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Dann kam ein Geschenk von Naomi aus Detroit in den USA. Ich war überrascht, dass der kleine Quälgeist an meinen Geburtstag gedacht hatte, aber wahrscheinlich hat wohl ihre Tante für das Paket gesorgt. Es ist vor zwei Monaten aufgegeben worden, aber alles ist heil geblieben, und wir waren entzückt. Sie hat uns eine große koschere Wurst geschickt, also nehme ich an, dass es da drüben auch so etwas gibt, ein Kilo Zucker, ein Glas Stachelbeermarmelade, ein Glas Aprikosenmarmelade und ein Glas Himbeermarmelade. Alles Süße ist bei uns ein Volltreffer. Sie hat auch zwei Stück Camay-Seife und ein Glas Leberpâté hineingelegt.
Naomi schreibt regelmäßig, aber ihre französische Grammatik ist entsetzlich und wird immer schlimmer. Sie wird zu einer Wilden. Ich weiß nicht, ob Papa das Richtige tat, sie so ganz allein wegzuschicken. Wir bekommen auch Briefe von Rose Siegal in Jiddisch, einer Sprache, die ich nicht lesen kann, aber Maman übersetzt. Tante Rose (Mamans älteste Schwester) versichert uns, dass Naomi wohlauf ist und ihr Englisch verbessert (während sie ihre eigene Sprache verleugnet, ergänze ich) und rasch wächst. Das tut Rivka auch, aber sie ist zu dünn. Wenn wir nur ein bisschen mehr für sie zu essen hätten. In der Schule bekommen die Kinder Vitaminkekse. Manche Kinder tauschen ihre ein, aber ich habe Rivka eingeschärft, ihren jeden Tag zu essen. Tante Rose fragt nach Tante Batya, ihrer Schwester, die immer noch in Drancy ist. Maman wird ihr das wenige, was wir wissen, schreiben, denn wir dürfen die Gefangenen nicht besuchen.
Es war sehr einfühlsam von Naomi oder Tante Rose, uns diese Geschenke zu schicken. Der Winter setzt früh ein, und wir frieren erbärmlich. Wir haben keine Heizung. Maman bekommt Frostbeulen. Wir gehen mit einer Wärmflasche ins Bett, aber die bleibt nur eine Stunde lang warm. Wir schlurfen herum wie Altkleiderbündel und haben ständig Handschuhe an, die wir nur ausziehen, wenn wir abwaschen müssen.
Die Seife ist eine besondere Wohltat, denn wir können ein regelmäßiges System einführen, einmal in der Woche zu baden. Wir hatten seit Oktober keine Seife, da wir sie gegen Nahrungsmittel eingetauscht haben. Rivka braucht etwas zu essen und Maman auch. Ich futtere mich noch am besten durch, weil ich von meinen Freunden verwöhnt werde, die alle gute Schwarzmarktbeziehungen und immer ein Häppchen für mich haben und manchmal sogar eine ganze Mahlzeit. Wo immer ich kann, versuche ich, ein Brötchen oder ein Stück Hühnchen für Rivka und Maman einzustecken, heimlich, denn einmal hat mich Céleste dabei ertappt, wie ich einen halben Croque-Monsieur in die Tasche stecken wollte, und sagte: Na, wenn du keinen Hunger hast, esse ich ihn, und das tat sie.
Ja, außerhalb des Hauses esse ich Schinken. Ich würde eine Kröte essen, wenn mir jemand eine vorsetzte. Ich hätte den Schinken Rivka gegeben und ihr gesagt, es sei Cornedbeef. Ich fühlte mich elend, weil ich Hunger hatte und ihn entsetzlich gern gegessen hätte, aber noch lieber hätte ich ein bisschen davon Rivka gegeben, die nur noch Haut und Knochen und fast blau im Gesicht ist. Maman meint, vielleicht hat sie Blutarmut, aber was können wir dagegen tun? Henri hat mich diese Woche nicht zum Mittagessen eingeladen. Für ihn steht inzwischen fest, dass ich meine Jungfräulichkeit zum Fetisch erhebe, und er sagt, solchen bürgerlichen Humbug müsste ich überwinden.
Gut, sagte ich, ich werde auf den Boule Mich’ gehen, das erstbeste Fahrradtaxi anhalten und mich anbieten.
