstum und radikalen Wettbewerb setzt Wirtschaftssystem, das Kooperation und Tausch hervorhebtAbbildung 2: Gegenüberstellung von Zeitkritik und Alternativideen (nach Maahs 2019, S. 221, eigene Darstellung)
Diese Modelle utopischer Gesellschaften kann man als naiv bezeichnen, aber genau dieser Schimmer Hoffnung, Glaube und Wunschvermögen macht eine positive Utopie aus (vgl. ebd., S. 227). Damit verbunden ist auch die ewige Sehnsucht nach einem neuen Menschen. Dafür werfen wir einen Blick in die Vergangenheit.
2.1 Der neue Mensch
Die Idee des neuen Menschen kann bis in die Antike zurückverfolgt werden. Bereits damals wurden in utopischen Reiseberichten Menschen beschrieben, die sich durch besondere körperliche Eigenschaften von anderen abheben, beispielsweise durch größere Köpfe oder Körper, längere Zungen oder ein höheres Lebensalter. In der Religion waren Vorstellungen eines neuen Menschen meist verknüpft mit der Aufforderung zur Umkehr oder Besserung. Der neue Mensch sollte moralischer, vernünftiger, gesamthaft gottähnlicher handeln (vgl. Maahs 2019 S. 227f.). Die Vergöttlichung des Menschen findet sich aber auch in der Philosophie, wie beispielsweise in der Forderung des deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche nach einem sogenannten «Übermenschen» in «Also sprach Zarathustra» (vgl. Busch 2003 zitiert in Maahs 2019, S. 229). Auch die marxistische Philosophie forderte einen neuen Menschen, wobei dieser nicht nach Übermenschlichem streben, sondern selbstbewusst und ohne religiöse Bevormundung seine eigene Menschlichkeit schätzen sollte. Im 20. Jahrhundert verkam die Idee des neuen Menschen zur Obsession und zeigte in den Ideologien der großen totalitären Systeme ihren menschenverachtenden und rassistischen Gehalt. Mit Drill, Gewalt und Propaganda sollte in den Diktaturen ein Mensch geschaffen werden, der in ein bestimmtes Weltbild passt. Persönlichkeit und Individualität gingen verloren. Wer dem Bild nicht entsprechen konnte oder wollte, wurde verfolgt, Millionen von Menschen starben (vgl. ebd., S. 229ff.).
Durch den technischen Fortschritt lassen sich die menschlichen Fähigkeiten nicht mehr nur durch menschliche Eigenschaften optimieren, sondern vermehrt auch durch künstliche Hilfsmittel. Die zeitgenössische utopische Literatur bezieht den aktuellen Entwicklungsstand der Forschung mit ein und antizipiert die technische Innovation der Zukunft. Dabei wird der technische Fortschritt bezüglich seiner Vor- und Nachteile reflektiert. Thematisiert werden zum Beispiel Szenarien einer außer Kontrolle geratenden Technik. Als Antwort darauf werden etwa Rechte für die Entwicklung künstlicher Intelligenz, mögliche Reaktionsformen für den Fall des Ausfalls zentraler Technik sowie ethische Grundsätze zur Vertretbarkeit der Genmanipulation ausgearbeitet. Die Utopie des Fortschritts schlägt hier rasch in eine Dystopie um, die aber auch die Stärke in sich trägt, auf die Gefahren technologischer Phänomene hinzuweisen. Damit wird ein literarisches Narrativ geschaffen, das nicht ein unausweichliches Katastrophenszenarium verkündet, sondern eine Perspektive für mögliche positive Entwicklungsvarianten offenlegt. Die diesen Erzählungen zugrunde liegende Haltung gegenüber den jüngsten technologischen Fortschritten ist somit meist ambivalent. Auf der einen Seite will man die neuen Technologien nutzen, auf der anderen Seite nicht komplett von ihnen abhängig werden (vgl. ebd., S. 229–232). Das Internet stellt dabei eine besondere Herausforderung dar. Die körperliche Präsenz und die realen Fähigkeiten des neuen Menschen werden weniger wichtig, da dieser vermehrt im Cyberspace agiert. Gleichzeitig entstehen dadurch neue Angriffsmöglichkeiten, was die Entwendung und Manipulation von Daten betrifft. Die weltweite Vernetzung kann von Friedensaktivisten und -aktivistinnen bis zu Terrorgruppierungen gleichermaßen genutzt werden. Soweit die Darstellung in literarischen Werken. Es gibt aber auch Menschen, die nicht länger auf entlegene Auswege in der Literatur setzen, sondern ihre Utopien hier und jetzt umsetzen wollen (vgl. ebd., S. 232ff.).
