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Wenn er daran dachte, schrieb er rasch einen Brief nach Hause, denn er wollte nicht, dass Mame sich Sorgen machte. Er passte auf, was er schrieb, füllte seine Briefe mit Fragen und Lügengeschichten. Sie dachte, weil er nicht bei der Marine war und nicht kämpfen musste, war er sicher. Besser, sie blieb dabei. Er hatte nicht vor, ihr ein Licht aufzustecken. Er hatte ihr immer Ärger ins Haus gebracht, obwohl er das gar nicht wollte. Als Ältester wusste er, wie schwer das Leben für sie gewesen war.
Er war auf seine Art ein Härtefall, aufgewachsen im tiefsten Keller der Depression, hatte fast alles entbehren müssen, was Spaß machte. Arty sah nicht über seinen Tellerrand raus. Ruthie, die konnte vielleicht was aus sich machen. Die hatte zwar so was Artiges, Redliches an sich, was er zum Kotzen fand, aber sie war ganz in Ordnung und half Mame. Vielleicht kam sie ja sogar irgendwann durchs College, die erste Studierte in der Familie, wenn sie nicht so blöde war zu heiraten. Die Ehe machte kaputt. Frauen fingen an, Kinder zu kriegen, und bald sahen sie aus wie ihre Mütter und konnten nur noch nachplappern, was ihre Mütter mal gesagt hatten. Männer kriegten so was Ausgelaugtes, Gebeugtes, und die Bäuche quollen ihnen über den Hosenbund.
Das war nichts für ihn. Daran hatte er nie auch nur im Traum gedacht. Ihm gefielen Frauen, die er zu Hause nicht vorzeigen konnte. Die einzigen Mädels, die in seinen Augen die Mühe wert waren, das waren die, die es gewohnt waren, sich selber durchzubringen, eine Kellnerin oder eine Barfrau oder eine Maniküre oder eine Nutte, die keinem Zuhälter gehörte, eine, die auf sich aufpasste, damit man sich bei ihr nicht was holte. Das süßeste Mädel, das er je gehabt hatte, war eine Farbige, Delora mit Kupferhaut und langen tollen, tollen Beinen und einem Hintern, den sie nur über die Straße tragen musste, damit die Männer auf die Knie fielen. Aber ein farbiges Mädel zu haben brachte Zoff. Sie konnten fast nirgendwohin was essen oder trinken gehen, ohne dass er mit weißen Wichsern aneinandergeriet oder mit Farbigen, denen es stank, dass er sich mit ihren Frauen einließ, als ob jede Frau der gleichen Hautfarbe ihnen als Gruppe gehörte. Duvey hatte nichts gegen eine Keilerei, aber doch nicht jedes Mal, wenn sie aus dem Haus gingen.
Er war mit Farbigen in der Nachbarschaft aufgewachsen, und er verstand nie, warum die Weißen sich so anstellten. Ein russischer Jude und ein Schwede zum Beispiel, oder ein Schotte und ein Sizilianer, die waren genauso verschieden. Aber jedes Mal, wenn man mit einem reden wollte, der auf dem Gebiet eine Macke hatte, dann fing der an: Wäre es dir vielleicht recht, wenn ein Farbiger deine Schwester heiratet? Als ob alle Schwarzen nichts anderes im Sinn hatten, als jemandes schielende, lahmende Schwester zu heiraten. Klar waren sie neugierig, mit einer Weißen ins Bett zu steigen, genau wie er beim ersten Mal neugierig auf eine Farbige gewesen war, aber danach war es ein bestimmtes Lächeln oder ein Gang oder ein schlagfertiger Spruch, auf den er anbiss.
Detroit hatte viele farbige Einwohner, und es wurden immer noch mehr, weil die Farbigen aus ihrem Sackgassendasein im Süden hochkamen und Arbeit in den Fabriken suchten. Wie bei den Juden waren die Gescheitesten wahrscheinlich die, die es im schwarzen Gegenstück zum Schtetl nicht mehr aushielten und sich was suchten, wo sie vorankamen und anständig verdienten. Die Farbigen in Detroit, das waren oft gescheite, aufgeweckte, fixe Leute, mit dem Bauch voll Wut über die Scheiße, die sie fressen mussten.