Ein Fremder könnte eine Krankheit haben, sagte er. Ich denke dabei nur an dich.
Ich weiß, wie du an mich denkst, und träum weiter, sagte ich. Ich tue völlig gelassen, denn das muss man, aber ich fühle mich ganz merkwürdig, wenn ich mit ihm am Tisch sitze und er ständig wie rein zufällig mein Knie berührt, meinen Ellbogen, meine Schulter. Wenn wir nicht so viele Kleiderschichten anhätten, könnte er sehen, dass ich manchmal eine Gänsehaut bekomme. Zu meinem Glück sind wir beide in unsere Sachen eingewickelt wie Mumien im Museum, und selbst wenn er mich zu küssen versucht, kommt er nicht näher als fünfzehn Zentimeter, weil wir so ausgestopft sind. Trotzdem träume ich davon, wie seine Augen, hellbraun wie nasser Sand, sehnsüchtig an mir hängen.
12 décembre 1941
Jetzt befindet sich Deutschland also im Krieg mit den USA. Henri sagt, die Deutschen haben am Ende mehr abgebissen, als sie kauen können, aber uns scheinen sie leicht genug verdaut zu haben. Ich habe wenig konkrete Hoffnung, jemals in einer nicht von Irrsinn beherrschten Welt zu leben, oder höchstens irgendwann einmal als alte Frau. Wir werden keine Pakete mehr von Naomi bekommen und auch keine Briefe mehr. Wir sind von unserer Schwester abgeschnitten, als wäre sie auf dem Mond! Maman weint viel über Naomi und schilt sich dann für ihre Selbstsucht, da doch wenigstens eines ihrer Kinder in Sicherheit ist. Rivka war nie mehr die Alte, seit Naomi fort ist; sie ist nur noch ein halbes Kind, still, fügsam und zutiefst einsam, obwohl ich so sehr viel mehr Zeit mit ihr verbringe.
Gestern ist etwas einfach Unvorstellbares geschehen. Die Nazis haben in einer Razzia eintausend französische Juden zusammengetrieben, darunter alle Rechtsanwälte, die bei der Pariser Anwaltskammer zugelassen sind, ja überhaupt alle. Sie haben Ärzte, Anwälte, Schriftsteller und Intellektuelle geholt und einfach verhaftet. Niemand scheint zu wissen, wohin sie gebracht worden sind, außer dass es diesmal nicht Drancy ist, wo die armen Balabans eingesperrt sind. Wir haben ihnen kleine Päckchen gebracht, wurden aber nicht hineingelassen. Das Lager stinkt schon aus zweihundert Metern Entfernung. Es ist eine unfertige Neubausiedlung, umgeben von Stacheldraht und Wachtürmen. Man müsste meinen, die armen Balabans seien Vergewaltiger, Mörder und Terroristen und nicht eine Familie von Fabrikarbeitern.
Wohin sie die schrecklich gefährlichen Schriftsteller, Anwälte und Ärzte gebracht haben, ist reine Vermutung. Wir machen uns Gedanken und haben Angst, wir geben Gerüchte weiter und warten auf die Rückkehr des Pfadfinders, aber bis jetzt war er noch nicht da. Die Rechtfertigung für diese Razzia – aus irgendeinem Grund haben die Nazis immer gern eine Rechtfertigung, und sei sie noch so fadenscheinig – ist Bestrafung, weil jemand auf einen deutschen Luftwaffenoffizier geschossen hat. Das ist alles.
Im Café Le Jazz Hot machen alle Witze darüber, dass ich die letzte Jungfrau von Paris bin. Céleste verkündete heute, dass sie mich ausstopfen und in einen Schaukasten im Musée de l’Homme stecken werden. Ich sagte, mir wäre das nur recht, solange ich mit Brathuhn und Kalbsschnitzeln und Steaks ausgestopft werde. Henri sagte, wie wäre es mit meiner Salami. Manchmal erröte ich innerlich von dem, was sie sagen, aber ich bleibe sehr kühl. Ich sagte, nein danke, deine Salami ist nicht koscher.
