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Ein nasser, rauer, verschneiter Februar war das gewesen, von allen Bäumen war Eis getropft und hatte die Seitenstraßen in zerfurchte Rutschbahnen verwandelt. Sie hatten viel Zeit im Kunstmuseum verbracht, in der öffentlichen Hauptbibliothek, in der Wandelhalle der Wayne. Wo konnten sie hin? Sie sahen mehrere Filme. Kinos waren für Schicht- und Nachtarbeiter vierundzwanzig Stunden am Tag offen und immer voll. Meistens mochte Murray ihre gemeinsame Zeit nicht darauf verschwenden, irgendetwas anderes anzuschauen als sie, sagte er. Sie trieben in einem prall gefüllten Stau, einem Netz der Zuwendung, das beide umfing. Sie redeten und redeten. Sie gaben einander ihre Kindheiten, als projizierten sie Familienfilme auf eine Leinwand im Kopf ihres Gegenübers.
Leider hatten seine Eltern sich nicht für sie erwärmt. Beide schienen in panischer Angst, Ruthie und Murray könnten noch in dieser Woche heiraten. Seine Eltern sahen einander ähnlich, beide von ovaler Gesichts- und Körperform, mit hellbraunem, ergrauendem Haar, so dass sie Ruthie einheitlich beige vorkamen. Sie waren annähernd gleich groß. Beide trugen Goldrandbrillen und einen gemeinsamen Gesichtsausdruck aufgeregter Bestürzung, sobald sie sich ihr zuwandten. Vor dem Hintergrund ihrer einstigen soliden Mittelstandsexistenz konnten sie Ruthie nicht akzeptieren. Sie hatten eine Vorstellung von dem Mädchen, das Murray ins Haus bringen sollte, eines mit Geld, mit Beziehungen. Eines, das Nutzen abwarf. Seine Mutter begegnete Ruthie mit geschürzten Lippen und gerunzelter Stirn, war aber zu kraftlos, um unhöflich zu sein.
Der Tag vor seiner Abreise war am schlimmsten, süßsaurer Schmerz. Sie sah ihn immer noch vor sich in jener Nische der Chilibude beim College, als er sagte: »Ich habe gegen den Drang angekämpft, dir einen Heiratsantrag zu machen. Dich an mich zu binden. Noch bevor ich fortmuss zu verlangen, dass du jetzt sofort die Meine wirst. Weil ich weiß, dass es falsch ist. Es ist Unsinn. Es geht nicht, dass ich dir die Heirat antrage und dich zu meiner Frau und meiner Liebsten mache, bevor ich verschwinde. Das ist egoistisch. Ein Stück von dir haben zu wollen, das mir gehört.«
»Ich werde auf dich warten. Das kann ich dir versprechen. Ich liebe dich.« In der Sitzecke der Chilibude hatte sie es gesagt, als sie Hände hielten über Tassen mit kaltem Kaffee. »Du brauchst mir keinen förmlichen Heiratsantrag zu machen.« Danach war sie starr vor Verlegenheit, verblüfft, wie sie so etwas laut zu einem Mann hatte sagen können, insbesondere zu einem Mann, der es ihr nicht zuerst gesagt hatte.
»Ich liebe dich, Ruthie. Ich glaube, ich liebe dich, seit wir das erste Mal miteinander aus waren. Ich dachte, ich rede mir was ein und erfinde mir ein Bild von dir, aber so war es nicht. Du bist genau, was ich will, und wenn bloß der verdammte Krieg nicht im Weg wäre. Eine blödsinnige Zeit, um sich zu verlieben. Es zerreißt mich innerlich, wenn ich denke, dass wir uns gefunden haben und vielleicht nie dazu kommen, unser Leben gemeinsam zu leben.«
Seitdem hatte sie sich immer wieder gefragt, ob sie es nicht wie Leib und Trudi hätte halten und sagen sollen: Lass uns heiraten und auf alles andere pfeifen. Oder schlimmer noch, ob sie sich nicht hätte hingeben sollen, weil er zu sanft und rücksichtsvoll war, um zu fordern, wonach er sich so deutlich sehnte. Sie hatten sich geküsst, bis ihre Lippen wund waren. Ruthie begehrte ihn. Sie entdeckte, wie sich das anfühlte, und es jagte ihr einen Schreck ein. Sie machte sich Gedanken, ob der heftige Schmerz des Verlangens nur ihr zu eigen, etwas Krankhaftes war. Irgendwann würde sie Trudi fragen. Aber er musste fort und sie blieb hier, und alles war immer noch richtig: dass sie nicht so jung heiraten durften, dass eine eigene Familie sie beide zerstörte, dass sie sich mit einer zu engen Umklammerung gegenseitig zu den verzweifelten und verdreckten Straßen ihrer Herkunft verurteilten. Deshalb hatte sie seiner unausgesprochenen dringlichen Bitte widerstanden; deshalb hatte sie auf Trudis Hochzeit ein schlechtes Gewissen.