Auf der Montauk waren sechs Schwarze, alle unten im Maschinenraum. Sie blieben meistens unter sich, und wenn er ihnen auch guten Tag sagte, falls sie ihm über den Weg liefen, hatte er doch nicht viel mit ihnen zu tun. Außer ihm war noch ein Jude an Bord, der Funker, aber der war Offizier. Wenn der gefragt wurde, ob er Jude war, gab er es zu, aber freiwillig sagte er das nie, nur, wenn er wusste, dass er mit einem Juden redete. Sobald du sagtest, du warst Jude, wollten sie dir ans Leder. Die hielten alle Juden für Matschbacken und Schlappschwänze, und du musstest ein doppelter Kerl sein.
Wenn ihn welche ausfragten, sagte er: »Ich bin aus Detroit, Jack, wo die Autos rassig sind und die Weiber noch rassiger. Wir werden auf Rädern geboren, und wir verlöten den Schnaps wie Benzin.« Dann hatten sie was zum Reinbeißen.
Duveys Spitzname war der steile Dave, wegen seines Erfolgs bei den Weibern im Hafen. Noch auf der Highschool hatte Duvey sich ausklamüsert, Frauen lohnten sich für ihn nur, wenn sie es genauso wollten wie er, und so brauchte man sich nur darüber zu einigen, ob man sich genug mochte und wann und wo, und das Ganze war keine Sache von Gebettel und Gerangel und Versprechungen, für die man sowieso nicht das nötige Kleingeld hatte, Pflaumenpfingsten.
Am 24. April formierte sich der Geleitzug. Sein Schiff war voll mit Weizen, in Montreal gebunkert. Sie waren den St. Lorenz-Strom runtergefahren, hatten dann vor Halifax gewartet, wo der Geleitzug zusammengestellt wurde. Konvoi HX-152 war beeindruckend, als er in der Fahrrinne vorandampfte: vierunddreißig Schiffe unter Geleit von einem alten Zerstörer und drei Korvetten, von denen die Matrosen sagten, sie würden selbst auf nassem Gras dahingleiten wie geschmiert. Der Geleitzug war ein großartiger Anblick, eine Schiffsparade hinaus auf den Atlantik bei leichtem Seegang und sanfter Sonne. US-PBY Catalina-Patrouillenflugzeuge hatten von oben ein Auge drauf. Da waren ein früheres Passagierschiff mit kanadischen Truppen, ein Tanker, ein Haufen alte Trampdampfer unterschiedlichster Registrierung und Nationalität und Seetüchtigkeit, ein schmucker norwegischer Frachter mit eigenen Bordkanonen und Frachterungetüme mit ragenden Ladebäumen.
Die Montauk selber war das neueste Schiff, auf dem er je gefahren war, ein Liberty-Schiff, das erst zweimal draußen gewesen war. Alle Liberty-Schiffe waren langsam, aber ganz in Ordnung, zuverlässig, außer sie wurden mittschiffs getroffen, dann brachen sie auf wie ein Laib Schnittbrot. Die Mannschaftsquartiere waren in den Decksaufbauten, vier Kojen pro Kajüte, für insgesamt vierundvierzig Mann mit den Offizieren. Die Libertys fuhren mit Dampfmaschinen, und die Maschinen waren gut. Es gab sogar gekachelte Duschen für die Mannschaften. Er war auf Schiffen gefahren, wo ein Eimer alles war, was man an Sauberkeit bekam.
Nebel wickelte sie am zweiten Tag ein, bis sie ihre Nachbarn um sich herum nicht mehr sehen konnten. Das Fahren in Geleitzügen fing in der Karibik und auf den Küstenrouten erst an, so dass es für Duvey neu war. Auf den Großen Seen sah man ein anderes Schiff im Detroit River oder in den Schleusen, aber draußen auf den Seen kam man nicht mal in Rufweite. Es war ihm unbehaglich, bei dichtem Nebel in solch einer Herde schwerfälliger Frachter zu dampfen, wo jedes Schiff näher an den anderen war, als er sicher fand. Sie hatten keinen Geleitschutz durch Flugzeuge, die nach U-Booten Ausschau hielten, aber der Tag verging ohne Angriff. Der Nebel schloss sich dick und klamm und dumpfig um sie, die Luft war wie gasförmiges Eis. Zwei der Schiffe entgingen nur knapp einem Zusammenstoß. Eine der Korvetten musste zurückhängen, um Nachzügler einzutreiben.