2.2 Gelebte Utopie
Die nachfolgend beispielhaft erläuterten Utopien sind Ergebnisse menschlicher Kreativität, die von der Suche nach einem besseren Leben für die Menschen einer bestimmten Gruppe getrieben werden (vgl. Maahs 2019, S. 235).
Zunächst kann auf existierende Kommunen, Kibbuze und Ökodörfer verwiesen werden, deren Bewohnerinnen und Bewohner anders leben, arbeiten und wirtschaften als der Mainstream und die damit tatsächlich eine gesellschaftliche Alternative darstellen. Diese Lebensgemeinschaften bleiben in der Regel wenig beachtet von der Allgemeinheit und streben umgekehrt auch keine gesamtgesellschaftlichen Veränderungen und Utopien an. Politische Organisationen wie Occupy und Attac hingegen treten bewusst an die Öffentlichkeit, bezwecken eine gesamtwirtschaftliche Utopie und kreieren mit ihren Protestcamps Alternativorte inmitten der Gesellschaft (vgl. ebd., S. 236). Ein weiteres eindrückliches Beispiel ist die Bewegung Operation Libero.
Operation Libero formierte sich am 14. Februar 2015, fünf Tage nach Annahme der Masseneinwanderungsinitiative[2], um sicherzustellen, «dass die Zivilgesellschaft nie wieder eine derartige Abstimmung verschlafen würde» (Grassegger 2016). Mitte Oktober 2015 schien der Moment gekommen, um aktiv zu werden. Die Abstimmung zur Durchsetzungsinitiative stand bevor. Mit der Durchsetzungsinitiative sollte ein langer Katalog von direkt anwendbaren, detaillierten Bestimmungen zur Ausschaffung von straffällig gewordenen Ausländerinnen und Ausländern in die Bundesverfassung aufgenommen werden. Die ersten Umfragewerte vom 10. November 2015 stellten für die junge Gruppierung eine desaströse Ausgangslage dar: 66 Prozent Zustimmung für die Durchsetzungsinitiative, drei Prozent der Befragten waren sich noch unsicher, der kleine Rest war klar dagegen. Von den Wirtschaftsverbänden war keine große Unterstützung zu spüren, die NGOs hatten weder Geld noch Personal. Einzig Amnesty International versprach, 10000 Franken beizusteuern. Operation Libero startete ihre Kampagne im Netz und gründete drei Facebook-Gruppen. Die permanente Vernetzung machte Operation Libero wendiger als ihre Gegenspieler, die sich konventioneller koordinierten. Die Kommunikation lief über Facebook, Twitter sowie die Website des NGO-Gegner-Komitees. Fallbeispiele für die Konsequenzen des neuen Verfassungsartikels wurden ausgearbeitet und Memes mit Antworten auf Behauptungen der Befürworterinnen und Befürworter der Initiative produziert. Rund um die Uhr wurde das Netz durchforstet und Angreifbares aufgespürt. Als ein Politiker – ein Befürworter der Initiative – auf einem Lokalsender eingestand, dass er nicht genau wisse, was in der Initiative stehe, wurde daraus ein 20-Sekunden-Spot, der viral ging. Mitte Dezember organisierte Operation Libero einen Vortrag mit einer Völkerrechtlerin, wenig später unterzeichnete ein Großteil der Ständeräte und Ständerätinnen eine Erklärung gegen die Initiative. Mit der Zeit gingen immer mehr Spenden ein. Mitte Januar verkündeten 120 Schweizer Rechtsprofessorinnen und Rechtsprofessoren ihren Widerstand gegen die Initiative. Dafür beriefen sie sich auf die von Operation Libero genannten Gründe (vgl. ebd.). Nach weiteren Aktionen wurde am 28. Februar 2016 die Durchsetzungsinitiative abgelehnt. Eine fünfköpfige Gruppe junger Leute hatte dazu einen entscheidenden Beitrag geleistet. Einem zunächst utopisch scheinenden Vorhaben wurde zum Erfolg verholfen.