Abra 2
Geschichten, dass die Ohren bluten
Berlinerin, ich war Berlinerin. Das verstehen Sie nicht. Das ist so was wie in Frankreich Pariserin, wie hier New Yorkerin, nu? Man ist gewandter und gewitzter, oder man glaubt es wenigstens. Und wenn man da geboren ist wie ich, dann meint man, alles aus dem Effeff zu wissen, ist Geburtsrecht.« Mrs. Marlitt Speyer war fünfunddreißig, aber mit dem aschblonden, hochgekämmten Haar sah sie jünger aus. Sie trug ein gut geschnittenes, maskulines Nadelstreifenkostüm, das sie, wie sie Abra erzählte, selbst geschneidert hatte. Sie nannte sich Damencouturier. Jetzt arbeitete sie bei einer Seventh-Avenue-Firma, die sie mit verächtlichem Schürzen ihrer festen Lippen beschrieb als »einen Laden, der Möbelbezüge für Frauen macht, die es nicht besser wissen«.
»Meine Familie lebte seit hundertdreißig Jahren in Berlin und davor im Saarland, in einer Kleinstadt, wo wir ein Sommerhaus haben – hatten. Wir waren Weinhändler. Mein Vater und mein Onkel hatten ein Geschäft auf der Leipziger Straße … Nein, nicht mehr, denn in der Kristallnacht kam die SA, die Braunhemden. Sie zertrümmerten die Fenster und plünderten den Wein. Dann steckten sie alles in Brand. Sie verprügelten den Wachmann, und dann warfen sie ihn ins Feuer. Er war ein armer Jude, der schon aus der Kleinstadt vertrieben worden war, wo er gelebt hatte. Er war ungebildet, ein wenig einfältig, aber ein guter Mensch, der für seine Eltern sorgte. Er starb im Krankenhaus. Mein Vater war im Saarland und orderte die Auslese, die süßen, spät geernteten Weine, die teuren. Mein Onkel war zu Hause, und die Braunhemden verprügelten ihn und steckten ihn nach Sachsenhausen. Drei Monate lang war er dort, und dann haben wir ihn herausgeholt, arm, mit nichts mehr. Manchmal konnte man sich damals den Weg hinaus erkaufen. Jetzt ist er ein Krüppel, ich schicke ihm ein bisschen Geld nach Paraguay, wenn ich kann.«
Marlitt beobachtete sorgfältig, merkte Abra, aber ohne auffällig zu starren. Abra bewunderte diese Fähigkeit und nahm sich vor, sie für ihre Befragungen zu vervollkommnen. Sie spielte inzwischen mit dem Gedanken, das Thema ihrer Doktorarbeit dahingehend zu ändern, dass es sich aus diesen Befragungen ergab, zumal sie an ihrem eigenen Thema nicht mehr gearbeitet hatte, seit sie für Oscar Kahan arbeitete. Es hatte mit Marlitt zu tun, so spürte sie, die immer wieder in sie hineinzuschauen schien, während Abra ihre Notizen konsultierte.