Ohne Sicherung aus der Luft setzten sie ihren Weg die nächsten vier Tage lang fort, bis Duvey mitten in der Nacht vom 29. auf den 30. April eine Detonation hörte. Sogar durch den Nebel konnte er die Feuersäule sehen, was hieß, dass ein Tanker getroffen war, wahrscheinlich die Fitzpatrick. Er hörte Geschützfeuer. Der Zerstörer belegte das U-Boot mit Wasserbomben, so klang es. Dichter Rauch trieb mit Nebel vermischt über das Wasser. Von dem Petroleumgestank wurde ihm leicht übel. Er hörte eine weitere schwere Detonation. Sein Körper stemmte sich gegen die Wucht der Druckwelle. Jede Minute konnte die Montauk die Nächste sein. Automatisch fasste er nach der zugeknöpften Tasche mit seinen Papieren und seinem Geld in einem zugeknoteten Präser. Wenn er die Torpedos überlebte, dann hatte er sie dabei; wenn nicht und wenn die Leiche an Land gespült wurde, dann konnte er identifiziert werden.
Der Zerstörer meldete ausströmendes Öl von einem getroffenen U-Boot, aber eine halbe Stunde später wurde die Belle Star torpediert. Wrackgeschossen trieb sie ruderlos. Die Montauk musste ihr ausweichen.
Ohne Mond, ohne Sterne, ohne Lichter von einem der Schiffe stampften sie in eine Finsternis aus Rauch von brennenden Schiffen und der verdammten Nebelsuppe. Alle Schiffe schwatzten miteinander, denn hätten sie Funkstille bewahrt, hätten sie einander unweigerlich gerammt. Das hieß, die U-Boote, die in einem der berüchtigten Wolfsrudel operierten, konnten sich auf die Signale einpeilen und ein Schiff nach dem anderen aufs Korn nehmen. Die Korvetten setzten in gischtender Fahrt den U-Booten nach wie Hunde auf Hasenjagd.
Nach kurzer Zeit kreuzte die Montauk durch Wrackteile, Trümmer von dem, was am Tag noch ein Schiff voll lebendiger Seeleute gewesen war. Steuerbord sahen sie verschwommen Feuerschein auf dem Wasser, das Meer selbst stand in Flammen. Männer schrien. Dann sahen sie kleine rote Lichter von Seeleuten im Wasser, die tanzenden Lämpchen an ihren Schwimmwesten. Während eines Angriffs durften sie keine Überlebenden aufnehmen, aber der Kapitän entschied, da sie nicht unter direktem Beschuss standen, holten sie, wen sie konnten.
Die ersten Männer, die sie auffischten, waren im Öl ertrunken, das Öl hatte ihnen die Lungen verklebt, als sie ins Wasser gesprungen waren. Aber dann erwischten sie drei, die noch am Leben waren, grässlich vom Öl verschmiert und geblendet. Einer war auf der einen Seite völlig verbrannt und roch wie ein Rostbraten, aber er lebte. Duvey half freiwillig, den armen Teufeln das Öl abzuschaben.
Auf Anweisung scherte der Kapitän nach backbord und nahm dann wieder Kurs voraus. Sie hörten Salven gedämpfter Unterwasserexplosionen. Wasserbomben. »Das ist der Wabowerfer, mein Junge«, sagte Bootsmann Hogan zu ihm. »Den feuern sie in Salven nach vorn ab. Das ist ihr neues Spielzeug und funktioniert ein ganzes Stück besser als die verdammten Batterien, die sie nach achtern abfeuern mussten.«
Dann sahen sie im düsteren Schein eines brennenden Schiffes ein U-Boot in einer schäumenden Öllache auftauchen. Eine der angreifenden Korvetten rammte es. Das Heck ragte steil aus dem Wasser wie ein kopfstehender Hai, dann verschwand es, und der Ölteppich schloss sich darüber.