Hinterher dann, als Henri mich zur Metro brachte, fragte er mich, ob ich nicht mit ihm schlafe, weil er kein Jude ist. Er wollte mitten auf dem Bürgersteig ein ernsthaftes Gespräch über etwas anfangen, was ich im Scherz gesagt hatte, um ihnen das Maul zu stopfen. Es endete damit, dass ich ihn im Hauseingang küssen musste. Dann versuchte er wieder, seine Hand unter meinen Pullover zu schieben. Ich sagte: Versuch ja nicht, dich schrittweise vorzuarbeiten, Henri. So wirst du mich nicht rumkriegen. Wenn ich mich dazu entschließe, werde ich das Ganze machen, aber bis dahin betatsch mich nicht, das finde ich ordinär. Er wurde wütend und ging weg, aber ich weiß, das Problem wird nicht weggehen.
Ruthie 2
Von hastigen Gelöbnissen
Ruthie stand auf einem Stuhl. Mame steckte den Rocksaum von dem schicken grauen Gabardinekostüm ab, das sie bei Goodwill gefunden hatte. Die Ärmel waren unten leicht abgetragen, aber die hatte Mame eingeschlagen, und die Nähte unter den Armen hatte Ruthie selbst ausgebessert. Der Rock war länger, als junge Frauen jetzt trugen, und so machte Mame ihn kürzer. Das musste alles in großer Eile geschehen, denn Leib und Trudi heirateten heute Nachmittag im Studierzimmer vom Rabbi.
Ruthie wusste noch nicht, was sie von der Heirat halten sollte. Leib hatte für eine kleine Firma gearbeitet, die Reklameluftballons herstellte, aber die bekam keinen Gummi mehr geliefert und musste alle entlassen. Er hatte Arbeit am Fließband vom Chrysler-Panzerwerk gefunden, aber als seine Nummer von der Einberufungsbehörde aufgerufen wurde, war er noch nicht lange genug dabei, um wegen kriegswichtiger Arbeit freigestellt zu werden. Jetzt musste er in drei Tagen zur Armee, und er und Trudi heirateten sofort. Seit seiner Trennung von Ruthie hatte er sich ab und zu mit Trudi getroffen, aber Trudi hatte geklagt, er sei nicht in sie verliebt.
Als Trudi ihr von der Hochzeit erzählte, sagte Ruthie: »Aber ich dachte, so gut stand es zwischen euch nicht.«
»Schon, aber das hat sich geändert. Jetzt will er mich heiraten. Hör bloß auf, Ruthie, du hättest Leib auch geheiratet, wenn er dich je gebeten hätte, also erzähl mir keinen Quatsch. Was will man mehr, groß, dunkel und gutaussehend. Außerdem bin ich Patriotin.« Trudi war die vierte ihrer Freundinnen, die seit dem siebten Dezember heiratete, jede einen Mann mit dem Einberufungsbefehl in der Tasche.
Als Trudi Ruthie gebeten hatte, ihre Brautführerin zu sein, hätte Ruthie sich am liebsten gedrückt. Sie hatte keine Lust, Leib zu begegnen; es tat immer noch weh. Sie meinte nicht, ihn wirklich geliebt zu haben. In ihm war immer etwas gewesen, dem sie misstraut hatte. Sie war davon ausgegangen, dass das mit Männern eben so war – aber mit Murray war es nicht so.
»Mame, ich will dich nicht hetzen, aber vielleicht werde ich mit geheftetem Saum gehen müssen. Es macht doch nichts, wenn der Saum nicht völlig gerade ist. Das ist nicht meine Hochzeit, und niemand wird mich anschauen.«
»Meine Tochter, und geht zu einer Hochzeit vor Rabbi Honig mit dem Rocksaum voller Stecknadeln? Du musst dich ja nicht zurechtmachen wie ein Filmstar, aber wir brauchen nicht voller Stecknadeln vor die Leute zu treten.«
Mame hatte abgenommen und trug das Haar jetzt hochgesteckt statt in einen struppigen Knoten zurückgekämmt. Sie betrieb neuerdings eine kleine Tagesstätte für Säuglinge und Kleinkinder von Frauen in der Nachbarschaft, die arbeiten gingen. Ganze einunddreißig Dollar durfte ein Ehemann in Übersee von seinem Sold nach Hause überweisen. Davon konnte niemand leben. Außerdem kosteten die wenigen vorhandenen Tagesstätten ein Vermögen.