»Die Nazis ließen uns erst hinaus, wenn sie uns bis auf die Knochen abgenagt hatten, und dann ließen uns die Amerikaner nicht herein, weil wir mittellos waren. Meine Tante und mein Onkel verschafften sich ein Visum nach Paraguay, aber wir hatten kein Geld mehr. Mein Onkel wollte hierherkommen, aber die Amerikaner sagten, er sei vorbestraft, weil er verhaftet worden war, als die Nazis damals über Nacht dreißigtausend Juden in die Lager steckten … Oh, ich habe bis zum Schluss gearbeitet. Ich hatte eine Sondererlaubnis, weil ich Modeschöpferin war. Sie hatten Bedarf für meine Modelle, wissen Sie, denn die deutsche Mode ist zumeist plump. Ich wollte Bildhauerin werden, aber auf der Akademie, meine Liebe, überzeugten sie mich, dass ich kein echtes Talent hatte, und dann entdeckte ich, dass ich doch eines hatte, aber nicht für Skulpturen – oder vielleicht für so was wie Skulpturen für Körper.« Marlitt zeichnete eine Gestalt in die Luft. Abra war beeindruckt von der Bewegung. Marlitt hatte die Angewohnheit, extrem still zu sitzen.
»Orthodox? Oh nein, wir waren Liberale. Vergleichbar Ihren konservativen Juden, aber sehr, sehr deutsch. Wir waren alle sehr deutsch. Meine Liebe, die ersten Juden ließen sich in Deutschland bald nach der Diaspora nieder, im dritten Jahrhundert A. D. Ich glaube, wir waren sogar noch vor den Deutschen da. Mein Vater und mein Onkel engagierten sich im CV – ach so, das war der Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Er ähnelte Ihrer Antidiffamierungsliga, war aber nicht so eng. Wir bildeten eine Front mit den Parteien des Zentrums und der Sozialdemokratie. Wir setzten alles auf diese Wahlen. Nicht einen Augenblick lang waren wir blind für die Gefährlichkeit der Nazis, aber wir hatten nicht die Mitgliederzahlen, das Geld, die Macht, sie aufzuhalten. Oh nein, bevor Hitler an die Macht kam, fanden wir die Zionisten lächerlich. Wir waren Deutsche, meine Liebe, wir konnten uns nicht mal dazu überwinden, uns mit den Ostjuden zu identifizieren – Juden, die aus Polen emigriert waren –, weil wir, wie Sie wissen, in Deutschland bis dahin keine Pogrome hatten und wirtschaftliche Möglichkeiten. Wir empfanden die Ostjuden als fremd. Unkultiviert.« Marlitt fuhr sich flüchtig mit schlanken Fingern über das Kinn. »Wir waren es gewohnt, dass deutsche ›Künder‹ uns verunglimpften. Wir nahmen es so auf, wie Sie es als Frau tun, wenn Sie hören, dass sich ein Mann über die Beschränktheit der Frauen auslässt. Sie denken, ach ja, und doch hat eine von uns dich geboren und dich genährt, und du wirst eine von uns heiraten. Wir waren so deutsch. Mein Vater hatte im Weltkrieg gedient. Er war mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet worden, und darauf war er sehr stolz.«
Marlitt lachte kurz und trocken auf. »Sehen Sie, wir waren es eben gewohnt, dass wir gebrandmarkt wurden, dass aber alles so weiterging wie gehabt. Jeder zweite Deutsche war ein Antisemit, der über das Judenproblem geiferte, über die jüdische Vorherrschaft, über die zionistische Verschwörung. Und dann mit Verständnis dafür rechnete, dass er einen nicht persönlich meinte. Sondern natürlich die anderen, die schlimmen Juden. Man gewöhnt sich an zu denken, sie meinen es nicht so, wenn sie ihre kleinen Witze über die Juden machen. Man übergeht es einfach und wartet, bis sie sich wieder wie Menschen benehmen. Wir hatten uns mit all den kleinen und großen Beleidigungen fast gemütlich eingerichtet, solange es uns nur gut ging und wir unser Leben lebten.«
Abra fand es schade, dass ihre Notate niemals Marlitts Stimme wiedergeben konnten, melodiös, klangvoll, spöttisch, bissig. Ingwereiscreme, dachte sie, süß und scharf zugleich. Dennoch hatte Marlitt eine Trockenheit, eine seltsame Distanziertheit, als wäre sie in Wahrheit viel älter, eine Nonne, die mit kühler Unbeteiligtheit auf ihr Leben in der verderbten Welt zurückblickte.