Duvey war froh, dass er nicht in U-Booten Dienst tat, ganz egal, wie gefährlich die Handelsmarine war. Ihm war lieber, er starb auf Deck in einem Feuerstoß oder ertrank, als dass er in einer Konservendose wie eine Wanze zerquetscht wurde. Er spürte immer einen Stich Mitleid für die schwarze Truppe unten im Maschinenraum. Wenn das Schiff getroffen wurde, hatten die keine Chance. Die wurden auf der Stelle zerkocht. Oben auf Deck konnte er vielleicht noch springen, und wenn er ein Rettungsboot erwischte, umso besser. Sogar die armen gerösteten Teufel, die sie gerade aus dem Wasser geholt hatten, konnten’s noch schaffen, wenn ihre Verbrennungen nicht zu großflächig waren und wenn sie nicht zu viel Öl geschluckt oder eingeatmet hatten.
Er merkte, seit ungefähr einer Viertelstunde hatte er keine Detonation mehr gehört. Das wollte noch gar nichts heißen, nur, dass die Korvetten und der Zerstörer die U-Boote aus dem Visier verloren hatten und dass die Deutschen abliefen, um auf eine bessere Gelegenheit und bessere Sicht zu warten.
Er hatte gehasst in seinem Leben: meistens Kerle, die ihn fertiggemacht hatten, einen riesigen Polacken, der ihm das Leben auf seinem ersten Schiff zur Hölle gemacht hatte, einen Maat, der versucht hatte, ihn kleinzukriegen, Father Coughlin, der in Detroit aus allen Radios in den katholischen Nachbarhäusern seinen verbalen Dünnschiss gegen die Juden ergoss. Aber nie hatte er jemanden oder etwas mit der scharfen, stählernen Kraft gehasst, mit der er diese arroganten Nazi-Haie hasste, die U-Boote. Sie hatten den Seekrieg damit eröffnet, dass sie ein unbewaffnetes Passagierschiff, die Athenia, versenkten und dann behaupteten, die Engländer selber hätten es zu Propagandazwecken hochgehen lassen. Sie machten sich über unbewaffnete Handelsschiffe her, eine schöne Jagd und eine glückliche Zeit, leichte Beute für die Kommandanten ohne wen, der zurückschoss.
Am nächsten Tag waren sie in der Grönland-Luftlücke, dieser sechshundert Meilen langen Seestrecke, wo die auf Neufundland stationierten Flugzeuge sie nicht mehr erreichen konnten und sie noch nicht unter dem Schutzschild der auf Island stationierten Verbände waren. Außerdem, was nutzte ihnen die Luftsicherung, wenn der Nebel die Flugzeuge Tag für Tag am Boden festhielt?
Aber sie hatten zum ersten Mal Glück. Am Morgen kam schwere Dünung auf, Brecher krachten über die Decks. Der Wind stürmte aus Nord und brachte Schnee. Die Sicht wurde sogar etwas besser, und sie konnten steuerbord die San Martin ausmachen und backbord die Lone Star. Dann wurde der Seegang zu hoch, um irgendwas anderes zu sehen als die nächste Sturzsee. Die Dünung war auf dem Atlantik länger, als er es von den Großen Seen her gewohnt war, und die Wellen waren noch höher, aber schlussendlich trafen sie auch nicht härter. Das Wasser war genauso saukalt und genauso pissnass. Stürme brachen auf dem Michigan und dem Superior Erzkähne in zwei Hälften.
Sie bahnten sich ihren Weg durch eine Eisbergflottille, aber vor den U-Booten waren sie sicher, denn die konnten bei dem Wetter nicht zum Angriff auftauchen. So fuhren sie ihnen davon. Der Konvoi machte nicht viel Fahrt, aber die U-Boote schafften getaucht nur acht Knoten und wurden abgehängt. Vielleicht funkten sie ein anderes Wolfsrudel voraus an, sich auf die Lauer zu legen, aber bei schwerem Wetter war kein Angriff möglich. Obwohl sie von den Brechern tüchtige Prügel bezogen, war es Duvey lieber, in Stücke zerrüttelt zu werden, als unter Beschuss zu geraten, also her mit den Stürmen.