Mame nahm sechzig Cent pro Tag für Kleinkinder und fünfzig Cent für Säuglinge zuzüglich zwei Fleischmarken. Dafür bekamen die Kinder zwei Mahlzeiten und ein Mittagsschläfchen. Sharon steckte ihre eigenen Kinder dazu und half. Von sieben Uhr morgens bis sieben Uhr abends war das Haus mit heulenden und brabbelnden Knirpsen vollgestopft. Mame und Sharon verdienten daran etwa zwanzig Dollar die Woche. Arty war schließlich vom Fisher-Karosseriewerk genommen worden und hatte Nachtschicht, was bedeutete, dass die Kleinen unten bleiben mussten, damit er seinen Schlaf bekam. Arty hatte nichts für das Projekt übrig und sagte, sie gerieten noch mit dem Gesetz in Konflikt, weil sie keine Genehmigung hatten. Ruthie hatte die gesetzlichen Bestimmungen für Wayne County durchforstet, und es war vollkommen ausgeschlossen, dass jemand in ihrer Lage sie erfüllen konnte – oder dass die Frauen aus der Nachbarschaft dann eine so schicke Einrichtung bezahlen konnten.
»Hast du etwas von deinem Burschen gehört?«, fragte Mame mit Stecknadeln im Mund.
»Mame, du bekommst die Post jeden Tag vor mir zu sehen. Ich habe erst am Dienstag seinen Brief vom Samstag beantwortet.« Sie mochte es nicht, wenn Mame sie nach Murrays Briefen fragte, denn dafür bedeuteten sie ihr zu viel. Er war unten im Süden, den sie sich vorstellte als eine Mischung aus Sümpfen, Magnolien, immergrünen Eichen, den Gespensterschleiern aus Spanisch Moos und lakenverhüllten Ku-Klux-Klan-Kerlen, so schlimm wie Hitlers SA-Männer, die Kreuze verbrannten und Juden und Farbige. Jedenfalls ein gefährlicher Ort, fast so gefährlich wie jeder Einsatz, der ihm bevorstand. Murray hatte noch sein Semester beendet und sich dann im Februar zum Militär gemeldet.
»Aber warum gehst du zur Marineinfanterie, zu den Marinesoldaten?«, hatte sie ihn gefragt. »Ich dachte, wir hätten uns aufs Heer geeinigt, und da möglichst die Fernmeldetruppe.«
»Ich kann’s dir beim besten Willen nicht sagen, aber so ist es nun mal. Ich habe gerade die tiefste Demütigung meines Lebens hinter mir, man hat mich behandelt wie ein Stück Rindfleisch, gepiekt und gepufft. Jetzt denke ich, wenn ich überleben will, was war ich dann für ein Idiot – mich freiwillig gemeldet zu haben und auch noch erleichtert zu sein, ja geschmeichelt, wenn ein Kommisskopp am Schreibtisch zum ANGENOMMEN- und nicht zum ABGELEHNT-Stempel gegriffen hat. Ich stand nackt da, Ruthie, splitterfasernackt, und die Knilche saßen bequem in ihren Uniformen. Ich glaube, ich bin auf den zugegangen, der den besten Eindruck machte. Der von der Marineinfanterie kam mir zackiger vor als die andern. Er schien es ernster zu nehmen. Heer und Kriegsmarine, das waren Offiziere, die rumwitzelten, und als sie mich ansahen, spürte ich nur Verachtung. Ich dachte bei mir, das ist das, was ich will, jemand, der versteht, dass ein Krieg eine ernste Angelegenheit ist, und nicht dasitzt und Witze reißt.«
»Ich habe noch nie von einem jüdischen Marinesoldaten gehört«, sagte Ruthie skeptisch.
»Dann werde ich der erste sein.«
Jetzt war er unten auf Parris Island und überlebte Brutalität und Verachtung, so gut er konnte. Duvey hatte seine Vollmatrosenpapiere genommen und war losgefahren, um auf einem Ozeanfrachter anzuheuern, obwohl seine Kameraden von der Gewerkschaft ihm vorhielten, dass die Arbeit auf den Großen Seen genauso wichtig war. Duvey blieb anderer Meinung. »Wichtig? Bockmist! Keiner verpasst dir vor Toledo ’n Torpedo. Ich komm mir wie ein Feigling vor, wenn ich weiter hier rumlungere.«
»Wenigstens bist du nicht im Heer oder in der Marine und kämpfst an der Front«, sagte Mame.