»Nein, mein Vater und mein Onkel waren die politisch Engagierten. Ich war jung und hatte nur Mode im Kopf und Feste und Bälle und Ausstellungen. Berlin ist wie New York, es saugt alle Künste in sich auf. In Berlin waren die Nazis nur eine Handvoll Spinner. Niemand schenkte ihnen Beachtung. Es gab nicht mehr als zwei- oder dreihundert von ihnen, bis dieses üble kleine Frettchen Goebbels auftauchte. Der schickte sie los, die Linken zusammenschlagen. Sie marschierten in die Arbeiterversammlungen und störten und veranstalteten Krawalle. Das brachte sie in die Zeitungen, und alles Gesindel in der Stadt stand bald Schlange, um bei der Gaudi dabei zu sein. Und trotzdem, wenn die Reichen ihnen nicht nachgelaufen wären und sie beschnuppert hätten wie diese läufige Hündin Magda Quandt, die ihn schließlich geheiratet hat, dann hätten sie niemals diese Mittel zur Verfügung gehabt. Wenn ich denke, dass ich für die mal etwas entworfen habe! Ach je, von Politik war die völlig unbeleckt, und ich bezweifle sogar, dass die zu der Zeit antisemitisch war.«
»Mein Mann?« Sie schwieg lange. Ihr Gesicht schien sich einzuebnen. »Nein, Speyer ist nicht wirklich mein Mann, ich werde es Ihnen erklären. Mein Mann war Martin Becker. Ein gutaussehender Mann, kräftig gebaut, über eins achtzig groß. Er hatte in der Schule Fußball gespielt. Er starb im Lager, in Buchenwald. Sie sagten, an einer Krankheit. Das sagten sie immer. Vielleicht werden wir es eines Tages wissen. Ich hörte, dass dort Fleckfieber grassierte …«
Abra merkte, dass sich in ihrer Informantin ein Tor geschlossen hatte. Über ihren Mann wollte Marlitt nicht weiter sprechen. Abra änderte die Richtung ihrer Fragen und nahm sich vor, später darauf zurückzukommen. »Wir sind über Frankreich ausgereist. Ich fühlte mich nicht wohl in Frankreich, zu viele Einschränkungen gegen jüdische Emigranten, was wir tun durften, was nicht. Sie waren gegen uns eingenommen. Wir gingen weiter nach Portugal. Ich musste dort als Schneiderin arbeiten, fast schon als Näherin. Ein hübscher Abstieg, wie? Ich schneiderte den Damen Roben für Kostümfeste.«
»Ach, Mr. Speyer. Den habe ich in Portugal kennengelernt. Speyer ist amerikanischer Jude, ein Witwer. Er hat mich geheiratet, um mich herzuholen, und wir haben auch meinen Vater und meine Mutter nachgeholt. Nein, es war reine Menschenfreundlichkeit. Er lebt mit seiner Freundin zusammen, aber er kann sie nicht heiraten – die Kinder seiner ersten Frau wollen das nicht zulassen –, und ich habe ein Papier unterschrieben, wonach ich auf sein gesamtes Eigentum verzichte. Nein, meine Liebe, nicht gerade eine weiße Hochzeit, aber lassen Sie das weg. Schließlich sind wir zusammen hergereist, und ich habe nach meiner Ankunft in seiner Wohnung gelebt, was seiner Freundin gar nicht gefiel. Jetzt, wo meine Staatsbürgerschaft gesichert ist, lassen wir uns in aller Stille scheiden. Und vielleicht wird Alfred es wieder tun. Er ist ein guter Mann, ich esse jeden Sonntag mit ihm – freitags mit meinen Eltern. Ich stelle mir zu gerne vor, wie Alfred hin- und zurückfährt und alle diese Frauen heiratet und es in Wahrheit genießt und uns dann hier in Sicherheit bringt. Er ist ein sehr guter Mann. Sie müssten ihn befragen …«
Wenn Marlitt sich in ihrer trockenen, distanzierten Art auch weigerte, für die Akten zu lügen und zu behaupten, ihre Beziehung zu Speyer sei rein platonisch, so sprach sie über ihn doch ebenso distanziert wie über alle anderen. Abra fragte: »Aber ist es nicht lästig, dass man Sie für verheiratet hält, wenn Sie es gar nicht sind? Sie sind eine attraktive Frau. Sie lernen doch bestimmt Männer kennen.«