Das Packeis, durch das sie fuhren, war völlig anders, als er sich vorgestellt hatte. Zerklüftet, wild, ein Grand Canyon unheimlicher Eisgestalten, nicht weiß, eher blau und violett und grau und rostbraun. Er hatte auf den Großen Seen viel Eis gesehen, aber das hier sah viel merkwürdiger aus, ragende Klippen, schwimmende Eisschlösser, Albtraumwälder und Märchenstädte aus Eis. Als es schließlich aufklarte, hatten sie ein Schiff verloren, die Eleftheria, die mit Motorschaden hinterherzockelte. In Island war Zwischenstation, da holte sie den Konvoi bestimmt ein.
Vor der Weiterfahrt nach Southampton tankten sie in Island auf, und da hörten sie auch, dass die Eleftheria torpediert und mit allen Mann an Bord gesunken war. Duvey hatte eine gute Zeit, denn er zog sich eine sowjetische Freundin an Land, die das Überleben der Murmansk-Tour feierte. Die Russen hatten Frauen auf ihren Schiffen und wurden von allen darum beneidet. Es gab viele Besuche von Schiff zu Schiff, lange Nächte, Glücksspiel und Geschacher. Von Tommys auf einem Konvoi nach Westen tauschten sie Dosenfleisch und -obst gegen Rum, und so dampfte die Montauk in bester Stimmung nach England.
Louise 2
Der schwarze Ritter
Der Zug zurück aus Washington war unvorstellbar überfüllt. Louise hockte die ganze Fahrt über auf ihrem Koffer und wünschte, sie hätte den neuen Farbstift für die Beine benutzt, den Kay ihr gezeigt hatte, und nicht ihr letztes Paar Strümpfe ruiniert. Neben ihr war ein Matrose eingeklemmt, so dicht, dass sie das an seinen Schuhen klebende Erbrochene riechen konnte. Erschöpft schlief er im Stehen, lehnte sich anfangs an sie, dann an den Mann auf seiner anderen Seite. Es war heiß für Mitte Mai, in Washington bereits subtropisch, und der Zug war unangenehm verstunken, sogar in den Gepäcknetzen schliefen Militärangehörige.
Sie hatte einer Konferenz des Schriftstellerkriegsbeirates beigewohnt. Dieser war nicht Teil der offiziellen Regierungsbürokratie, auch wenn Redakteure und Verleger das oft annahmen, weil er eng mit dem Statistischen Bundesamt zusammenarbeitete, das wiederum laut Flüsterparole bald durch eine Behörde ersetzt werden sollte, die sich eher dafür eignete, Propaganda zu verbreiten.
Sie war angesprochen worden, beim Aufbau der Zeitschriftenabteilung mitzuhelfen. Sie hatte wenig mit dem Komitee für Boulevardblätter zu tun, doch sie arbeitete in der Gruppe mit, die Richtlinien für Frauenzeitschriften und Zeitschriften mit unbegrenztem Leserkreis erstellen half: ihren eigenen Märkten. Alle drei Monate gab der Beirat Kriegsrichtlinienergänzungen heraus mit Themenvorschlägen für die Kurzgeschichten und Beiträge in den Zeitschriften.
Sie erkannte Washington von ihrem ersten Besuch als Touristin mit Oscar und Kay kaum wieder. Auf gleichem Raum schienen fünfmal so viele Menschen zu leben. Was sie auch tat, ob sie am Taxistand wartete, an der Essensausgabe wartete, vor der Toilette wartete, überall standen lange Schlangen. Washington kam ihr vor wie eine Telefonzelle, in die sich zu viele Leute gezwängt hatten, um alle gleichzeitig in den Hörer zu schreien. Es blieb im Kern eine selbstzufriedene, rassengetrennte Südstaatenkleinstadt, deren bessere Restaurants und Hotels sich Schwarze verbaten und deren Schulen und sonstige Einrichtungen nach Schwarz und Weiß sortiert waren. Dennoch wimmelte es von faszinierenden Männern, jetzt vielleicht mehr denn je.
In New York war Pennsylvania Station überrannt von Menschen mit und ohne Uniform, die sich mit Inbrunst begrüßten oder verabschiedeten. Louise hatte ihr Kostüm arg verschwitzt und fühlte sich welk und matt. Sie schaute sich nach ihrer Tochter um. Sie hatte Kay gebeten, sie abzuholen, da sie nicht nur ihren Koffer, sondern auch eine Aktentasche und dazu noch einen Pappkarton voller Materialien mitschleppte. Sie konnte keinen Gepäckträger finden und zerrte ihre Last den Bahnsteig entlang zur Sperre, dann hielt sie nach Kay Ausschau. Verspätet, nahm sie an. Sie setzte sich wieder auf ihren Koffer, fühlte sich entschieden schmutzig, müde und unattraktiv. Wo zum Teufel blieb ihre verdammte Tochter? Sie wollte sich bei einem öffentlichen Fernsprecher anstellen, aber die Warteschlangen waren einfach viel zu lang.