Duvey lachte. »Nein, auf uns wird nur geschossen. Wir selber schießen nicht viel.«
Trotzdem waren sie alle erleichtert, dass Duvey nicht bei der Kriegsmarine war und in Seegefechten kämpfen musste. Er tat nur, was er schon seit Jahren getan hatte, aber jetzt auf dem Ozean und nicht auf den Großen Seen. Hin und wieder bekamen sie einen Stapel Briefe von ihm, meistens Anekdoten über die Mannschaft, aber dann vergingen wieder zwei Monate, und nichts kam. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, dass sie ihren Bruder nicht mehr liebte, und beschloss, ab sofort mehr Liebe für ihn aufzubringen. An Tapferkeit hatte es ihm nie gemangelt. Vielleicht hatte sie das nicht recht gewürdigt. Sie hatte sanfte Beharrlichkeit immer mehr geschätzt, aber sanfte Beharrlichkeit war im Krieg keine Grundtugend.
»Mame, es ist zwölf Uhr. Ich muss mich anziehen. Jetzt!«
Mame seufzte. »Schön, gib den Rock her und zieh du dich so weit an, und ich hefte den Saum. Tate wird ein bisschen auf sein Essen warten müssen.«
»Mein einziger freier Tag, und ich muss hungern?« Er protestierte nur der Form halber.
»Ich habe noch nie jemanden sich heiraten sehen.« Naomi saß auf Ruthies Bett und schaute zu.
»Jemanden heiraten sehen. In Englisch heißt das heiraten, ohne sich.«
»Heiraten, ohne sich. Ich möchte sehen, wie das vor sich geht. Kann ich bitte mitkommen?«
Ruthie schwieg einen Augenblick und schlüpfte in ihr bestes Höschen. »Warum eigentlich nicht, zazkele? Zieh dein kariertes Kleid an und kämm dich.« Naomis Anwesenheit verdünnte vielleicht ihren düsteren Schmerz. Sie hätte Leib am liebsten den Schädel eingeschlagen, als er mit Trudi angebandelt hatte. Tausende von Mädchen in Detroit, die ihm alle schöne Augen machten, und da musste er ausgerechnet ihrer besten Freundin nachsteigen. Sie hatte sich gewünscht, dass Trudi aus Freundschaft zu ihr nicht mit dem Schatz ausging, der ihr gerade den Laufpass gegeben hatte; aber sie musste zugeben, Trudi war zu einigen Opfern bereit, um einen festen Freund zu haben und jetzt einen Ehemann. Ruthie hatte ihren Groll hinunterschlucken müssen, um Trudi nicht zu verlieren, und schließlich fand sie, dass ihr nicht zustand, Einwände zu erheben, denn sie hatte den Preis für Leib gekannt und war nicht bereit gewesen, ihn zu zahlen. Doch, ja, wenn Naomi mitkam, schützte sie das vor der Wucht der Gefühle, die in ihr hochkommen mochten, Bedauern, Verzweiflung – und Eifersucht.
Nachdem Ruthie sich bis auf den Rock angezogen hatte, verhallten ihre Rufe nach Mame durch den Spalt ihrer Zimmertür ohne Ergebnis. Sie warf einen wütenden Blick auf den Nachttischwecker. Sie musste Mame den Rock entreißen, egal, wie er aussah, ihn anziehen und gehen. Sie wollte nicht riskieren, zu spät zu kommen – das sah leicht nach wohl berechneter Missachtung aus oder danach, dass ihr die Heirat unerträglich war. »Naomi, hör auf, an deinen Haaren herumzufummeln, sie sind gut so. Steck dir nur noch die Spangen hinein. Die roten, eine auf jeder Seite.« Es war ihr peinlich, aber sie musste im Schlüpfer hinausgehen, ohne Rock, ansonsten vollständig angezogen bis hinauf zu dem kleinen Frühlingsfilzhut.