»Es ist praktisch«, sagte Marlitt bündig. »Es lässt keinen falschen Eindruck aufkommen, denn ich war verheiratet und habe keinerlei Neigung, es wieder zu sein … Was? Mein richtiger Mann? Er war Journalist, aber nachdem sie die Juden aus den Zeitungen hinausgeschmissen hatten, betätigte er sich im Kulturbund. Sehen Sie, uns wurden die Schauspieler und Musiker und Sänger auf die Straße gesetzt, und wir alle wurden nach und nach von öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen. Er begann, kleine Stücke für den Kulturbund zu schreiben. Deshalb haben ihn die Nazis so früh geholt. Die Stücke, sie waren sehr komisch. Alles natürlich in versteckten Anspielungen. Wenn man irgendetwas Direktes sagte, dann kamen sie sofort, und man wurde verhaftet. Wir haben etwas benutzt, was wir den Neuen Midrasch nannten, alles war in Geschichten verpackt, die wir kannten. Er schrieb und inszenierte ein Purimspiel, und wir alle wussten, wer Haman war. Aber ich glaube, das haben selbst die Nazis spitzbekommen.«
Marlitt war einfach zu befragen. Ihr Englisch war ausgezeichnet, und sie bestand darauf, es zu benutzen. »Es ist schwerer, von diesen Dingen auf Deutsch zu reden«, sagte sie fest. Sie sprach trocken, ohne Tränen. Abra begann in ihr eine Frau zu sehen, deren Tränen versiegt waren. »Ja, ich hatte einen Sohn. Das geht niemanden etwas an, der solch einen Tod nicht mit angesehen hat. Ich möchte nicht darüber sprechen.«
»Mein Vater, mein Onkel waren beide in der Reichsvertretung. Das war das Instrument, mit dem wir versuchten, den Nazis eine einheitliche Front zu bieten. Wir hofften immer noch, dass dieser Irrsinn nicht andauern konnte. Eine Regierung, die wahnsinnig war? Wer konnte das glauben? Alles wie gehabt, Propaganda, Übergriffe, aber weiter würde es sicher nicht gehen. Die anderen Mächte würden sicher nicht zulassen, dass die Nazis uns tatsächlich antaten, was sie da ankündigten. Wir warteten immer darauf, dass Hitler anfing, wie eine vernünftige Regierung zu handeln. Er hat jetzt die großen Industriebarone hinter sich, sagten wir uns, sie werden ihn zum Nachgeben zwingen. Die Krupps, die Thyssens, die wollen das Land nicht in Stücke reißen. Wenn sie darauf bestehen, wird er uns in Frieden lassen. Während der Olympischen Spiele schienen sich die Dinge zu lockern. Wir hofften weiter. Immer wieder gingen unsere Freunde oder wir hin und erkundigten uns nach Auswanderungsmöglichkeiten, aber niemand wollte uns ein Visum geben. Die Briten ließen uns nicht nach Palästina und wollten uns nicht in England, und die Vereinigten Staaten wollten auch keine Juden. Aber nach der Kristallnacht hatten wir keine Hoffnung mehr, keine Illusionen. Wir nahmen Reißaus. Wir ließen unsere Toten in der Erde, auf der wir jahrhundertelang gelebt hatten, und nahmen Reißaus.«
Marlitt war plötzlich sichtlich erschöpft. Sie berührte ihre hohe Stirn mit einer blassen Hand und regte sich kurz in ihrem Sessel. Abra verabschiedete sich und hoffte, dass Professor Kahan ihre Fragen eindringlich genug fand. Wenn er ihre getippten Protokolle durchging, wies er oft auf Bereiche hin, wo sie hätte nachhaken müssen. Sie lernte, sich auf dem Terrain zurechtzufinden. Zwar kannte sie nach und nach die Namen der Verbände und Vereine, in denen diese Menschen sich in Deutschland betätigt hatten, bat aber trotzdem jede Informantin, ihr diese Organisation zu erklären. Denn Professor Kahan sagte, über eine Organisation in einem anderen Land gäbe es immer noch mehr zu erfahren, und was die Menschen über eine Gruppierung dachten, wenn sie ihr beitraten, und was die Gruppierung ihrer Meinung nach tat, sei ebenso wichtig wie das, was sie tatsächlich bewirkte.