Schließlich, nachdem eine halbe Stunde verstrichen war, requirierte sie einen der wenigen verbliebenen Gepäckträger und setzte sich in ein Taxi. New York war für halb fünf überraschend unverstopft. Noch vor sechs Monaten um diese Stunde in der Pennsylvania Station anzukommen und ein Taxi zu nehmen hätte bedeutet, im Schritttempo voranzuschmauchen. Schon waren deutlich weniger Autos auf den Straßen von Manhattan, und der Verkehr floss rasch. Was war nur mit Kay passiert?
Sinnliche Erleichterung durchflutete sie, als sie die Diele ihrer Wohnung betrat. Daheim. In Washington hatte sie sich im Mayflower ein winziges Zimmer, das offensichtlich bis zu diesem Jahr ein kleineres Einzelzimmer gewesen war, mit Dorothy McMichaels teilen müssen, die unter einer ganzen Phalanx von Pseudonymen pro Monat zwei bis vier Geschichten für die Boulevardblätter ausspie. Dorothy war konservativ, fromm und glaubte fest an sexuelle Sünde und Sühne. Mit ihren derben Knochen und ihrer lauten Stimme erinnerte sie Louise an die Sozialarbeiterinnen, die sie als Waisenkind in Cleveland zu diversen Pflegeeltern gesteckt hatten.
Louise dachte nicht gern an ihre Kindheit zurück, die hart, freudlos und wie ein Zeitsprung zurück in einen Roman von Dickens gewesen war. Wegen ihrer christlichen Frömmigkeit erinnerte Dorothy sie an ein ganz bestimmtes Pflegeelternpaar, das sie besser ernährte und kleidete, als sie gewohnt war, dafür aber weit mehr in Angst und Schrecken versetzte, denn der Vater versuchte ihr ins Höschen zu greifen, wann immer er sie allein erwischte. Ein Diakon der Methodistenkirche. Die Sozialarbeiterinnen hatten sich oft nicht darum gekümmert, dass Louise jüdisch war, denn – wie sie in ihrer Gegenwart laut zueinander sagten – man sah es ihr nicht an. Louise wusste es besser. Sie sah wie eine ungarische Jüdin aus, wie Fotos von ihrer Mutter, bevor Krankheit und stupide Schwerstarbeit ihre Schönheit weggefressen hatten. Darum gemahnte Dorothy sie stärker an ihr verängstigtes und machtloses früheres Selbst, als ihr lieb war. Louise ließ ihre Herkunft lieber in ihren politischen Überzeugungen als in ihren Gefühlen weiterleben. Außerdem liebte sie ein gewisses Maß an Abgeschiedenheit und Bequemlichkeit. Das Reisen hatte auf Kriegsdauer, wie man jetzt sagte, aufgehört, ein Genuss zu sein.
Sie sah rasch ihre Post durch, die sich in einer Ansammlung wackeliger, von Blanche sortierter Türme aufgehäuft hatte, bevor sie durch die Wohnung eilte und »Kay! Kay!« rief.
Ihre Tochter war nicht in ihrem Zimmer. Mrs. Shaunessy erklärte, Kay habe ihr gesagt, sie könne ihre Mutter nicht abholen. »Es wäre nett gewesen, wenn sie sich die Mühe gemacht hätte, mir das zu sagen! Ich habe eine halbe Stunde gewartet«, beklagte sich Louise.