»Mame, ich muss ihn jetzt anziehen.«
»Ruthele, nur noch eine winzige Minute, und ich habe den Saum fertig.«
Sie nahm den Rock mit festem Griff. »Mame, es sind keine Minuten mehr übrig. Ich darf nicht zu spät kommen, und ich muss jetzt zur Tür raus. Jetzt sofort. Lass los, Mame! Das ist mein Ernst.«
Die sanften, milchig braunen Augen ihrer Mutter hefteten sich fragend auf sie. Normalerweise gab Ruthie nach. Aber Mame wusste, wenn ihre Tochter einen bestimmten forschen Ton anschlug, dann machte sie keinen Spaß oder schacherte, dann meinte sie, was sie sagte. »Liebling, du kannst doch nicht mit Stecknadeln rumlaufen –«
»Es wird niemandem auffallen.« Ruthie entwand ihrer Mutter den Saum und zog den Rock an. Zu drei Vierteln war der Saum angenäht, ein Stück an der Seite war nur abgesteckt. »Komm, Naomi. Hol deinen Mantel.«
Es war ein kalter, klarer Tag mit ein wenig Feuchtigkeit im Wind, aber wolkenlosem Himmel. Als sie zur Synagoge eilten, kamen sie an einer katholischen Kirche vorbei, aus der gerade Leute herausströmten, alle feingemacht in Kostümen und Hüten und Anzügen und hier und da einer Uniform. »Heute ist ihr Ostern«, sagte sie zu Naomi. »Hoffentlich ist das kein schlechtes Zeichen für Trudi und Leib. Bobe hat immer Geschichten über Polen zu Ostern erzählt, von den Pogromen alle paar Jahre. In den anderen Jahren kamen die gojim einfach nur und schlugen ein oder zwei tot, zum Vergnügen.«
»In der Schule mussten wir jetzt Osterlieder singen. Ich fand es besser, nichts zu sagen, außerdem habe ich den Text kaum verstanden. Wenn sie singen, ist es noch viel schwerer.«
»Sie dürften so was nicht von dir verlangen, aber du hast recht. Dies ist keine gute Zeit, um uns abzusondern und zu beschweren.«
»Ich habe Sharon und Mame reden hören. Sie haben gesagt, Leib hätte dich heiraten sollen.«
»Kezele, wer hat mich gefragt? Will ich Leib heiraten?«
»Willst du?«
»Nein.« Da war sie sich sicher, aber während sie durch die Straßen eilten, das letzte Eis verschwunden, im Rasen vor dem Beth-Schalom-Tempel die ersten grünen Triebe und Krokusse und Osterglocken, erkannte sie, dass Leib nicht heiraten zu wollen nicht unbedingt bedeutete, sich riesig zu freuen, dass er eine andere heiratete. Diesen guten Willen musste sie in ihrem Herzen finden.
Beth Schalom war ein gedrungenes, gelbes Backsteingebäude mit einem Magen David aus kleinen bunten Glasscheiben an der Stirnseite über den beiden schweren Eingangspforten. Sie eilten zur Rückseite und durch die kleine Gattertür. Als sie Naomi an der Hand im Laufschritt mitzerrte, hoffte sie, noch nicht zu spät dran zu sein. Ihr fiel plötzlich auf, dass Naomi nicht mehr wesentlich kleiner war. »Du bist gewachsen«, sagte sie erstaunt.
»Ich bin letzten Monat fast zwei Zentimeter gewachsen.«
»Wie viel ist das in Zoll?«
Naomi zuckte die Achseln. »Ich weiß manche Sachen in dem einen System und manche in dem andern, aber ich kann nicht dazwischen hin und her.«
Die Hochzeitsgesellschaft war schon drinnen versammelt, aber der Rabbi fehlte noch, nur seine Frau war da und umflatterte Trudi und kümmerte sich um alle, bis der Rabbi so weit war. Leib trug noch nicht Uniform. Sein schwarzer Anzug, den er sich vor zwei Jahren zur Beerdigung seines Vaters gekauft hatte, war jetzt ein wenig kurz, ein wenig knapp, kleidete ihn aber immer noch: seine hohe Stirn unter dem zerzausten schwarzen Haar, seine weit auseinanderliegenden Augen, die aus dem kantigen Gesicht mit den Vorsprüngen und Höhlungen gebieterisch blickten, sein ganzes hochgewachsenes, wohl gepolstertes Knochengerüst, das von der Enge des Anzugs nicht in Verlegenheit gebracht wurde, sondern sie ausnutzte, um die Muskelpakete herzuzeigen. Leibs Vater hatte den Spitznamen Mischa der Bär gehabt. Er hatte mit einem Pferdekarren Umzüge gemacht und fast sein ganzes Leben lang Möbel von einer Seite des jüdischen Ghettos auf die andere gewuchtet, und das Pferd hatte im Hinterhof seinen Stall gehabt. Leib besaß seine Kraft und seinen Jähzorn.