Er spielte manchmal Fragesteller oder Informant mit ihr und zeigte ihr Wege, die gleiche Frage so zu stellen, dass sie anders klang, oder Wege, angesichts von Verschlossenheit ein Thema zu verfolgen, ohne aufdringlich zu klingen oder bedrohlich zu wirken. Der wichtigste Aspekt von Abras Auftritt – so nannte er das – war, naiv und guten Willens und interessiert zu erscheinen und so, als verfolge sie keinen tieferen Zweck. »Eine Studentin, eine gutherzige, wohlmeinende amerikanische Studentin ist das, was Sie sind, und ist das, was Sie ihnen vorführen.«
»Das ist also die Summe dessen, was ich bin?«, fragte sie ziemlich pikiert.
»Das ist doch gar keine üble Person, oder?« Oscar Kahan hatte die Angewohnheit, eine Frage mit einer Frage zu erwidern.
Sie war froh, nicht ihn befragen zu müssen, denn sie konnte sich inzwischen gut vorstellen, wie er ihre Befragung durchkreuzen würde. Er hatte ihre Neugier in den letzten Monaten hinreichend gewetzt. »Ich bin politisch nicht so naiv, wie Sie annehmen –«
»Setzen Sie sich darüber mit mir auseinander, aber beweisen Sie es nicht den Zielpersonen. Die brauchen es, sich in ihrem Wissen ein wenig überlegen zu fühlen. Diese Menschen sind Flüchtlinge, müssen Sie bedenken, verloren in einem fremden Land und aus einem gesellschaftlichen Netz gerissen, das sie verstanden oder zu verstehen meinten. Nichts bedeutet hier das Gleiche. Nichts wird auf die gleiche Art getan. Sie sind wieder Kinder. Gestatten Sie ihnen, Sie ein wenig zum Kind zu machen, während Sie die Befragung steuern – kein dummes Kind, sondern ein aufgeschlossenes, aufgewecktes, aber naives Kind, das verstehen möchte.«
So sieht er mich, dachte sie, und war plötzlich von kalter Wut gepackt. »Professor Kahan, warum verlangen Sie von mir, dass ich so viele Fragen stelle nach der Straße, in der sie gewohnt haben, nach der Schule, die sie besucht haben, nach den genauen Anschriften, den Namen der Friedhöfe, wo ihre Eltern begraben liegen, all dem?«
Er beugte sich mit warmem, verschwörerischem Lächeln über den Schreibtisch. »Und was meinen Sie, warum wir diese Fragen stellen, Miss Scott?«
»Eine Möglichkeit wäre, dass Sie meinen, wenn die Menschen sich präzise, konkrete Einzelheiten ihrer Vergangenheit ins Gedächtnis rufen, dann werden auch die anderen Angaben präziser sein?«
»Na bitte. Sie haben doch Ihre eigene Antwort.«
»Wenn ich meine, zwei und zwei sind fünf, dann habe ich auch meine eigene Antwort.«
»Aber wir haben es mit dem Subjektiven zu tun und wollen sowohl dem Befragten als auch dem Fragesteller die Befangenheit nehmen, nicht wahr?«
Sie versuchte sich an einer Nachahmung seiner gerunzelten Stirn und seines fragenden Lächelns. »So?« Sie wartete, doch er verlegte sich ebenfalls darauf, als wartete er auf eine Erläuterung. Er war doch recht raffiniert, ihr Professor, was sie überraschte, denn ihr erster Eindruck war der eines offenen, neugierigen, warmen und ganz unbefangenen Mannes gewesen. Das alles mochte er sein, und gleichzeitig war er ungemein verschlossen. Sie überlegte, ob er bei den Frauen, denen er nahe stand, offener war – wer diese Frau oder diese Frauen nun auch sein mochten. »Ich habe noch eine Frage. Mir fällt auf, dass wir den deutschen politischen Flüchtlingen eine Reihe von Fragen über die Wirtschaftslage in Deutschland stellen, die wir unseren jüdischen Flüchtlingen nicht vorlegen. Warum?«