Mrs. Shaunessy schüttelte müde den Kopf. Obwohl beide etwa im gleichen Alter waren – die Haushälterin, die zwei verheiratete Töchter hatte, war einundvierzig –, wirkte Mrs. Shaunessy mit ihrem straff zu einem Knoten zurückgekämmten graumelierten Haar auf Louise großmütterlich. »Wo wir schon dabei sind, ich hatte Streit mit Kay über ihr Kommen und Gehen. Ich muss schon sagen, sie ist mir reichlich pampig über den Mund gefahren. Das Kind hat sich geweigert, mir zu sagen, wo sie heute Nachmittag nach Schulschluss hingeht.«
»Was steckt bloß dahinter? Ich werde mit ihr über ihr ungehöriges Benehmen sprechen.«
»Es steht mir nicht zu, das zu sagen, aber wenn Sie mich fragen, die ist hinter den Jungens her. So fängt das alles an in dem Alter. Sie wissen ja.«
»Kay?« Sie dachte an ihr linkisches, schlaksiges Füllen. »Irgendwie habe ich meine Zweifel, aber ich werde sie mir sofort vorknöpfen.«
Bestrafte Kay sie, weil sie weggefahren war? Sie hätte ja erwogen, Kay mitzunehmen, aber dafür hätte Kay der Schule fernbleiben müssen, einer Elizabeth-Irwin-Schule, und im Washington der Kriegszeit waren Unterkünfte so knapp, dass sie nicht einfach ein Doppelzimmer verlangen und ihre Tochter hineinsetzen konnte. Sie hätte ja selbst alles für ein Einzelzimmer gegeben.
Sie ärgerte sich über ihre Ansprüche. Ein Zimmer mit einer lauten Schmachtfetzenschreiberin zu teilen war schließlich kaum mit den Gefahren vergleichbar, denen die europäische Zivilbevölkerung und die amerikanischen Militärangehörigen ausgesetzt waren. Manchmal war ihr unbehaglich, wie sehr sie sich an Komfort und Annehmlichkeiten gewöhnt hatte, an saubere frische Kleider, die modisch und gut gearbeitet waren, ein heißes Bad, wann immer sie Lust hatte, eine Haushälterin, die Kay und sie versorgte, eine Sekretärin, um ihre Korrespondenz zu erledigen und ihre Manuskripte zu tippen, saubere, helle, geräumige Zimmer, geschmackvoll eingerichtet und mit ein paar schönen Bildern geschmückt, Originalen, von Oscar oder ihr ausgesucht. Sie hatte sich an alle Annehmlichkeiten des gehobenen Bürgertums gewöhnt und Kay dazu erzogen, sie zu erwarten, einen sauberen, schönen, lichtdurchfluteten Ort zum Wohnen und Arbeiten, gutes und reichliches und abwechslungsreiches Essen, einen ständigen Strom von Anregungen in Form von Konzerten, Büchern – die neuesten, die ältesten, die besten – und immer intelligenten und engagierten Gesprächen.
Sie zog ihr Hauskleid und ihre Pantoffeln an und warf sich in den Sessel vor ihrem Walnussschreibtisch. Sie war für den Ausschuss ungeheuer nützlich, denn der Gedanke, das, was sie schrieb, als Propaganda zu sehen, war für sie weder neu noch schockierend. Sie zog die neue Linie der alten vor: Ihr lag viel näher, in arbeitenden Frauen liebevolle, verantwortungsbewusste, ja sogar aufregende Staatsbürgerinnen zu sehen, als die Linie, die propagiert worden war, seit sie zu veröffentlichen begann, dass nämlich die arbeitende Frau eigenmächtig sei, selbstsüchtig, eine Gefahr für ihre Familie und die Gesellschaft.
In ihrer Familie hatten die Frauen immer gearbeitet. In Ungarn hatte ihre Großmutter einen Geflügelhandel betrieben, hieß es. Ihre Mutter hatte in einer Konservenfabrik gearbeitet, bis TB sie von Louise fortriss in ein Sanatorium und schließlich in einen frühen Tod. Oscar hatte nie den Wunsch, dass sie untätig blieb oder die Arbeit im Haushalt zu ihrer ganzen Existenz machte. Doch wollte er selbstverständlich, dass sich die gesamte Aufmerksamkeit dieser intelligenten Frau auf ihn konzentrierte. Ihre Arbeit war gut und schön, solange sie alles fallen ließ, wenn er sie brauchte, um seine wissenschaftlichen Aufsätze zu tippen, zu lesen und zu begutachten und seinen Stil zu verbessern, ihm den Rücken zu massieren und sich seine Klagen über seine Kollegen anzuhören.