Ach, sein Anblick rührte sie, wie schon immer. Aber nicht genug, dachte Ruthie, meine Augen haben keine Tugend und wenig Verstand. Er wird jede Frau eine kurze Zeit glücklich machen und eine lange Zeit unglücklich.
Trudi trug ein blassrosa Kleid. Weder Trudi noch ihre Mutter noch Ruthie hatten ein kurzes weißes, der Gelegenheit angemessenes Kleid auftreiben können, in ganz Detroit nicht. Es war zu früh im Jahr für ein weißes Sommerkleid, und ein Hochzeitskleid war innerhalb so kurzer Frist ausgeschlossen – und zu teuer. Trudi hatte geweint, aber das Blassrosa ließ sich auch später noch tragen und brachte ihr dunkelbraunes Haar und ihren kräftigen Teint zur Geltung. Der Rabbi kam herein und rieb sich die Hände, sofort sprang Trudis Vater auf, ihn zu begrüßen. Trudis Mutter hob den Schleier ihres alten schwarzen Hutes mit den Kirschen obendrauf, um sich die Augen zu wischen.
Ruthie dachte, wir müssen Naomi einen Hut kaufen, es wird Zeit, sie wird langsam groß. Naomi trug ein gestreiftes Kopftuch. Armes Lämmchen, was für eine Zeit, um erwachsen zu werden, was für eine Zeit.
Dann fing sie Leibs Blick auf, der sie anschaute wie früher, mit brennenden, hungrigen Augen. Sie senkte den Blick und wandte sich Naomi zu, zupfte an ihr herum. Naomis Augen waren riesig und sahen alles, auch Leibs Blicke. Als Ruthie wieder hinsah, schaute er immer noch. Hoffentlich bemerkte es niemand sonst, zum Glück waren alle um Rabbi Honig versammelt. Leibs Mutter war mit Trudis Kleid beschäftigt, ein Zupfen hier, ein Zurechtziehen da, ein Stäubchen dort, das wegmusste. Dann trat sie zurück, um Trudi mit scharfen, fast hasserfüllten Blicken zu mustern. Sie schien zu fragen: Was sieht er eigentlich in ihr?
Ruthie hatte das ungute Gefühl in der Magengrube, Leib hätte sie am liebsten immer noch gepackt wie früher und hätte lieber sie vor den Rabbi gezerrt und lieber sie genommen. Nicht aus Liebe, nein, sondern weil er sie immer noch begehrte, auf jene hungrige, heftige Art, die sie sehr viel weniger erregt hatte als Murrays stille und behutsame Liebkosungen. Sie nahm sich vor, ihn nicht wieder anzuschauen.
Ruthie stand an einer Ecke der chuppa. Immer wieder verfingen sich die Stecknadeln an ihrem Schenkel. Der Strumpf war bestimmt völlig ruiniert, und wo sollte sie Ersatz finden? Sie hielt ihren Blick auf Trudi geheftet und sah Leib nicht wieder an, bis die Zeremonie zu Ende ging und er das Glas in der Serviette unter seinem Fuß zertrat und aufstampfte, wie er an jenem Abend aus dem Zimmer gestampft war, als er endgültig mit ihr gebrochen hatte. Während er das Glas in Scherben trat, warf er ihr einen letzten Blick voll der gleichen wütenden Heftigkeit zu, und dann wandte er sich ab und küsste Trudi, ein großer Kinonahkampfkuss. Dann begannen alle masel tow zu rufen und mit geweihtem Wein auf das Paar anzustoßen.
Ruthie stand ein wenig abseits und verzieh Leib die hungrigen Blicke, denn jetzt war er richtig verheiratet, mit Trudi, und die Dinge mussten sich finden. Sie erinnerte sich an Murrays letzte Woche, bevor er in den Zug gestiegen war. Sie hatte so viel Zeit wie möglich mit ihm verbracht, und für die letzten beiden Tage hatte sie sich bei der Arbeit krankgemeldet, es war ihr vollkommen egal, sie musste sich die Zeit stehlen.