»Wir gehen davon aus, dass die Lebensbedingungen für die Juden deutlich anders sind als für den Rest der Bevölkerung und dass wir von den Juden wenig über die deutsche Wirtschaft erfahren können, da sie zwangsweise davon ausgeschlossen werden. Wir können von einem Juden nicht erfahren, ob Butter knapp ist.«
»Professor Kahan, wenn wir ein politologisches Forschungsprojekt über die Interdependenzen und internen Strukturen deutscher politischer Gruppierungen in den dreißiger Jahren durchführen, warum ist uns dann wichtig, ob zurzeit in Deutschland die Butter knapp ist? Und bitte fragen Sie mich diesmal nicht, was ich denke.«
»Macht Ihnen die Arbeit Spaß?«
»Meinen Sie, wenn mir die Arbeit Spaß macht, sollte ich nicht so viele Fragen stellen?«
»Ich meine, macht Ihnen die Arbeit Spaß?«
»Ja.«
»Gut.« Er strahlte sie an. »Haben Sie die Frage der Butterknappheit in Ihrem Freundeskreis angesprochen?«
»Nein.«
»Warum nicht, wenn Ihnen das Rätsel aufgibt?«
»Das geht niemand anderen etwas an. Das ist einfach eine von den Fragen, die auftauchen und die ich dann zurückstelle, um sie Ihnen vorzulegen.«
»Weil Sie eine Vorstellung von der Antwort haben?«
»Zu vage, um zu taugen.«
»Belassen Sie es eine Weile dabei.«
»Eine Weile?«
Er stand auf, zum Zeichen, dass das Gespräch beendet war. »Eines, was Sie heute deutlich gemacht haben, ist, dass Sie keineswegs eine schlechte Beobachterin sind und dass Sie mich noch dazu bringen werden, meine Äußerungen über Ihre Naivität reumütig zurückzunehmen. Was die Umfrage als Gegenstand Ihrer Doktorarbeit anbelangt, so sollten Sie noch in dieser Woche darüber mit Blumenthal sprechen. Es kann nicht schaden, die Prozedur ein wenig zu beschleunigen. Wir werden die Befragungen stark redigieren müssen, bevor Sie sie für Ihre Doktorarbeit einsetzen können, aber das wäre kein Problem. Trotzdem, halten Sie sich ran. Beenden Sie Ihre Doktorarbeit, so schnell Sie können, das ist für heute mein letzter Ratschlag.«
Mit zwanzig weiteren Fragen im Gepäck aus seinem Büro entlassen, ging Abra durch den Aprilregen nach Hause und grübelte, was dieser Ratschlag zu bedeuten hatte. Er drängte sie, sich mit ihrer Doktorarbeit zu beeilen, aber wieso? Lief das Projekt bald aus? Aber dann blieben ihr immer noch die Umfrageergebnisse. Ging er fort? Er hatte an der Columbia keinen festen Lehrstuhl. Meldete er sich zu den Waffen? Dafür kam sein Jahrgang doch gar nicht mehr in Betracht. Dennoch spürte sie, dass sie seinen Rat ernst nehmen und ihr gesellschaftliches Leben rigoros zusammenstutzen sollte. Sie seufzte. Wenn ihm erst klar wurde, wie wenig ihr der Doktortitel bedeutete, würde er wahrscheinlich die Achtung verlieren und sie als Assistentin ablösen lassen, denn der Doktortitel war mehr die Ausrede für ihr interessantes Leben als das angestrebte Endprodukt. Sie hatte die Absicht gehabt, ihre Doktorarbeit über Jahre hinzuziehen.
Normalerweise lief Abra neugierig durch die Straßen von New York, beobachtete unablässig das bunte Treiben, um sich bloß keine Begebenheit, keine Feinheit entgehen zu lassen. Heute stapfte sie durch die Pfützen und hatte das Kinn in ihrem Trenchcoat vergraben. Ja, sie wollte ihrem Instinkt folgen, wollte jeden Schritt tun, den er empfahl, und sich wie wild auf ihren Abschluss stürzen, und sei es aus keinem besseren Grund, als dass Kahan es ihr geraten hatte, denn sie war überzeugt, er würde zu ihrem eigentlichen Mentor werden.
Die meisten Männer, die sie kannte, gingen sowieso zum Militär. Ihr blieb eh nur übrig, diesen verdammten Doktor zu machen. Wenigstens waren die Befragungen interessant.